Ein Blick zurück auf den Musikunterricht der 6. Klasse in der DDR – zwischen strenger Ordnung und leidenschaftlichem Klang
Am Vormittag des Jahres 1974 betreten Kinder im Alter von elf bis zwölf Jahren die Musikstunde ihrer Polytechnischen Oberschule. Die Lehrerin schaltet das Tonbandgerät ein, und eine klare Stimme erklärt: „Das ist ein Sinfonieorchester. Es setzt sich aus verschiedenen Instrumentengruppen zusammen.“ Für die Schülerinnen und Schüler beginnt eine Reise in die Welt der Töne – streng didaktisch gegliedert, aber zugleich getragen von der Faszination, die ein ganzes Orchester entfalten kann.
Bereits in den ersten Minuten des Unterrichts werden die Kinder mit konkreten Fakten vertraut gemacht: Der Kammermeister stimmt die Instrumente auf den Kammerton A, der erste Oboist gibt den Takt an. Dann tritt der Dirigent auf den kleinen Podest, um das Gesamtbild zu vollenden. „Links vom Dirigenten sitzen die ersten Violinen, dahinter die zweiten Violinen. Vor ihm die Bratschen, rechts die Celli und dahinter die Kontrabässe“, heißt es mit klarer Stimme vom Band. Die bis ins letzte Detail festgelegte Sitzordnung spiegelt die Planwirtschaft wider, die damals das gesellschaftliche Leben prägte – selbst in der Kunst zählen Genauigkeit und Funktion.
Doch jenseits der scheinbar strengen Ordnung eröffnet sich schnell eine Welt voller klanglicher Vielfalt und gemeinschaftlicher Dynamik. Im Unterrichtsmitschnitt erklingt Mozart: „Eine kleine Nachtmusik“, das berühmte Menuett, wird den Kindern als Paradebeispiel für Kammermusik vorgestellt. Hier kristallisiert sich heraus, was Musiklehrer damals vermitteln wollten: Dass jeder einzelne Ton, jede Gegenstimme, jede Begleitung erst im Zusammenspiel ihre volle Wirkung entfaltet. Die Schülerinnen und Schüler hören, wie erste und zweite Violine, Bratsche und Cello im Streichquartett zu einer „vollendetsten Form der Kammermusik“ verschmelzen.
Ein weiterer Höhepunkt des Unterrichts ist die Analyse von Antonín Dvořáks „Slawischem Tanz“ op. 46 Nr. 8. Die Schülerinnen und Schüler verfolgen auf dem Tonband, wie zunächst die Holzbläser ein Thema vortragen, dann Hörner, Fagotte und Triangel einen Rhythmus etablieren und schließlich die Streicher mit einer gefühlvollen Gegenstimme antworten. Die Lehrkraft stellt treffend fest: „Erst alle Instrumente zusammen ergeben den vom Komponisten gewünschten Klang.“ Dieses Prinzip von Teil und Ganzem war nicht nur eine musikalische Erkenntnis, sondern auch ein Spiegelbild jener Gesellschaft, in der kollektives Wirken über individuelle Glanzleistung gestellt wurde.
Gegen Ende der Stunde zeigt der Mitschnitt, wie Schlaginstrumente, Blechbläser und schließlich das gesamte Orchester den fulminanten Anfang der Dvořák-Nummer darbieten. Die jungen Zuhörer sind nun Zeugen einer akustischen Symphonie, in der jedes Element – vom leisen Pizzicato bis zum mächtigen Paukenwirbel – seinen festen Platz hat. Ein Schüler vermerkt später: „Ich habe verstanden, dass ein Orchester wie ein großer Körper ist. Jeder Muskel, jeder Knochen, jedes Organ muss passen, damit es lebendig wird.“ Vielleicht eine unerwartet philosophische Einsicht aus einer Unterrichtsstunde, die primär Wissen vermitteln sollte.
Heute, mehr als fünfzig Jahre später, beeindruckt der Mitschnitt nicht nur durch seine musikalischen Inhalte. Er ist ein Zeitdokument: Es zeigt, wie Bildung und Ideologie in der DDR ineinandergreifen, wie musikalische Ästhetik und kollektivistisches Denken miteinander verwoben waren. Zugleich erinnert es daran, dass Musik – unabhängig von gesellschaftlichen Systemen – Menschen zusammenführen und zu gemeinsamen Erlebnissen inspirieren kann. Ein Erbe, das weit über den Klassenraum in der Karl-Marx-Allee hinauswirkt.