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Der Fall einer Wirtschaft: Wie die DDR unter Honecker ins Trudeln geriet

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Die Deutsche Demokratische Republik (DDR), einst als sozialistisches Vorzeigeland konzipiert, sah sich in ihren letzten Jahrzehnten mit einer Reihe von wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die letztlich zu ihrem Ruin führten. Besonders die Ära Erich Honeckers ab 1971 war geprägt von politischen Versprechen, die wirtschaftlich nicht haltbar waren und das Land in eine tiefe Krise stürzten.

Die fatale „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“
Als Erich Honecker 1971 an die Spitze der Partei trat, versprach er den Bürgern eine unmittelbare Verbesserung des Lebensstandards, anstatt sie auf eine bessere Zukunft zu vertrösten. Sein Kernkonzept war die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Formal bedeutete dies eine Stärkung der Sozialpolitik gegenüber der Wirtschaftspolitik, doch in der Praxis führte es zu tiefgreifenden Widersprüchen. Die Bürger erhielten höhere Sozialleistungen, mehr Konsumangebote und bessere Wohnungen. Als Gegenleistung erwartete Honecker politisches Einverständnis und erhöhte Produktivität, um die hohen Subventionen refinanzieren zu können. Die Losung änderte sich von „so wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ zu „ich leiste was, ich leiste mir was“.

Diese Politik war stark von Honeckers persönlichen Erfahrungen der Entbehrung geprägt. Er wollte, dass die Arbeiterklasse aus ihrer damaligen Elendsrolle befreit wird, mit einem Dach über dem Kopf, genug zu essen und erschwinglicher Bildung für die Kinder. Ein gigantisches Wohnungsbauprogramm wurde als Kernstück der Sozialpolitik beschlossen, das den Vorkriegszustand der Wohnverhältnisse für die Hälfte der Bevölkerung verbessern sollte. Doch die wirtschaftlichen Realitäten wurden dabei ignoriert.

Das Ende des Mittelstands: Ideologie vor Vernunft
Honeckers Politik schlug auch gnadenlos gegen die verbliebenen Privatbetriebe zu. Unternehmen wie die Damastweberei Aue der Familie Bauer oder die Feinkartonagenproduktion der Nestler KG wurden zur staatlichen Beteiligung gezwungen oder kurzerhand enteignet. Während in der Bundesrepublik Millionen Mittelstandsbetriebe eine entscheidende Wirtschaftsgröße bildeten, schrumpfte ihre Zahl in der DDR dramatisch: Von 17.000 Privatbetrieben, die 1950 noch 25% der industriellen Produktion erwirtschafteten, blieben 1972 nur noch etwa 5.700 halbstaatliche und knapp 2.700 reine Privatbetriebe übrig.

Die Enteignungen waren ein Sieg der Ideologie über die wirtschaftliche Vernunft. Parteifunktionäre sahen ihre Macht durch Unternehmer eingeschränkt, die ein Vielfaches ihrer Gehälter verdienten. Honecker selbst feierte die „Vernichtung des Bürgertums“ als Sieg der sozialistischen Revolution. Die Zerschlagung dieser flexiblen kleinen und mittleren Unternehmen beseitigte jedoch den letzten Rest an Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft an Mangelerscheinungen und Nachfragen. Infolgedessen verschlechterte sich das Angebot an Konsumgütern, da nun die großen staatlichen Kombinate diese Produktion übernehmen mussten.

Absurditäten der Planwirtschaft: Teddys aus der Braunkohle
Die erzwungene Konsumgüterproduktion führte zu kuriosen und ineffizienten Zuständen. Industriebetriebe des Schwermaschinenbaus, deren Fachkenntnis im Bau von Fräsmaschinen lag, mussten plötzlich Elektroboiler herstellen. Braunkohlebergwerke, deren Personal für den Umgang mit Abraum und Kohle ausgebildet war, produzierten Plüschtiere. Ein Stahlwerk stellte Karnickelställe her, und das Schiffbaukombinat Rostock baute neben Schiffen auch Schrankwände und Gartenmöbel.

Diese Umstellung führte zwangsläufig zu Qualitätsmängeln und Kundendiensten, die mit den neuartigen Produkten überfordert waren. Es war ein klares Zeichen, dass die Wirtschaft am Ende war.

Das Subventionsdesaster: Scheinbar billig, tatsächlich teuer
Ein zentraler Pfeiler der Honecker’schen Sozialpolitik war die Politik stabiler Verbraucherpreise. Grundnahrungsmittel, Mieten und Verkehrstarife blieben extrem niedrig – ein Brötchen kostete immer fünf Pfennig, obwohl die Getreidepreise um über 300% stiegen. Um diese Preise zu halten, zahlte der Staat massive Subventionen, deren Volumen von 1,1 Milliarden Mark im Jahr 1960 auf 60 Milliarden Mark im Jahr 1989 anstieg, bei einem Nationaleinkommen von rund 300 Milliarden Mark. Ein Lebensmittelkorb im Wert von 100 Mark wurde 1989 mit 85 Mark subventioniert.

Diese Subventionen führten zu paradoxen Situationen und enormer Verschwendung: Lebensmittel wurden als Tierfutter verwendet, ineffizient geheizte Wohnungen verschwendeten Energie, und es gab kaum Anreize zum sparsamen Umgang mit Ressourcen. Fachleute schlugen vor, Subventionen abzuschaffen und durch direkte Zahlungen wie Kindergeld auszugleichen, aber Honecker lehnte dies ab, um sein Image als „Sozialvater des Landes“ nicht zu gefährden. Die Bevölkerung gewöhnte sich an die niedrigen Preise und empfand keine Dankbarkeit, sondern ärgerte sich über Mangelerscheinungen bei hochwertigeren Konsumgütern.

Export um jeden Preis: Die Schuldenspirale
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erhöhte die Sowjetunion die Ölpreise und drosselte ihre Rohölexporte, was die DDR ihrer wichtigen Einnahmequelle für Westgeld beraubte. Eine neue Strategie zur Devisenbeschaffung wurde notwendig: Kredite von westlichen Banken für den Bau neuer Industrieanlagen, um Produkte für den Export in den Westen zu produzieren und damit die Kredite zu bedienen.

Das führte zum „Export um jeden Preis“, bei dem die DDR ihre Produkte oft unter Herstellungskosten verkaufte, um überhaupt Devisen zu generieren. Dies hatte nicht nur wirtschaftlich negative Folgen, da es ein Zuschussgeschäft war, sondern auch gesellschaftlich: Die besten Produkte und Lebensmittel gingen in den Westen, während der eigenen Bevölkerung qualitativ minderwertigere Güter blieben. Der ikonische Designersessel von Rudolf Horn beispielsweise wurde ausschließlich für den Export gefertigt. Die Auslandsverbindlichkeiten der DDR stiegen dramatisch von 8,9 Milliarden Mark im Jahr 1975 auf 19,9 Milliarden Mark im Jahr 1989. Eine Senkung des Lebensstandards, die zur Reduzierung der Schulden nötig gewesen wäre, war politisch nicht durchsetzbar.

Der unvermeidliche Zusammenbruch
Die wirtschaftliche Lage der DDR verschlechterte sich zusehends. Großinvestitionen wie der Bau eines Warmwalzwerks mussten wegen Unfinanzierbarkeit abgebrochen werden. Die bevorzugte Förderung der Mikroelektronik brachte keine nennenswerten wirtschaftlichen Effekte. Die Entmündigung der Wirtschaftskader durch die Partei führte zu Resignation und einem Verlust des Glaubens an das eigene System.

