Mehr Stimmen, keine Regierung: Thüringen und das Dilemma der AfD

In Thüringen könnte nach der jüngsten Landtagswahl eine Situation eintreten, in der die Partei mit den meisten Sitzen im Parlament, die AfD, nicht an der Regierung beteiligt wird. Dies stößt bei vielen auf Unverständnis, da es für manche Wähler nicht dem demokratischen Prinzip zu entsprechen scheint. Die AfD erreichte bei der Wahl 32,8 Prozent der Stimmen und wurde damit zur stärksten Kraft im Landtag. Der Spitzenkandidat Björn Höcke betonte im Fernsehen, dass es eine lange Tradition in Deutschland sei, dass die stärkste Partei die Initiative zu Gesprächen über eine Regierungsbildung ergreift. Nun werde diskutiert, welche Parteien zu Gesprächen eingeladen würden, denn die AfD müsste eine Koalition bilden, um regieren zu können. Allerdings lehnen alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD ab.

In den sozialen Medien wurde bereits vor der Wahl darüber diskutiert, ob es der Wählerwille sei, die AfD an der Regierung zu beteiligen. Einige Nutzer argumentierten, dass eine starke Partei ein Recht habe, an der Regierung mitzuwirken, insbesondere wenn sie einen erheblichen Anteil der Stimmen erhält. Andere wiesen jedoch darauf hin, dass für die Regierungsbildung Mehrheiten nötig seien und eine Partei ohne absolute Mehrheit keinen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung habe.

Christian Stecker, Politikwissenschaftler an der TU Darmstadt, erklärt dazu, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer wieder Regierungen ohne die stärkste Partei gebildet wurden. Beispiele dafür sind die Bundestagswahl 1976, die Landtagswahl in Bayern 1954 und die Wahl in Bremen 2019. Dies sei keineswegs ungewöhnlich und im politischen System Deutschlands auch rechtlich völlig legitim.

Das besondere Problem bei der AfD ist, dass sie nicht nur von anderen Parteien abgelehnt wird, sondern auch selbst wenig Bereitschaft zeigt, Kompromisse einzugehen. Hinzu kommt, dass der Verfassungsschutz die AfD in Thüringen als rechtsextremistisch einstuft, was die Zusammenarbeit für die anderen Parteien zusätzlich erschwert.

Die Frage, ob die AfD trotz ihres Wahlerfolgs nicht Teil der Regierung sein sollte, führt zu einer Diskussion über die Bedeutung des Wählerwillens. Uwe Jun, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier, betont, dass eine Regierungskoalition, die eine Mehrheit im Parlament stellt, den Wählerwillen widerspiegelt, da sie insgesamt mehr Stimmen auf sich vereint als die stärkste Partei allein. Es sei also nicht undemokratisch, wenn die AfD trotz ihrer Größe nicht an der Regierung beteiligt werde. Vielmehr gehe es in einer Demokratie darum, regierungsfähige Mehrheiten zu bilden, und das sei in Thüringen mit der AfD derzeit nicht möglich.

Auch in anderen Ländern, die ähnliche Koalitionssysteme haben, wie etwa Österreich oder Belgien, sei es üblich, dass die stärkste Partei nicht zwangsläufig an der Regierung beteiligt wird. Der Wähler bestimmt zwar die Zusammensetzung des Parlaments, doch die Regierung wird von den Abgeordneten gewählt. Wenn keine Partei eine absolute Mehrheit hat, müssen Koalitionen gebildet werden, die auf Kompromissen beruhen.

Die AfD wird jedoch nicht völlig machtlos bleiben. Als stärkste Oppositionspartei könnte sie durch das Instrument der Sperrminorität in einigen Bereichen durchaus Einfluss ausüben. Zudem hat sie das Vorschlagsrecht für den Landtagspräsidenten, was eine symbolische, aber bedeutende Rolle im parlamentarischen Prozess darstellt. Dennoch könnte der Eindruck entstehen, dass die Legitimität der Regierung geringer ist, wenn die stärkste Partei nicht in ihr vertreten ist, so Uwe Jun. Dies sei vor allem in Vorwahlumfragen deutlich geworden, bei denen viele Wähler der Meinung waren, dass die stärkste Partei automatisch Teil der Regierung sein sollte.

Christian Stecker wiederum argumentiert, dass das Wahlsystem in Deutschland nicht nur den Wählerwillen widerspiegelt, sondern auch andere Faktoren wie die Regierungsfähigkeit berücksichtigt. In Australien beispielsweise erstellen die Wähler eine Rangordnung ihrer Präferenzen, was ein besseres Bild darüber vermittelt, welche Parteien die Bürger tatsächlich an der Macht sehen möchten. Ein solches System könnte auch in Deutschland dazu beitragen, den Wählerwillen noch genauer abzubilden.

Letztendlich bleibt die Frage, ob die AfD trotz ihrer Wahlerfolge regierungsfähig ist, offen. Solange sie von den anderen Parteien und großen Teilen der Wählerschaft abgelehnt wird, wird sie weiterhin in der Opposition bleiben.

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