Am Abend des 8. November 1989, nur einen Tag vor dem Fall der Berliner Mauer, versammelten sich Tausende Demonstranten vor dem Gebäude des Zentralkomitees der SED am Werderschen Markt in Berlin-Mitte. Die Kundgebung markierte einen Wendepunkt: Innerhalb der SED wuchs die Unzufriedenheit mit der eigenen Führung, und die Parteibasis begann, sich offen gegen die alten Machtstrukturen zu stellen. Der Protest war kein Aufruf zur Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik, sondern Ausdruck der tiefen Krise innerhalb der Partei – einer Partei, die zunehmend den Kontakt zu ihrer Basis und zur Bevölkerung verloren hatte.
Die Ausgangslage: Politisches Beben in der SED
Während die DDR in den Wochen zuvor von Massendemonstrationen und Ausreisewellen erschüttert wurde, versuchte die SED-Führung weiterhin, die Situation mit Beschwichtigungen und Reformversprechen unter Kontrolle zu halten. Doch die Ereignisse überstürzten sich: Am 7. November 1989 trat der Ministerrat unter Willi Stoph geschlossen zurück, am Morgen des 8. November folgte der komplette Rücktritt des SED-Politbüros. Diese Entscheidung war weniger ein Zeichen von Reformwillen als vielmehr ein verzweifelter Versuch, die Kontrolle zu behalten.
Die Parteibasis aber wollte mehr. Längst hatte sich Unmut über die Ignoranz und die Sturheit der Führung breitgemacht. Mitglieder, die jahrzehntelang loyal zur SED gestanden hatten, forderten nun öffentlich Reformen – oder sogar einen radikalen Kurswechsel. Die Demonstration vor dem ZK-Gebäude wurde zu einem Symbol dieser innerparteilichen Zerreißprobe.
Die Kundgebung: Ein Protest gegen die eigene Führung
Gegen Abend des 8. November versammelten sich mehrere Tausend Menschen vor dem SED-Zentralratsgebäude. Die Stimmung war aufgeheizt, es ging um die Zukunft der Partei. Viele Demonstranten forderten die baldige Einberufung eines Parteitags, auf dem über tiefgreifende Veränderungen innerhalb der SED entschieden werden sollte. Zum ersten Mal wurden sogar vereinzelte Rufe nach freien Volkskammerwahlen laut – ein Tabubruch in einer Partei, die bisher strikt am Prinzip der „Führungsrolle der Arbeiterklasse“ festgehalten hatte.
Die Kundgebung war keine klassische Oppositionsveranstaltung, sondern vielmehr eine innerparteiliche Revolte. Das zeigte sich besonders deutlich an den Rednern auf dem Podium. Neben Parteifunktionären sprachen auch Lehrer, Wissenschaftler und Intellektuelle – langjährige SED-Mitglieder, die sich nun offen von der bisherigen Politik distanzierten.
Besonders eindrucksvoll war der Auftritt von Georg Glitsche, einem Biologie-Lehrer und seit 30 Jahren Mitglied der Partei. Glitsche sprach offen aus, was viele dachten: „Ich kann nach dieser Kundgebung wieder meinen Schülern offen ins Gesicht sehen, wenn ich sage, in welcher Partei ich bin. Aber ich schäme mich auch, dass diese Veranstaltung erst heute stattfindet. Das macht doch deutlich, Genossen, dass wir gegenwärtig unserem Volk hinterherlaufen.“ Seine Rede wurde mit Applaus und Zustimmungsrufen aufgenommen – ein klares Zeichen, dass die Parteibasis nicht mehr bereit war, die jahrelange Ignoranz der Führung hinzunehmen.
Arbeiter fehlen auf der Bühne: Die SED und ihre Glaubwürdigkeitskrise
Obwohl sich die SED als Partei der Arbeiterklasse verstand, war auffällig, dass kaum Industriearbeiter oder Facharbeiter auf der Bühne sprachen. Die SED hatte ihre Glaubwürdigkeit als „Partei der Werktätigen“ längst verloren. Erst zum Ende der Veranstaltung wurde stolz „Genosse Jörg Kretschmar“ vom VEB Kabelwerk Adlershof als Redner angekündigt. Seine Worte sind auf den letzten Minuten des VHS-Bandes zu sehen – eine späte Geste, um den Anschein der Arbeiterpartei zu wahren.
Die Abwesenheit von Arbeitern auf der Bühne verdeutlicht, dass die SED inzwischen vor allem von Funktionären, Lehrern und Intellektuellen getragen wurde. Die traditionelle Basis – Industriearbeiter und Handwerker – hatte sich bereits in den Wochen zuvor zunehmend von der Partei distanziert. Diese Entwicklung sollte sich in den kommenden Monaten beschleunigen: Immer mehr Betriebsbelegschaften forderten unabhängige Gewerkschaften und distanzierten sich von der Staatspartei.
Ein Wendepunkt in der Geschichte der SED
Die Kundgebung am 8. November 1989 war ein Meilenstein in der inneren Erosion der SED. Sie zeigte, dass die Partei nicht nur von externen Protesten, sondern auch von inneren Konflikten zerrissen wurde. Die Parteibasis begann, sich von der dogmatischen Führung abzuwenden und lautstark Reformen einzufordern.
Doch die Zeit für einen „besseren Sozialismus“ war bereits abgelaufen. Der Druck von der Straße, die Forderungen nach freien Wahlen und die zunehmende Selbstauflösung der SED-Strukturen führten letztlich dazu, dass die Partei in den folgenden Monaten ihre Macht verlor. Der 8. November war somit nicht nur ein Signal für den nahenden Fall der Mauer, sondern auch für das unaufhaltsame Ende der SED als herrschende Kraft in der DDR.