In der Welt am Sonntag hat der frühere Herausgeber der Weltgruppe, Thomas Schmidt, einen provokanten Kommentar unter der Überschrift „Freude will einfach nicht aufkommen“ veröffentlicht. In diesem Artikel geht es um die anhaltenden Spannungen und Schwierigkeiten, die die deutsche Einheit prägen. Schmidt skizziert in seinem Blogbeitrag die Entstehung und Entwicklung des „Sonderbewusstseins“ der Ostdeutschen und argumentiert, dass die DDR nicht nur eine geografische, sondern auch eine mentale Realität ist, die in den Köpfen und Herzen der Menschen weiterlebt.
Einleitung: Der Herbst 1989
Der Herbst 1989 wird von Schmidt als eine Zeit beschrieben, die „so schön wie lange keiner mehr“ war. Ein halber Kontinent habe sich die Freiheit zurückgeholt und den kommunistischen Großversuch abgelegt. Doch 30 Jahre später, so Schmidt, seien die Bemühungen, sich dieser Erfahrung zu vergewissern, gequält und enttäuscht. Es fehle an der Spontaneität, die ein Ereignis wie der 14. Juli in Frankreich geprägt habe. Der dritte Oktober sei nicht in die DNA der Deutschen eingegangen; vielmehr sei er von einem Gefühl der Trübsal und einer gewissen Entfremdung begleitet.
Die Unterschiede zwischen Revolution und Konterrevolution
Ein zentraler Punkt in Schmidts Argumentation ist die Differenz zwischen einer Revolution und einer Konterrevolution. Der Autor weist darauf hin, dass eine Gesellschaft, die zurück zu Massenarbeitslosigkeit und Krieg führt, sich ständig rechtfertigen muss. Hierbei macht Schmidt keinen Hehl daraus, dass er der Ostbevölkerung eine gewisse Schuld an seiner eigenen „Freudlosigkeit“ zuschreibt. Er sieht eine Überlegenheit des Ostens gegenüber dem Westen, die nicht aus einem Gefühl der Verzweiflung, sondern aus einem tief verwurzelten Selbstbewusstsein resultiert.
Gewinner und Verlierer der Wende
Schmidt führt aus, dass die Revolution in der DDR eine „Revolution von oben“ war, bei der bestimmte Gruppen zu Verlierern wurden – Unternehmer, selbstständige Bauern, Rechtsanwälte, Ärzte und Wissenschaftler. Die Gewinner hingegen waren häufig diejenigen, die die VEBs, Kombinate und LPGs leiteten oder die als Nachfolger von Verhafteten, Vertriebenen oder Ausgewanderten in den Behörden, Universitäten und Krankenhäusern an die Macht kamen. Schmidt konstatiert, dass diese Aufsteiger oft loyal und stolz auf ihren neuen Status waren und ihren Aufstieg dem Staat verdankten.
In diesem Zusammenhang stellt er die These auf, dass es sich um eine negative Auslese handele, bei der die wahren Talente und Fähigkeiten in der DDR nicht zur Geltung kamen. Schmidt macht deutlich, dass Fleiß, Talent und Können in dieser Welt ungleich verteilt waren: „Im Osten 0, im Westen alles.“
Die Rolle des „Sonderbewusstseins“
Schmidt hebt hervor, dass aus dieser Realität ein spezifisches „Sonderbewusstsein“ der Ostdeutschen entstanden ist. Er argumentiert, dass viele Menschen im Osten nach dem Zusammenbruch des Staates ihren alten Klassenstolz nicht aufgegeben haben und gleichzeitig verbittert sind. Sie halten den Westen für schwach und sind oft geneigt, die SED zu wählen, wenn sie ihre Stimmen bei der AfD abgeben.
Aufruf zur offenen Debatte
Schließlich ruft Schmidt zu einer offenen, nicht verschwurbelten Debatte über die deutsche Einheit auf. Er betont die Notwendigkeit, dass Deutschland zusammengehört, aber nicht zwangsläufig zusammenpasst. Diese Feststellung ist ein eindringlicher Appell, die Differenzen zwischen Ost und West ernst zu nehmen und einen Raum für eine ehrliche Auseinandersetzung zu schaffen.
Fazit
Thomas Schmidts Artikel ist mehr als nur eine Analyse der gegenwärtigen politischen Situation in Deutschland; er ist ein Aufruf zur Reflexion und zur Bereitschaft, die Herausforderungen der deutschen Einheit zu erkennen und anzugehen. Indem er die Spannungen zwischen den verschiedenen Regionen und Mentalitäten in den Vordergrund stellt, fordert er die Gesellschaft auf, die Vergangenheit nicht zu ignorieren, sondern sie als Teil eines fortwährenden Prozesses der Verständigung und des Zusammenwachsens zu betrachten. In Zeiten, in denen populistische Strömungen und gesellschaftliche Spaltungen zunehmen, ist Schmidts Appell zur offenen Debatte wichtiger denn je.