Am 6. November 2024 fand die dritte Theaterversammlung des Projekts »Im Namen der Freiheit« zum Thema »Freiheit als Lebensprojekt« am Volkstheater Rostock statt. Der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk lieferte einen Impuls zur Geschichte Ostdeutschlands nach 1989, der in der anschließenden Fishbowl intensiv diskutiert wurde.
Die Fishbowl-Diskussion mit dem Historiker war als „Empathie-Maschine“ konzipiert, ein interaktives Format, das den direkten Dialog zwischen dem Experten und den Teilnehmenden ermöglichen sollte. Kowalczuk, bekannt als Autor bedeutender Werke wie seiner Walter-Ulbricht-Biografie und „Freiheitsschock“, stellte sich dabei nicht nur als Wissenschaftler vor, sondern auch als Fachberater für Filme mit zeitgeschichtlichem Bezug. Als Beispiel wurde seine Mitarbeit am Film „Herrhausen“ hervorgehoben, der die Kredite der Deutschen Bank an die DDR thematisiert.
Kowalczuks Tätigkeit als Filmberater
Kowalczuk beschrieb seine Rolle als Filmberater als facettenreich und herausfordernd. Seine Hauptaufgabe sei es, Drehbücher auf historische Genauigkeit zu überprüfen. Dabei stößt er oft auf Spannungen zwischen der historischen Wahrheit und den dramaturgischen Anforderungen von Spielfilmen, die häufig fiktive Elemente wie Liebesgeschichten einbauen. Er berichtete von Situationen, in denen er Details wie die Verfügbarkeit von Weiß- oder Rotkohl in Rostock im Juni 1958 recherchieren musste. Trotz der Kompromisse, die er gelegentlich eingehen muss, betrachtet er diese Arbeit als „symbiotisch“ für einen Historiker, da sie historische Erkenntnisse einem breiten Publikum zugänglich macht.
Diskussion über die Darstellung der DDR
Die Teilnehmenden stellten die Frage, ob es überhaupt möglich sei, ein einziges, allgemeingültiges Bild der DDR zu zeichnen. Kowalczuk erklärte, dass dies zwar möglich, aber sinnlos sei, da jede Darstellung von der Perspektive und den Erfahrungen des Einzelnen abhänge. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte sei die Einhaltung grundlegender Prinzipien wie der Verifizierbarkeit von Quellen und der Berücksichtigung bestehender Literatur essenziell. Dennoch könnten selbst streng wissenschaftliche Analysen zu unterschiedlichen, manchmal widersprüchlichen Ergebnissen führen.
Einige „axiomatische Grundsätze“ seien jedoch nicht verhandelbar, wie etwa die Tatsache, dass die Berliner Mauer gebaut wurde, um die Ausreise zu verhindern. Eine Teilnehmerin aus Berlin berichtete von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Mauer und betonte deren prägende Wirkung. Gleichzeitig widersprach sie der pauschalen Annahme, dass behinderte Menschen in der DDR grundsätzlich schlecht behandelt wurden, und verwies auf die Existenz von Sonderschulen. Kowalczuk betonte, dass unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen gleichermaßen beachtet werden sollten.
Der Gewöhnungseffekt in Diktaturen
Ein zentrales Thema war der „Gewöhnungseffekt“, den Kowalczuk als entscheidend für das Funktionieren von Diktaturen bezeichnete. In solchen Systemen gewöhne sich die Bevölkerung daran, Missstände nicht zu hinterfragen oder öffentlich zu thematisieren. Dadurch werde die soziale Ausgrenzung Andersdenkender verstärkt, was zur Stabilisierung des Systems beitrage. Die Diskussion anerkennt jedoch, dass individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen innerhalb einer Diktatur unterschiedlich ausfallen können.
Behandlung von Behinderten in der DDR
Die Behandlung von Behinderten in der DDR war ein weiteres kontroverses Thema. Es wurde hervorgehoben, dass die DDR zwar staatliche Sonderschulen und Betriebe mit Rehabilitierungsarbeitsplätzen hatte, diese aber nicht inklusiv waren. Ein Teil der Unterstützung für Behinderte war zudem an kirchliche Einrichtungen gebunden. Nach der deutschen Einheit seien behinderte und alte Menschen laut Kowalczuk zu den „ersten großen Gewinnern“ gehört. Dennoch regte er an, diesem Thema eine eigene Veranstaltung zu widmen, da es umfangreich und vielschichtig sei.
Vergleich von DDR und BRD
Die Diskussion wandte sich auch dem Vergleich zwischen DDR und BRD zu. Ein Teilnehmer kritisierte, dass Diskussionen oft vom eigentlichen Thema ablenken, indem auf Probleme in der BRD verwiesen werde. Kowalczuk betonte, dass die grundsätzliche Verfassung beider Systeme nicht vergessen werden dürfe: Die DDR war eine Diktatur, die BRD ein Rechtsstaat. Er wies die Behauptung zurück, dass die BRD genauso schlimm wie die DDR gewesen sei, und hob hervor, dass in der BRD zumindest eingeschränkte Meinungsfreiheit existierte.
Öffentlichkeit und Debatten in DDR und BRD
Ein Unterschied zwischen der DDR und der BRD sei die Möglichkeit öffentlicher Debatten. Während solche Debatten in der BRD durch Fernsehserien und andere Formate angeregt wurden, war die Öffentlichkeit in der DDR stark gelenkt. Kowalczuk betonte, dass auch wissenschaftliche Ergebnisse zur DDR oft nicht in die öffentliche Debatte gelangen, da diese häufig von subjektiven Eindrücken und politisch geprägten Sichtweisen überlagert werden.
Uwe Johnsons Text als Schlüssel zum Verständnis der DDR
Ein besonderer Schwerpunkt lag auf einem Text von Uwe Johnson aus dem Jahr 1970, der als Nachwort eines Interview-Buchs mit DDR-Ausgereisten entstand. Kowalczuk schilderte, wie dieser Text die Schwierigkeiten der Integration ehemaliger DDR-Bürger in der BRD analysierte. Der Text fand auch nach der Wende Beachtung und wurde wiederveröffentlicht.
Aktuelle politische Entwicklungen
Die Veranstaltung nahm Bezug auf aktuelle politische Ereignisse. Kowalczuk kritisierte Parteien wie die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die er als illiberal und kremlaffin bezeichnete. Er warnte vor der Gefahr, dass solche Gruppierungen die Demokratie aushöhlen könnten, und betonte die Notwendigkeit, für demokratische Werte einzustehen.
Abschluss und Ausblick
Die Veranstaltung endete mit der Anregung, die Diskussionen im Foyer fortzusetzen, und dem Hinweis, dass die Vorträge auf dem Portal „BBB-Freiheitsarchiv“ nachzuhören seien. Zusammenfassend wurde deutlich, dass die Vergangenheit die Gegenwart prägt und es wichtig ist, Demokratie aktiv zu verteidigen. Der Austausch verschiedener Perspektiven trägt dazu bei, ein umfassenderes Verständnis für die komplexe Geschichte und die Herausforderungen der Gegenwart zu entwickeln.