Der Zusammenbruch der DDR war eine unauflösbare Verflechtung von wirtschaftlichem und politischem Versagen. Das Ende der Planwirtschaft eröffnete jedoch auch neue Chancen. Während manche Betriebe wie das Schuhkombinat Weißenfels in der Marktwirtschaft scheiterten, gelang es anderen, wie der Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) oder reprivatisierten Familienunternehmen, sich erfolgreich neu zu positionieren. Diese Beispiele zeigten, dass die Menschen in Ostdeutschland durchaus über wirtschaftlichen Verstand und Geschick verfügten – wenn sie nicht durch ideologische Vorgaben behindert wurden.

Wie Reparationen und ein politisches Nein die DDR von Anfang an lähmte

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern. Während der Westen mit dem Marshallplan den Grundstein für einen beispiellosen Aufschwung legte, wurde im Osten eine andere Vision verfolgt: die Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild. Ein System, das mehr als nur Wirtschaftsfragen umfasste – es sollte alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen. Doch gute Fachleute und Ideen allein reichten nicht aus, um ein Land, das auf einem „Schutthaufen“ errichtet wurde, vor dem Ruin zu bewahren.

Ein schwerer Start: Reparationen und verlorene Chancen
Die Ausgangslage für die 1949 gegründete DDR war desaströs: Der Kapitalstock betrug lediglich 40% des Westniveaus. Ein Hauptgrund dafür waren die massiven Reparationsleistungen an die Sowjetunion. Während die Westalliierten 668 Werke demontierten, was zu einem Kapazitätsverlust von etwa 5% führte, wurden in der sowjetischen Besatzungszone rund 3000 Betriebe abgebaut, was mindestens 30% der industriellen Kapazitäten zerstörte. Die ostdeutsche Bevölkerung trug 90% der gesamtdeutschen Reparationen und wies die höchste Pro-Kopf-Belastung des 20. Jahrhunderts auf – 60 Mal höher als in der Bundesrepublik Deutschland. Ganze Industrieanlagen verrosteten ungenutzt in der Sowjetunion, weil dort die Voraussetzungen für den Wiederaufbau fehlten.

Hinzu kam die Ablehnung des Marshallplans durch die Sowjetunion, die fürchtete, mit der westlichen Wirtschaftshilfe auch die politische Vorherrschaft über ihre Satellitenstaaten zu verlieren. Besonders die Tschechoslowakei wurde zur Ablehnung gezwungen.

Ein weiterer Aderlass war die Flucht des mittelständischen Unternehmertums. Tausende Betriebe, darunter viele Weltmarktführer aus Sachsen und Thüringen, verließen die Sowjetische Besatzungszone und trugen im Westen maßgeblich zum Wirtschaftswunder bei. Firmen wie Chlorodont, die Zahnpasta erfunden hatten, oder die Universal Dresden (Zigarettenmaschinen) setzten ihre Erfolgsgeschichten im Westen fort, während ihre volkseigenen Pendants im Osten international an Bedeutung verloren.

Das Korsett der Planung: Vom Fünfjahrplan zum Stillstand
Das Herzstück der DDR-Wirtschaft war der Plan. Nach einem Zweijahresplan startete 1950 der erste Fünfjahrplan, der detaillierte Wirtschaftsziele für jeden Industriezweig und Betrieb zentral festlegte. Prestigeobjekte wie das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), das in nur vier Jahren fünf Hochöfen errichtete, wurden zu Symbolen des wirtschaftlichen Aufschwungs und galten als „reifes Günesbuch der Rekorde“.
Doch die Planwirtschaft hatte eine fatale Eigendynamik: Jährlich wurden höhere Steigerungsraten vorgegeben, die sogenannten „Planaufgaben“.

Dieses System führte zu einer Tragik: Wenn Betriebsleiter wussten, dass sie im nächsten Jahr 3% mehr produzieren sollten, versuchten sie, die aktuelle Produktion so niedrig wie möglich zu halten, um die spätere Steigerung „beherrschbar“ zu machen. Sonderverpflichtungen, etwa zum Geburtstag Stalins, bei denen statt 30.000 40.000 Fernsehapparate geliefert werden sollten, führten zu hektischer Produktion und erheblichen Ausfällen, sodass ein Großteil der Geräte vom sowjetischen Abnehmer zurückgewiesen wurde.

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 und der „Neue Kurs“
Die schlechte Versorgungslage und politische Gängelei führten am 17. Juni 1953 zum Arbeiteraufstand. Als Reaktion darauf wurden nicht nur der Sicherheitsapparat massiv ausgebaut, sondern auch wirtschaftliche Ursachen angegangen. Die Partei schwenkte um: Normen wurden gesenkt und die Leichtindustrie sollte mehr Aufmerksamkeit erhalten, um die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu verbessern. Dieser „Neue Kurs“ zeigte jedoch zunächst kaum Wirkung, der Mangel blieb vorherrschend. Kampagnen gegen „Schieber und Spekulanten“, die Lebensmittel über die offene Grenze nach West-Berlin brachten, zeugen von der Verzweiflung und muten aus heutiger Sicht „sehr bizarr“ an.

Zwischen Stagnation und Innovation: Das Auf und Ab der 60er Jahre
Nach dem Bau der Mauer im August 1961, der die Abwanderung von Fachkräften eindämmte, konsolidierte sich die DDR-Wirtschaft zunächst. Unter Walter Ulbricht wurde das „Chemieprogramm“ vorangetrieben, basierend auf billigem sowjetischem Erdöl, das zu modernen Produkten veredelt und exportiert werden sollte – „Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit“ war die Parole.

Mitte der 60er Jahre wurden auch sichtbare Fortschritte auf Messen präsentiert: Der Trabant 601, Geschirrspülmaschinen, elektrische Zahnbürsten und leistungsfähige Kräne vom Kirowwerk Leipzig zeigten, dass die DDR in einigen Bereichen „Weltniveau“ erreichte. Das Bruttosozialprodukt stieg zwischen 1960 und 1969 um durchschnittlich 5% jährlich, und die Ausstattung der Haushalte mit Waschmaschinen, Kühlschränken und Fernsehapparaten verbesserte sich deutlich, wenn auch nicht immer auf Westniveau.

Um die Wirtschaft effektiver zu gestalten, wurde 1963 das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS) eingeführt. Es sollte „ein bisschen Markt mitten in der Planwirtschaft“ schaffen, indem Betriebe für ihre Produktion und Finanzen selbst verantwortlich gemacht und nach Gewinn orientiert wurden. Erich Apel, der Chef der Plankommission, war die treibende Kraft hinter dieser Reform. Seine Ideen, die auch im Westen wahrgenommen wurden, zielten darauf ab, den Lebensstandard zu erhöhen und die Bevölkerung enger an das System zu binden. Apel wollte „Wertkategorien ins Zentrum der Politik stellen“, was auch bedeuten sollte, dass ein sozialistischer Betrieb „bankrott gehen kann, aber eben planmäßig abwickeln“. In Wirtschaftskreisen herrschte „Aufbruchstimmung“. Doch Apels Reformansätze stießen auf Widerstand im Apparat. Nach seinem Tod im Jahr 1965 (vermutlich Selbstmord) wurde das NÖS schnell wieder eingestellt, da es die Kontrolle und Machtkompetenz der SED in Frage stellen könnte.

