Die aktuellen Zahlen zur Geburtenrate in Thüringen sind erschreckend und sollten ein Weckruf für die Politik sein. Seit 2017 ist die Zahl der Geburten im Freistaat von 18.132 auf nur noch 12.900 im Jahr 2023 gesunken. Immer mehr Frauen entscheiden sich später für ihr erstes Kind und verzichten häufig auf ein zweites oder drittes. Diese Entwicklung hat weitreichende Konsequenzen für die Zukunft Thüringens, denn mit einer Geburtenrate von nur 1,32 Kindern pro Frau liegt der Freistaat weit unter dem Wert von zwei Kindern, der zum natürlichen Erhalt einer Gesellschaft notwendig ist.
Doch die sinkenden Geburtenzahlen sind nicht nur das Resultat individueller Entscheidungen, sondern Ausdruck eines tiefergehenden strukturellen Problems. Junge Frauen wandern seit Jahren in großer Zahl in die alten Bundesländer ab. Seit der Wiedervereinigung haben mehr als 680.000 Frauen Ostdeutschland verlassen, um sich in Westdeutschland niederzulassen. Diese Abwanderung betrifft nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Geburtenrate. In den westdeutschen Bundesländern profitieren Regionen von Zuwanderung aus dem Ausland und aus den neuen Bundesländern. Thüringen hingegen verzeichnete zwar im Jahr 2023 einen positiven Bevölkerungszuwachs durch Zuzüge aus dem Ausland, doch die Abwanderung in andere Bundesländer hält an.
Das Problem ist längst erkannt, doch wirkungsvolle Maßnahmen fehlen. Thüringens Politik hat in den letzten Jahren wenig unternommen, um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken. Zwar gibt es familienpolitische Instrumente wie Kindergeld oder Steuererleichterungen, aber diese reichen bei Weitem nicht aus, um junge Menschen im Freistaat zu halten oder zu einer Familiengründung zu motivieren. Familienpolitik muss endlich ein zentrales Thema werden, wie auch Holger Poppenhäger, der Präsident des Thüringer Landesamtes für Statistik, betonte. Er fordert eine massive Unterstützung von Familien mit zwei und mehr Kindern. Damit hat er recht, denn ohne gezielte Maßnahmen droht Thüringen in eine Abwärtsspirale zu geraten, aus der es kaum ein Entrinnen gibt.
Die Politik muss hier mit einem klaren Maßnahmenpaket gegensteuern. Finanzielle Entlastungen für Familien mit mehreren Kindern sind ein wichtiger Schritt. Denkbar wäre etwa ein „Thüringer Familienbonus“, der gezielt an Familien mit zwei oder mehr Kindern ausgezahlt wird. Aber auch flexible Arbeitszeitmodelle und eine flächendeckend hochwertige Kinderbetreuung sind essenziell, um Beruf und Familie besser vereinbaren zu können. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder gut betreut werden, und dürfen nicht vor der Wahl stehen, ob sie arbeiten oder für den Nachwuchs sorgen.
Darüber hinaus braucht Thüringen dringend attraktive Lebensbedingungen für junge Menschen. Bezahlbarer Wohnraum, moderne Infrastruktur und eine florierende Wirtschaft könnten dazu beitragen, Abwanderung zu stoppen und das Land für junge Familien interessanter zu machen. Es ist unverständlich, dass die Potenziale Thüringens – wie die beeindruckende Natur, die kulturelle Vielfalt und die vergleichsweise niedrigen Lebenshaltungskosten – bislang nicht ausreichend genutzt werden, um Zuwanderung und Geburten zu fördern.
Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass Familienpolitik in Thüringen bisher vernachlässigt wurde. Die Folgen dieser Untätigkeit sind jetzt deutlich sichtbar. Fachkräftemangel, schrumpfende Gemeinden und eine alternde Bevölkerung sind nur die ersten Anzeichen einer Krise, die ohne Gegenmaßnahmen weiter eskalieren wird. Thüringen hat das Potenzial, ein Vorbild für andere Bundesländer zu werden, wenn es gelingt, eine nachhaltige Familienpolitik zu etablieren. Dies erfordert jedoch Mut, Entschlossenheit und langfristige Planungen.
Es ist höchste Zeit, dass die Politik handelt. Thüringen kann es sich nicht leisten, noch weitere Jahre verstreichen zu lassen, ohne die notwendigen Schritte einzuleiten. Die demografische Entwicklung ist keine Naturgewalt, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen – oder eben des politischen Versäumnisses, rechtzeitig zu handeln. Die Zukunft Thüringens steht auf dem Spiel, und diese Zukunft beginnt genau jetzt.