Dresden 1978. Gerd Weber ist aus dem Kollektiv von Dynamo Dresden nicht mehr wegzudenken. Als Kapitän Dixie Dörner das Team anführt, hat Weber großen Anteil daran, dass die Dresdner im DDR-Fußball das Nonplusultra sind. Sie gewinnen zum dritten Mal in Folge die DDR-Meisterschaft – ein Novum im DDR-Fußball. Weber, gerade einmal 22 Jahre alt, treibt im Mittelfeld das Spiel der Dresdner an und ist zudem ein torgefährlicher Spieler. Er ist Olympiasieger von 1976, wurde Meister und Pokalsieger. Meistertrainer Walter Fritzsch sah in ihm den Nachfolger des großen Hansi Kreische.
Doch im Jahr 1980 beginnt die Wende. Weber, Nationalspieler, sollte eine Verletzung auskurieren. Dennoch stellte er sich in den Dienst der Mannschaft. Am Ende der Halbserie wurde ihm jedoch vom Trainer und Vorstand das Geld gekürzt. Weber versuchte zu erklären, dass er sich ein halbes Jahr lang Spritzen geben ließ, um für die Mannschaft zu spielen, was er nicht verstand.
Diese Situation wollte sich Weber nicht bieten lassen. Er liebäugelte mit einem Wechsel zum BFC Dynamo, der im Frühjahr 1980 gerade zum zweiten Mal DDR-Meister geworden war. Er nahm Kontakt zum BFC auf, da dies die einzige Möglichkeit schien, sportlich erfolgreich zu bleiben; ein Wechsel woandershin wäre kaum möglich gewesen. Er ging diesen Schritt offen an.
Niemand kann sagen, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte der Wechsel zum BFC geklappt. Fakt ist: Anfang 1981 wurde Gerd Weber über Nacht vom Spitzensportler zum Staatsfeind.
Auslöser waren Ereignisse am Rande von Europapokalspielen im Herbst 1980, zuerst in Enschede, dann in Lüttich. Ein vermeintliches Angebot des 1. FC Köln soll die Dresdner Nationalspieler Weber, Eigendorf und Müller in die Bundesliga locken. Als die Stasi davon erfuhr, wurden die drei unmittelbar vor dem Abflug zu einer Wettkampfreise nach Südamerika in Berlin-Schönefeld verhaftet.
Gerd Weber wusste sofort, was Sache war. Wegen geplanten ungesetzlichen Grenzübertritts wurde er zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Als Häftling in Frankfurt (Oder) hatte er keinen Namen mehr, war nur noch eine Nummer. Er trainierte jeden Abend auf dem Ergometer, um abzutrainieren. Nach elf Monaten wurde er entlassen.
Für Gerd Weber war der Fußball nun passé. Er durfte das Dynamo-Stadion nicht mehr betreten und sein Sportstudium nicht fortführen. Das Leben in der DDR wurde für ihn zur Sackgasse ohne jede Perspektive. 1986 stellte Weber den ersten Ausreiseantrag. Unzählige sollten folgen. Er wurde nicht entlassen, stattdessen wurde ihm gesagt, sie seien stolz auf ihn und er solle hierbleiben.
Im Frühjahr 1989 gab es für den ehemaligen Fußballer, der nun in Dresden als Kfz-Mechaniker arbeitete, plötzlich einen Hoffungsschimmer. Weber, der bis dahin nur in die CSSR reisen durfte, erhielt überraschend ein Visum für Ungarn.
Dann ging alles Schlag auf Schlag. An der Grenze von Ungarn zu Österreich gab es das erste Loch im Eisernen Vorhang. In Budapest flüchteten die ersten DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft, und immer mehr versuchten, über die grüne Grenze in den Westen zu fliehen. Weber beriet sich am Balaton mit seiner Frau Anja und bekannten belgischen Comics in Sopron. Es gab Zweifel: Was, wenn die Sache scheitert? Dann würde er als Rückfalltäter wahrscheinlich schlimmere Konsequenzen fürchten müssen. Um mehr zu erfahren, fuhren sie nach Budapest und fragten in der BRD-Botschaft nach, ob erwischte DDR-Bürger noch ausgeliefert wurden.
Anfang August trafen sie die Entscheidung: Sie versuchen es. Sie fuhren in Richtung Grenze, ließen ihr Auto stehen und warteten auf die Dunkelheit. In der Nähe des Grenzzauns, etwa 400-500 Meter entfernt, ging auf einmal ein „Theater“ los. Sie sahen rumänische Flüchtlinge, die in Fangzäune liefen und von Grenzern mit Taschenlampen und Maschinenpistolen „einkassiert“ wurden. Als Weber und seine Familie im Wald von den Grenzern angetroffen wurden und sich ausweisen mussten, wurden sie anders behandelt. Sie hatten blaue Ausweise und wurden sehr höflich behandelt. Die ungarischen Grenzer wünschten ihnen viel Glück und wussten genau, dass sie es erneut versuchen würden.
Sie warteten wieder auf den Einbruch der Dunkelheit. Am Grenzübergang gingen sie zwei- bis dreihundert Meter weg, dann in ein Getreidefeld und über einen Feldweg, vielleicht 400 Meter weit. Dort sahen sie in Deutschland auf den ADAC-Holzschnitt und dann das österreichische Zeichen. Sie wussten, dass sie in Österreich waren. Sie hatten es geschafft.
Gut eine Woche später berichtete die Bild-Zeitung nicht nur über seine Flucht. Der Redakteur half ihm auch beim Neustart. So landete Gerd Weber mit seiner Familie in Friesenheim im Schwarzwald, wo sie heute noch leben.
Die Entscheidung vom Sommer 1989 hat er nie bereut. Auch wenn er zugeben muss: Es war ein bisschen leichtsinnig, besonders weil sie die sechsjährige Tochter dabeihatten und nicht wussten, wie die bewaffneten Organe reagieren würden. Heute ist Gerd Weber 63 Jahre alt und als Schadenbearbeiter bei einer Kfz-Versicherung tätig. 30 Jahre später teilt sich sein Leben in etwa eine Hälfte im Osten und eine Hälfte im tiefsten Südwesten Deutschlands. Auch ohne den Fußball hat Gerd Weber letztlich sein Glück gefunden.