Trotz des Scheiterns des NÖS entstanden in den 60er Jahren weiterhin innovative Produkte. Rafena aus Radeberg produzierte Fernsehgeräte auf internationalem Niveau, die sich in Bildqualität nicht von westlichen Geräten unterschieden. Auch im Möbelbau gab es Fortschritte: Rudolf Horn entwickelte für die Werkstätten Hellerau ein Modulsystem zum Selbstaufbau, eine „berühmte Ikea-Idee vorweggenommen“. Diese Möbel waren international gefragt, aber für den normalen DDR-Bürger kaum erhältlich; es gab nur „Beratungsmuster“ im Laden, und man musste „Jahre oder Monate darauf warten“.

Das Ende einer Illusion: Kybernetik und Realität
Walter Ulbricht setzte in seinen letzten Jahren auf ein weiteres Großprojekt: die Kybernetik. Er hoffte, mit riesigen Rechenmaschinen alle wirtschaftlichen Prozesse bis ins Kleinste berechnen und einen optimalen Plan erstellen zu können. Doch die Realität holte die Planer ein. Eine Anekdote besagt, dass ein Computer am Institut für Wirtschaftsführung in Ransdorf, dem alle Wirtschaftsdaten der DDR eingegeben wurden, schließlich die Empfehlung ausgab: „Politbüro absetzen!“. Der Computer hatte „kein Klassenbewusstsein“ und entschied „rational“.

Die Erzählung mag übertrieben sein, doch sie spiegelt das Dilemma der Planwirtschaft wider: Sie kostete Kraft, verschliss Menschen und konnte trotz aller Anstrengungen und temporärer Erfolge die grundlegenden Probleme einer nicht marktwirtschaftlich organisierten Ökonomie nicht überwinden. Mit dem Abgang Ulbrichts und dem Antritt Erich Honeckers im Jahr 1971 kündigte sich ein neues Wirtschaftsprogramm an, doch die grundlegenden Strukturprobleme blieben bestehen.

Die entscheidende Rolle von ARD und ZDF im geteilten Deutschland

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In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gab es eine Region, die man das „Tal der Ahnungslosen“ nannte, da sie zu DDR-Zeiten unerreichbar für die Sender von ARD und ZDF war – der Weg nach Sachsen war zu weit. Doch selbst dort, in Dresden-Hellerau, regte sich erfinderischer Geist: Schon 1985 stellte ein Verein einen Antrag auf Genehmigung zum Bau einer Antenne, die offiziell dem besseren Empfang des DDR-Fernsehens dienen sollte. Zwei Jahre später, 1987, erhielten sie die Genehmigung für eine 3 Meter hohe Antenne, die sie geschickt auf einem Wasserturm anbrachten. So öffnete diese Antenne für ganz Dresden-Hellerau tatsächlich die Kanäle von ARD und ZDF. Dieser „Erfindergeist und Schlitzohrigkeit“ war bezeichnend für den Umgang vieler DDR-Bürger mit dem Westfernsehen.

Technischer Trick und Alltags-Risiko
Das Beschaffen des Materials war oft die größte Herausforderung, insbesondere Kabel für die Verteilung, während Antennen handelsüblich erhältlich waren und Verstärker selbst gebaut werden konnten. Man holte Kabelreste aus dem Kabelwerk Facha im Grenzgebiet zur Bundesrepublik, wofür sogar Reisegenehmigungen der Polizei erforderlich waren. Der Verein Antenne Hellerau schloss Hunderte von Haushalten an, und alle hielten bei Fragen der Staatssicherheit (Stasi) dicht. Die Anlage wurde am Neujahrstag 1989 eingeweiht, pünktlich zur Wende für besten Westfernsehempfang.

Doch der Empfang von Westfernsehen war nicht ohne Risiko. Bis in die 1970er Jahre war es politisch gefährlich. Viele bauten drehbare Antennen, die tagsüber nach Görlitz (Osten) ausgerichtet wurden, um eine Alibifunktion zu erfüllen, da von der Straße aus sichtbar war, was die Leute sahen. Bei Dunkelheit wurden die Antennen dann zum Westen gedreht – und das jeden Tag. Diese Vorsicht war begründet: Die Stasi war über Westantennen bestens informiert und führte Listen mit Adressen von Bürgern, die von Spitzeln oder „lieben Nachbarn“ als Westfernsehzuschauer ausspioniert worden waren. Während das Ostprogramm in vielen Haushalten abgedreht wurde, hatten die DDR-Sender kaum eine Chance gegen ARD und ZDF. Der „Schwarze Kanal“ mit Karl Eduard von Schnitzler, der westliche Sendungen zerschnitten und verfälscht zeigte, führte meist zum Abschalten. Nur Shows wie „Kessel Buntes“ waren beliebt.

Der Kampf der Stasi gegen die „feindliche Einflussnahme“
Seit 1974 hatten ZDF und ARD Korrespondentenbüros in Ost-Berlin. Die Arbeit der Korrespondenten wurde jedoch durch Verbote und Behinderungen der DDR-Bürokratie erschwert. Das Regime fürchtete die „freie Information“. Die Staatssicherheit brach mehrfach nachts in das ZDF-Büro ein, fotografierte heimlich alles, öffnete die Westgeldkasse und untersuchte sie. „Unabhängige Recherche und kritische Fragen“ wurden von der Stasi als „Agententätigkeit“ eingestuft. Die DDR hatte keine wirkliche Opposition, doch durch Fernsehen und Rundfunk wurden „die Vorzüge der anderen Ordnung“, das „ganze Wirtschaftswunder“ und die Werbung übertragen. Die Korrespondenten fungierten als Sprecher für Missstände, die in den DDR-Medien weniger vorkamen.

Die Stasi beobachtete die Büros von ARD und ZDF von ihrem „Leitstützpunkt Banner“ aus per Monitor. Sechs rot markierte Beobachtungsposten garantierten nahtlose Kontrolle rund um die Friedrichstraße. Die Ergebnisse dieser Überwachung wurden im Operationsvorgang „Bagage – Feindobjekt“ gesammelt, dem Decknamen, den die Stasi dem ZDF gab. Adressen, verdächtige Kontakte und Visitenkarten wurden bei Einbrüchen in Büros oder Wohnungen der Korrespondenten fotografiert. Die Stasi schickte sogar Spitzel als „Bittsteller“ getarnt in die Büros oder Privatwohnungen der Korrespondenten, um zu testen, ob diese bei Ausreiseanträgen behilflich wären – ein klarer Bruch der Journalistenvereinbarung, der zur Ausweisung geführt hätte.

Journalisten als „Dolmetscher“ und „Anstifter“
ZDF-Korrespondent Peter van Loeven wurde nach nur zehn Wochen Arbeit in der DDR ausgewiesen. Er hatte über die Drangsalierung des kritischen Schriftstellers Stefan Heym berichtet. Heyms Bücher erschienen im Westen, da ihm in der DDR ein Berufsverbot auferlegt war, und seine kritischen Aussagen gelangten über westliche Medien zurück in die DDR. Van Loeven drehte eine Erklärung Heyms ohne die dafür notwendige Genehmigung, da Heyms Wohnung abgehört wurde und die Stasi so über alles Bescheid wusste. Diese „klare“ Verletzung der Regeln führte zu seiner sofortigen Ausweisung.

Die Stasi sah die Westkorrespondenten als „vorgeschobene Posten des Feindes im Kampf gegen den Sozialismus“. Tatsächlich aber waren sie „Dolmetscher von Ost nach West und umgekehrt“, die sowohl für die Bundesrepublik als auch gleichzeitig für die DDR selbst berichteten. Dieser „Rückkopplungseffekt“ hatte eine große Bedeutung für die innere Entwicklung der DDR. Die Stasi-Führung beschuldigte die Westkorrespondenten, „Anstifter und Akteure“ der inneren Opposition zu sein – eine Rolle, in die sie „zwangsläufig gerieten“.

Peter Pragal, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, lebte mit seiner Familie Tür an Tür mit Ost-Nachbarn in der DDR. Er hatte es als schreibender Journalist oft leichter, da er ohne offizielle Genehmigung mit vielen DDR-Bürgern sprechen konnte. Hochinteressante Informationen erhielt er sogar direkt von Stasi-Mitarbeitern in der Sauna, die ihn nicht als „Klassenfeind“ erkannten.

Die Unterstützung der Opposition und das „ZDF Magazin“
Westliche Medienpräsenz bot Schutz für Regimekritiker wie Robert Havemann. Ihm gelang es, seine Schriften in den Westen zu schmuggeln, und er wurde durch das Westfernsehen in der DDR-Bevölkerung nicht vergessen. Auch als Wolf Biermann 1976 nach 11 Jahren Stasi-Isolation im Westen sein legendäres Köln-Konzert gab, schauten in der DDR Hunderttausende zu, sogar „Bonzen der Partei“. Die SED schlug zurück und bürgerte Biermann aus, was zu massiver Empörung in der Parteiführung führte. Auch Havemanns fast prophetisches Testament wurde heimlich von seiner Frau gefilmt und noch Jahre vor dem Mauerfall im ZDF ausgestrahlt, trotz Bewachung durch 200 Stasi-Spitzel.

Kontakte zu Westkorrespondenten waren per Gesetz strafbar. Heinz Niels, ein Regimekritiker, der kritische Schriften verfasste, wurde von der Stasi systematisch verfolgt, nachdem ein Treffen mit Pragal vereinbart war. Er wurde in eine inszenierte Falle gelockt und in Untersuchungshaft genommen.

Das ZDF Magazin setzte sich lautstark mit Hilferufen für Flüchtlinge ein und stritt gegen die innerdeutsche Grenze. Es prangerte die DDR-Grenze als „Tötungsmaschine“ an. Andreas Schmidt kam mit 19 Jahren ins Gefängnis, weil er „Solidarität mit Biermann“ demonstriert hatte. Er hatte das ZDF-Büro in Ost-Berlin besucht, um seinen Ausreisewunsch zu hinterlegen. Die Stasi sah dies als Beihilfe zur „Vorbereitung des Dritten Weltkriegs“. Trotz Zuchthausstrafen ist Schmidt dem ZDF Magazin dankbar, da es ihm half, seine Ausreise zu erzwingen.

Bilder, die die Welt veränderten
Das Westfernsehen zeigte das wahre Gesicht der DDR, wie verfallende Altbauten in Leipzig, die das Scheitern der Planwirtschaft aufzeigten, während das DDR-Fernsehen nur Fassaden und organisierte Begeisterung zeigte. Keine Ost-Kamera hätte beispielsweise Parteifunktionäre oder Stasi bei informellen Anlässen gezeigt, während West-Kameras sogar Feste der DDR-Opposition dokumentierten.

Ein Wendepunkt war der 2. Mai 1989, als Ungarn seine Grenze öffnete. Das ZDF zeigte die Bilder live. Dies wurde von DDR-Zuschauern sofort als „echte Chance zur Flucht“ begriffen. Die Stasi registrierte ein „explosionsartiges Ansteigen von Reiseanträgen nach Ungarn“. Für Zehntausende wurde Ungarn zum Symbol für die Freiheit. Die Westfernsehpräsenz schützte die Flüchtlinge in den Lagern, wie dem der ungarischen Malteser in Budapest, vor Einschüchterungen durch DDR-Behörden. Als Ungarns Außenminister Gyula Horn am 10. September 1989 live im Fernsehen verkündete, dass die Ausreise über Österreich in die Bundesrepublik frei sei, war dies der Anfang vom Ende der DDR.

Die Stasi versuchte, die Fluchtbewegungen zu verhindern, dokumentierte Verhaftungen und sah sich mit Massenanstürmen auf Botschaften konfrontiert. Doch die Fernsehbilder aus Ungarn und Prag machten den Daheimgebliebenen Mut. Trotz Drehverboten für Korrespondenten in Leipzig gelangten Filmaufnahmen der Montagsdemonstrationen in den Westen und wurden in die ganze DDR gesendet. Die Stasi als „Schwert und Schild“ der Partei, die ungezählte Menschen inhaftierte, konnte weder Bild noch Ton abschalten. Das Fernsehen war auf Dauer nicht unter Kontrolle zu bringen.

Die fehlende Organisation der Opposition wurde durch das Westfernsehen und dessen Informationen ersetzt. Es gab einen „Ermutigungs- und Nachahmungseffekt“, der sich bis zu den Parolen der Demonstranten erstreckte. Zwei Tage vor Weihnachten fiel die Mauer am Brandenburger Tor, und das ZDF war live dabei. Die Menschen konnten sich nun ein eigenes Bild vom jeweils anderen Deutschland machen und waren nicht mehr auf den „elektronischen Botschafter Fernsehen“ angewiesen, an dem selbst die Stasi gescheitert war.

Wie ein Experte resümiert: „Was wäre gewesen … wenn es 40 Jahre DDR und 40 Jahre deutscher Zweistaatlichkeit gegeben hätte ohne dieses grenzüberschreitende Medium Fernsehen dazu reicht meine Fantasie nicht aus ich glaube die würden noch jetzt an der Macht sein“. Das Westfernsehen war somit ein entscheidender, vielleicht sogar der wichtigste Faktor für den Fall der Mauer und das Ende der DDR.

Tschüss Genossen! – Als Mut, Frechheit und Cleverness die Mauer überwanden

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Die Berliner Mauer, von der DDR-Führung einst als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet, sollte die Bürger im Land halten. Doch gegen den unbändigen Wunsch nach Freiheit erwiesen sich Beton, Stacheldraht und Minen als zu schwach. Menschen riskierten ihr Leben, um dem System ein Schnippchen zu schlagen, und bewiesen dabei außergewöhnlichen Mut, Frechheit und Cleverness. Ihre Geschichten, die oft wie aus einem Spionagefilm anmuten, zeugen von einem unbezwingbaren Freiheitsdrang.

Der gewagte Fotograf: Horst Bayers Mauer-Shooting Am 9. Oktober 1961, dem 12. Jahrestag der DDR, wählte ein Mann den wohl dreistesten Weg in die Freiheit: der Fotograf Horst Bayer. Bayer, bekannt als Lebemann mit lockeren Sprüchen, passte ohnehin nicht ins System. Ausgerechnet er wurde auserkoren, Fotos von der Mauer für die Jubelfeiern zu machen, was ihm den Zutritt zum Grenzbereich ermöglichte – eine Einladung zur Flucht, die er nicht ignorieren konnte.

Mit seiner Kamera und einigen jungen Sportlerinnen des SV Rotation Berlin, die er die Mauer als „Freund“ und „Beschützer“ preisen ließ, inszenierte er ein scheinbar harmloses Fotoshooting. Während er Aufnahmen von den jungen Frauen machte, die sich an der Mauer räkelten und Blumen an die „heldenhaften Grenzsoldaten“ überreichten, führte er diese geschickt ab. In einem unbeobachteten Moment wechselte er die Seite. Die Grenzer bemerkten den Schwindel erst, als es zu spät war. Horst Bayer hatte es geschafft – ein cleverer Bürger weniger für die DDR. Im Westen fotografierte er später für die Bildzeitung und blieb ein lebenslustiger Mensch.

Mutterliebe im Einkaufstrolley: Annelise Trauzettels List 26 Jahre später, 1987, bewies Annelise Trauzettel, eine Frührentnerin, dass Mutterliebe die höchste Mauer ist. Obwohl sie als Frührentnerin jederzeit nach West-Berlin durfte, musste ihr vierjähriger Sohn Mike immer in der DDR bleiben. Die Behörden drohten sogar mit Zwangsadoption. Doch Annelise gab nicht auf.

Ihr Plan war ebenso einfach wie genial: Sie wollte Mike in einem Einkaufswagen durch alle Kontrollschleusen des Grenzbahnhofs Friedrichstraße schmuggeln. Wochenlang trainierte sie mit Mike das Versteckspiel im Wagen und sorgte sogar für Beruhigungsmittel, damit die Flucht für ihn „wie im Schlaf“ ablief. Um die Spürhunde der Grenzposten zu täuschen, sprühte sie Mike zuvor mit Deospray ein. Auf dem belebten Bahnhof, einem Labyrinth aus Kontrollen und Soldaten, navigierte sie den Trolley geschickt durch die Massen. Als ein Stasi-Mann ihren Wagen kontrollieren wollte, rief sie laut: „Spinnt du, du Depp! Weg!“ und wurde von einem Passanten geschützt. Die Notbremse einer U-Bahn gab ihr schließlich die entscheidende Zeit, um zu entkommen. Annelise Trauzettel, ausgestattet nur mit Mut, Mutterliebe und einem alten Trolley, überlistete das System.

Die Betke-Brüder: Schwimmen, Seil und Luftschlag Die Brüder Ingo, Holger und Egbert Betke wurden zu einer wahren „Plage für das DDR-System“. Ihre Fluchten sind ein Paradebeispiel für Zusammenhalt und Einfallsreichtum.

  • Ingos Elbe-Flucht: Als ältester der Brüder und Anführer der „Gang“, nutzte Ingo sein Wissen aus dem Militärdienst über Grenzbefestigungen, um eine lebensgefährliche Flucht durch Stacheldraht, Minenfeld und die Elbe zu planen. Mit einem „Stampfer“ bahnte er sich einen Weg durch das Minenfeld und überwand die Elbe auf einer Luftmatratze, obwohl die Strömung viele in den Tod gerissen hatte. Er paddelte „wie ein Geisteskranker“, während Patrouillenboote die Gefahr erhöhten. Nach seiner erfolgreichen Flucht sollte es 15 Jahre dauern, bis er seine Eltern wiedersah.
  • Holgers Drahtseilakt: Acht Jahre später folgte der jüngste, Holger, ein Mann des Nervenkitzels. Seine Idee war es, die Mauer aus einer „ganz anderen Perspektive“ zu betrachten: von oben. Zusammen mit seinem Freund Michael Becker wählte er ein Haus an der Ostseite der Mauer und planten einen Drahtseilakt. Ihr Plan war, mit einem Flitzebogen eine dünne Angelschnur über die Mauer zu schießen, um daran das dickere Drahtseil zu befestigen. Nach mehreren Fehlversuchen gelang es schließlich. Ingo spannte das Seil von der Westseite aus, und Holger rutschte in die Freiheit. Die Grenzer waren auf einen solchen „Drahtseilakt“ einfach nicht gefasst.
  • Der Luftschlag für Egbert: Die Betkes ließen nicht locker. Um ihren dritten Bruder Egbert zu befreien, ersannen sie einen weiteren spektakulären Plan: Sie wollten ihn mit einem Ultraleichtflugzeug ausfliegen. Das Problem: Sie konnten noch nicht fliegen. Zwei Jahre lang übten sie das Starten und Landen in der Eifel. Am 25. Mai 1989 war es so weit. Holger und Ingo flogen mit getarnten Flugzeugen, versehen mit Russensternen, um nicht sofort beschossen zu werden, von West-Berlin nach Treptow, um Egbert abzuholen. Nach einer holprigen Landung und einem schnellen Einstieg starteten sie zu dritt, wobei die Maschine nun 80 kg schwerer war. Sie landeten direkt vor dem Reichstag. Egbert war zutiefst gerührt über das, was seine Brüder für ihn riskiert hatten. Die Betkes haben die DDR „locker überlebt“, denn „Einigkeit macht eben stark“.

Der Zug in die Freiheit: Harry Detterlings Coup Ebenfalls zu den spektakulären Fluchten gehört der Coup von Lokführer Harry Detterling und Heizer Hartmut Lichi. Am 5. Dezember 1961 durchbrachen sie mit dem Vorortzug „Lok 234“ die Absperrungen an der Grenze zu West-Berlin und brachten 25 Menschen in die Freiheit. Detterling, der sich weigerte, die Teilung Deutschlands zu unterschreiben, bereitete seine Flucht akribisch vor. Er täuschte einen Sinneswandel vor, meldete sich zu Sonderschichten an und überzeugte seine Vorgesetzten, ihn auf die gesicherte Strecke fahren zu lassen. Ohne die Fahrgäste zu informieren, beschleunigte der Zug kurz vor der Grenze. Obwohl es bei einer Kontrolle im Zug Probleme gab und Rufe wie „Anhalten, anhalten, wohin wollt ihr!“ erklangen, reagierten Detterling und Lichi nicht. Sie durchbrachen alle Sperren und erreichten Spandau. Die „Lok 234“ machte Harry Detterling zu einem Helden der 60er Jahre.

Das Erbe der Frechheit Diese Geschichten zeigen, dass die höchste Mauer gegen eine gute Idee Mut, Frechheit und Cleverness sind. Die Menschen, die dem System ein Schnippchen schlugen, ob durch einen Zug, einen Einkaufswagen, eine Elbe-Durchquerung, einen Drahtseilakt oder ein Ultraleichtflugzeug, demonstrierten, dass der menschliche Wille zur Freiheit nicht eingesperrt werden kann. Ihre Taten bleiben unvergessen und sind ein Zeugnis außergewöhnlichen Einfallsreichtums im Angesicht der Unterdrückung.

Die Geheimnisse des Diktators: Erich Honeckers verborgene Welt

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Erich Honecker, der 18 Jahre lang an der Spitze der DDR stand, galt als unscheinbar, unnahbar und undurchschaubar. Ein Machtmensch, der sein Innerstes verhüllte und nur ungern über sich selbst sprach, besonders wenn es viel zu verbergen gab. Nach der Wende wurde im Tresor der Stasi ein roter Koffer entdeckt, der brisante, auch private, Details über Honecker enthielt und das Bild des „Traumpaares der DDR“ als bloße Fassade entlarvte, hinter der sich jahrelange Eheprobleme verbargen. Diese „Geheimakte Honecker“ beleuchtet eine Persönlichkeit, die zwischen öffentlicher Fassade und privatem Chaos changierte.

Die formative Zeit: Widerstand, Verrat und eine rätselhafte Liebe
Honeckers Leben vor seiner Zeit als Staatschef war von prägenden Erlebnissen gezeichnet. Im Dezember 1935 wurde der damals 23-Jährige von der Gestapo verhaftet, da er Mitglied der verbotenen KPD war und im Widerstand gegen Hitler aktiv. Der Berliner Volksgerichtshof verurteilte ihn zu zehn Jahren Zuchthaus. Während Honecker sich später als unbeugsamen Kämpfer gegen den Faschismus stilisierte, deckten Unterlagen im Roten Koffer widersprüchliche Details auf: Ein Gutachten aus der Stasi-Zeit entlastete ihn vollständig, während ein anderes sehr präzise feststellte, dass seine Aussagen in den ersten Verhören der Gestapo durchaus geeignet waren, andere zu belasten – ein Vorwurf, der ihm erheblich geschadet hätte. Diese zwei unterschiedlichen Gutachten waren Teil einer Sicherungsstrategie des Machtapparates der SED, um die Biografien führender Kader zu schützen oder bei Schwachstellen Druckmittel in der Hand zu halten.

Ein weiterer heikler Punkt in Honeckers Leben im Dritten Reich war seine Beziehung zu Charlotte Schanuel, einer Wärterin aus dem Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße, in das er während des Krieges verlegt worden war. Honecker, ein gelernter Dachdecker, nutzte die Reparatur von Bombenschäden zur Flucht, fand aber in seiner verzweifelten Lage Unterschlupf bei Charlotte, die neun Jahre älter war und über gute Kontakte zur NSDAP verfügte. Dank ihrer Hilfe konnte er straffrei ins Gefängnis zurückkehren. Nach Kriegsende heiratete er diese Gefängniswärterin sogar, ein Umstand, den er später selbst engsten Freunden gegenüber verschwieg. Honecker bezeichnete diese Ehe als die „große Liebe seines Lebens“ und sein „größtes Geheimnis“. Es bleibt eine erstaunliche Tatsache, dass seine erste Ehefrau aus diesem nationalsozialistischen Umfeld stammte und er sie erst Ende 1946 heiratete, als er bereits Vorsitzender der von ihm gegründeten FDJ war. Er riskierte seine Karriere aus Liebe oder Dankbarkeit; Charlotte starb kurz nach der Hochzeit.

Aufstieg zur Macht: Ambition, Intrigen und private Turbulenzen
Nach dem Krieg machte Erich Honecker steil Karriere. Er war rhetorisch gewandt, durchsetzungsfähig und „außerordentlich charmant“ – Eigenschaften, die ihm in seiner Parteikarriere zugutekamen. Das Geheimnisvolle an ihm war, dass er sein Inneres kaum jemandem offenbarte, was ein Vorteil für eine Parteikarriere war.

Doch auch sein Privatleben war von komplexen Beziehungen geprägt. Während seine erste Frau noch lebte, begann er vermutlich eine Affäre mit Edith Baumann, seiner Stellvertreterin bei der FDJ. Obwohl er diese Beziehung später als pragmatisch schilderte – sie habe ihm stark bei der politischen Arbeit geholfen und gut Schreibmaschine schreiben können – heiratete er Edith Baumann im Dezember 1949, als sie schwanger war.

Doch die Ehe währte nicht lange: Nur kurz darauf kehrte Honecker von einer Moskau-Reise mit einer neuen Geliebten zurück: Margot Feist, ebenfalls eine FDJ-Funktionärin, aber 15 Jahre jünger und attraktiv. Margot sei „unheimlich klug“ und eine „unheimlich kluge Taktikerin“ gewesen, die ihn „voll im Griff“ hatte und eine geeignete Partie für seinen Machtwillen darstellte.

Diese Affäre sorgte in den höchsten Kreisen für Unruhe. Edith Baumann kämpfte um ihren Ehemann und schrieb sogar an Walter Ulbricht, Honeckers Mentor, um die Konkurrentin auszuschalten. Obwohl Edith Baumanns Brief in Mielkes Rotem Koffer landete, verließ Honecker seine Frau und heiratete Margot, die jugendliche Rivalin hatte gesiegt.

Honeckers Karriere schritt voran. Er war ehrgeizig und kampfbereit, wie seine Anstiftung der FDJ-Mitglieder zu einem Marsch nach West-Berlin bei den Weltfestspielen 1951 zeigte, der zu Zusammenstößen mit der Polizei führte. Er wusste, wo die Macht lag und wie er für sich persönlich das Beste herausholen konnte, und orientierte sich stark an Walter Ulbricht. 1958 machte Ulbricht Honecker zum Vollmitglied des Politbüros. Im Krisenjahr 1961, als täglich Hunderte die DDR verließen, übernahm Honecker die logistische und methodische Organisation des Mauerbaus – sein „Gesellenstück“. Er nahm das Leid der Menschen in Kauf, um die Stabilisierung der DDR und seine eigene Macht zu sichern.

Der Sturz des Mentors und der „Machtmensch“ Honecker
In den folgenden Jahren stieg Honecker zum Kronprinzen und zweiten Mann hinter Ulbricht auf. Doch Ulbricht dachte nicht daran, seine Macht abzugeben. Im Juli 1970 kam es zur Machtprobe: Ulbricht forderte in einer Rede in Rostock Reformen und mehr Marktwirtschaft. Honecker nutzte die Gunst der Stunde, da Ulbricht durch Alleingänge die Sympathien Leonid Breschnjews, des sowjetischen Parteichefs, verloren hatte, indem er sich wiederholt arrogant über die Überlegenheit der DDR-Wirtschaft gegenüber der Sowjetunion äußerte. Honecker suchte Kontakt zum Sowjetführer und stürzte Ulbricht 1971 mit Breschnjews Zustimmung in einem „kalten Putsch“. Für Honecker bedeuteten alte Loyalitäten nichts mehr. Die Monate zwischen Honeckers Machtübernahme und Ulbrichts Tod waren „eigentlich eine Zeit der öffentlichen Hinrichtung von Walter Ulbricht“. Honecker, ein überzeugter Stalinist, für den Befehle kompromisslos ausgeführt wurden, ging dabei „über Leichen“.

An der Spitze angelangt, veränderte sich Honecker. Er wurde noch kontrollierter und unnahbarer, und private, gesellige Runden gehörten der Vergangenheit an. Er schottete sich immer weiter ab, das Symbol dafür war Wandlitz, die Wohnsiedlung des Politbüros. Obwohl die Honeckers dort angeblich „bescheiden“ lebten, besaßen sie luxuriöse Einrichtungen, Westernware in der Küche und ließen sich Südfrüchte und Kosmetik aus dem Westen liefern. Margot Honecker schien dabei die Realität der einfachen DDR-Bürger völlig auszublenden; sie wusste nicht, wie die Wirklichkeit aussah und schimpfte, wenn Leute in langen Schlangen standen. Selbst auf der Ferieninsel Hiddensee wurden Brötchen täglich aus dem 300 km entfernten Wandlitz geliefert – eine „überspitzte Sicherheitsmaßnahme“. Es wird auch berichtet, dass sich Honecker Pornofilme aus dem Westen besorgen ließ.

Eine zerrüttete Ehe und die Illusion des Glücks
Die Ehe der Honeckers war angeblich völlig zerrüttet. Dem Bundesnachrichtendienst war 1981 bekannt, dass Honecker zahlreiche außereheliche Beziehungen hatte und gerne in Gesellschaft junger Frauen war. Auch Margot soll eigene Wege gegangen sein, wie Stasi-Chef Mielke Honecker informierte, was diesen „sehr enttäuschte“. Margot führte jahrelang ein Doppelleben. Doch Honecker war gegen seine Frau machtlos, auch politisch, da sie seit 1963 Ministerin für Volksbildung war. Ihre offiziellen Briefe an ihn, die Überschriften wie „werter Staatsratsvorsitzender, wie ich Ihnen schon wiederholt mitgeteilt habe, Sie aber offensichtlich nicht begriffen haben“ trugen, zeugen von einer „Hölle“ dieser Ehe. Trotz aller Krisen blieb das Paar unzertrennlich; er habe sie „sehr sehr geliebt“. Das gemeinsame Lebenswerk und die gemeinsame Tochter Sonja schweißten sie zusammen. Für Honecker waren Tochter und Enkelkinder (Roberto, geboren 1974, und Mariana) ein Ruhepol. Bei ihnen gab es „kein böses Wort“, er war „ganz Opa“ und freute sich, wenn sie Fahrradfahren lernten. Enkel Roberto wurden alle Wünsche erfüllt, sein Spielzeugzimmer war voller Spielzeug aus dem Westen.

Obwohl Honecker in der Politik auf Macht und notfalls Gewalt setzte, zeigte er sich selten menschlich. Die spätere Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld beschrieb ihren ersten Eindruck von ihm bei einem Besuch als „eine kleine graue, verhuschte Maus“ – ein Bild, das nicht zum „allmächtigen Diktator“ passte.

Der Niedergang: Starrsinn, Schicksalsschläge und das Ende einer Ära
Honeckers Haltung zur Gewalt zeigte sich 1980, als in Polen die Solidarność-Bewegung gegründet wurde. Er ließ Pläne für eine militärische Intervention ausarbeiten und probte 1981 mit sowjetischen Verbündeten den Ernstfall, bereit, bewaffnete Gewalt zur Sicherung seiner Macht einzusetzen.

Seine Fähigkeit, sich zu verstellen, wurde deutlich, als er 1981 Bundeskanzler Helmut Schmidt empfing: Je zurückhaltender und ärgerlicher Schmidt wurde, desto aufgekratzter zeigte sich Honecker, präsentierte Normalität und Nettigkeit. Er wusste sich zu verstellen und behielt seine wahren Gefühle für sich. Anerkennung durch das Westfernsehen war ihm besonders wichtig.

1987 schien er auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen zu sein, als er zu einem Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland von Bundeskanzler Kohl mit allen Ehren empfangen wurde. Er war aufgeregt wie „ein kleiner Junge“ und wollte eine gute Figur machen. Als er sein Elternhaus im saarländischen Wiebelskirchen besuchte, wurde der kühle Funktionär sentimental und für einen Moment leichtsinnig, als er sagte: „dann wird auch der Tag kommen, in dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern Grenzen uns vereinen“. Dieser Alleingang irritierte seine Genossen in Ost-Berlin und Moskau und markierte den Höhe- und Wendepunkt seiner Karriere.

Ab 1988 ging es abwärts. Im Januar 1988 traf ihn der Tod seiner zweijährigen Lieblingsenkelin Mariana, die an einer Virusinfektion, verstärkt durch Luftverschmutzung, erstickte. Dieser Schicksalsschlag erschütterte ihn tief; nie zuvor war ihm der Tod eines Menschen so nahegegangen. Er veränderte sich, wurde müde und starr, auch bedingt durch seine fortschreitende Arteriosklerose. Ende der 80er Jahre war er ein „vorzeitig gealterter Mann, dessen Welt zerbröckelte“.

Honecker verweigerte sich der Realität. Als Ungarn 1989 die Grenze zum Westen öffnete, sprach er von einer „grenzkosmetischen Maßnahme“. Wenige Monate später brach er mit Gallenkoliken zusammen und musste operiert werden. Während seiner Genesung, in einem informationsfreien Raum, bekam er wenig von den Massendemonstrationen im Land mit. Trotz der Wut der Straße dachte er nicht an Rücktritt, da dies seinem Selbstverständnis als KP-Chef eines kommunistischen Landes widersprach.

Am 17. Oktober 1989, nur wenige Tage nach der 40-Jahr-Feier der DDR, wurde er im Politbüro zum Rücktritt aufgefordert. Er wehrte sich, drohte auszupacken – womöglich spielte er auf den Roten Koffer an – doch gab schließlich auf. Chefverschwörer und Nachfolger war sein Kronprinz Egon Krenz. Honecker widerfuhr dasselbe Schicksal, das er einst Ulbricht angetan hatte – „der Fluch der bösen Tat“.

In seinen letzten Lebensjahren, todkrank an einem Nierentumor leidend, fand er in der Krise wieder zu Margot. Sie erhielten Asyl bei einem Pfarrer in Lobetal, Brandenburg. Selbst in dieser Zeit zeigte er bis zum Ende weder Reue noch Einsicht. Er resümierte stundenlang über seine Stellung als Staatschef der souveränen DDR, aber für die Toten an der Mauer, für die er angeklagt war, fand er kein Wort. Alte Gesinnungsfreunde wie PLO-Chef Jassir Arafat hielten noch zu ihm und unterstützten ihn finanziell. 1993 durfte er nach Chile ausreisen, wo er 1994 starb.

Bis zum Schluss hielt Honecker starrsinnig an seiner Sicht der Dinge fest. Er war ein „reiner Machttautomat“ mit wenig menschlicher Ausstrahlung, der sich in eine „Scheinwelt des erfolgreichen Sozialismus“ einspinnen ließ, die mit der Wirklichkeit im Lande immer weniger zu tun hatte. Diese Naivität befähigte ihn, aber er hatte auch eine „Hornhaut auf der Seele“. Er kam sich vor als „ein kleiner Weltführer des Proletariats“, doch handelte er nie im Sinne des Proletariats.

In Deutschland zurück blieb der rote Koffer mit Honeckers Akten, darunter zwei abgelehnte Gnadengesuche seines Vaters aus den Jahren 1939 und 1942, mit der Begründung, Honecker sei ein „unbelehrbarer Anhänger des Kommunismus“ – darauf war er zeitlebens stolz.

Schwerin 1990: Zwischen maroder Realität und dem Ruf nach „einem neuen Leben“

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Schwerin, 1990. Während vor 40 Jahren – also 1949 – noch Lieder der Freien Deutschen Jugend von einem „Aufbruch in ein neues Leben“ und dem Wunsch nach Einheit der Millionen erklangen, offenbart sich heute, nach der Grenzöffnung, eine ernüchternde Realität, die viele Bürger in tiefes Nachdenken und Erschütterung versetzt. Die Stadt, einst Schauplatz von Liedern über den Aufbruch, kämpft nun mit massiven Alltagsproblemen, die überhandgenommen haben und den Verdruss der Bürger stetig vergrößern.

Ein Atemzug voller Rauch und Asche: Umwelt und Infrastruktur am Limit
Offiziell mag es in Schwerin keinen Smog geben, wie der zuständige Stadtrat erklärt. Doch der tägliche Blick aus dem Hotelfenster während der Dreharbeiten zeichnet ein anderes Bild: Die Schweriner klagen häufig über schlechte Luft, eine drückende Atmosphäre und zu wenig Sauerstoff. Rauch, Auspuffgase, Kohlenstaub und Asche schlagen sich täglich in der Stadt nieder, besonders im Winter, und die Bewohner haben sich an diesen Schmutz gewöhnt.

Die Ursachen sind oft hausgemacht und in der maroden Infrastruktur verwurzelt. Ein Besuch auf dem Hof der Stadtwirtschaft enthüllt das Ausmaß des Verfalls: Müllfahrzeuge sind bis zu 17 Jahre alt und längst abgeschrieben, obwohl sie spätestens nach fünf Jahren ausgemustert werden müssten – aus verkehrstechnischen Gründen und zur Sicherheit. Ironisch bemerken die Arbeiter, sie hätten dieser alten Technik ein „zweites und drittes Leben eingehaucht“, weil „es die Partei so wollte“. Von sieben Müllfahrzeugen ist aktuell nur eines einsatzbereit. Der Grund? Defekte wie eine Kopfdichtung, für die ein Wagen bereits zwei Wochen in der Werkstatt steht, da Ersatzteile fehlen. Ein erst ein Jahr alter Wagen wartete wegen einer Kopfdichtung sogar drei Jahre auf Reparatur. Diese Zustände führen dazu, dass Müll nicht abgeholt werden kann und Bürger zunehmend schimpfen, woraufhin die Mitarbeiter nur vertrösten können. Auch bei der Arbeitskleidung hapert es: Produktionsarbeiter erhalten nur einmal im Jahr einen Anzug, der oft nur ein halbes Jahr hält; Winterhandschuhe gibt es im Sommer und umgekehrt.

Wohnungsnot und undurchsichtige Vergabe: Ein Kampf um die eigenen vier Wände
Die Wohnungssituation in Schwerin ist katastrophal. Während das SED-Wohnungsbauprogramm seit 1972 „sicher, trocken und warm“ als Devise ausgab und offiziell für jeden zweiten Schweriner erfüllt wurde, kämpfen unzählige Menschen weiterhin um eine angemessene Bleibe. Ein 22-Jähriger lebt mit seinem 25-jährigen Bruder und den Eltern in einem halben Zimmer, da es „aussichtslos“ ist, eine eigene Wohnung zu finden – man müsse angeblich mindestens 27 Jahre alt sein, um eine Chance zu haben.

Die Probleme sind vielschichtig: Neben einem absoluten Mangel an Wohnraum beklagen Bürger „Schiebereien“ und Vetternwirtschaft bei der Wohnungsvergabe. Es wird berichtet, dass ehemalige Arbeitskollegen innerhalb weniger Wochen Wohnungen erhielten, während andere jahrelang warten. Viele Wohnungen in Schwerin stehen leer, werden aber angeblich als „vergeben“ deklariert, obwohl sie unbewohnt bleiben. Eine Soldatin äußert ihre Frustration über die Inkompetenz der Verantwortlichen, die einfache Lösungen blockieren, obwohl mit nur einer frei gewordenen Wohnung (z.B. durch Ausreise) gleich drei Wohnungsprobleme gelöst werden könnten. Eigeninitiative ist oft der einzige Weg, doch auch hier stoßen Bauherren auf unüberwindbare Hindernisse: Es fehlen Nägel, Mauersteine, Dachziegel, Zement und vor allem Holz. Beziehungen über Bekannte sind entscheidend, um überhaupt Fortschritte zu erzielen. Der Staat stellt zwar großzügig Geld für Material und Arbeitszeit zur Verfügung, doch wenn die Materialien nicht lieferbar sind, hilft das wenig. Städtische Bauprojekte sind oft von langen Verzögerungen betroffen, da zum Beispiel Dachziegel wochenlang auf dem Bürgersteig lagern, weil das Holz für den Dachstuhl fehlt. Die Planwirtschaft der DDR konzentrierte sich auf Neubauten, während die Renovierung alter Bausubstanz als „zu teuer, zu aufwendig und langwierig“ galt.

Gesundheitswesen in Not: Unvollendete Bauten und fehlende Grundversorgung
Auch das Gesundheitswesen ist schwer angeschlagen. Versprechungen, die in anderen Bereichen nur zu Vertröstungen führten, bedeuten hier für Patienten monate- bis jahrelange Wartezeiten bei notwendigen Operationen. In der Klinik für Orthopädie wird seit Jahren an einem neuen Operationstrakt gebaut, doch seit zwei Jahren fehlen drei Fenster, die eigentlich geliefert werden sollten. Ein Handwerker, der seit 28 Jahren in der Klinik arbeitet, berichtet von extremen Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Medikamenten, selbst gewöhnliche Präparate sind oft nicht erhältlich.

Auf einer weiteren Baustelle im Krankenhaus, die seit sechs Jahren ruht und ein „gut gehütetes Geheimnis“ war, sollten Patientenzimmer entstehen, die bis heute dringend benötigt werden. Die Zustände sind teils prekär: Patienten müssen für Röntgenaufnahmen oder Spezialuntersuchungen bei Wind und Wetter über das freie Gelände transportiert werden, da seit 21 Jahren ein dringend benötigter Fahrstuhl fehlt. Es mangelt an grundlegenden Dingen wie Tellern, Töpfen und Warmhaltegeschirr. Der Personalmangel zwingt dazu, ungelernte Hilfskräfte aus der Armee einzusetzen.

Die „Gängelei“ der Planwirtschaft und eine neue Transparenz
Die tiefgreifenden Probleme der Stadt spiegeln die Dysfunktion der zentralen Planwirtschaft wider. Waren des täglichen Bedarfs, wie frischer Käse aus Holland, kommen unangekündigt an und stehen stunden- oder tagelang im Regen, da Lagerräume fehlen oder überfüllt sind. Der Transportweg von Lebensmitteln ist absurd: Der Käse wird zunächst in ein Außenlager transportiert, dann wird entschieden, welcher Laden wie viel Käse erhält, und erst dann kommt er zurück zur Einlagerung und schließlich in die Geschäfte. Produkte, die kaum nachgefragt werden, wie bestimmte Spirituosen und Süßigkeiten, werden weiterhin in unverminderter Menge produziert, da es kaum Bedarfsforschung gibt.

Ein Lagerleiter beklagt seit Jahren Desorganisation, Fehlplanungen und mangelnde Sauberkeit und Hygiene. Vorschläge zur Verbesserung werden aus „Kapazitätsgründen“ abgelehnt. Er berichtet, dass das Gesundheitsamt unregelmäßig kontrolliert und dass neu eingestellte Mitarbeiter oft keinen Gesundheitspass vorlegen müssen. Der Fachdirektor für Warenbewegung bezeichnet die Lebens- und Arbeitsbedingungen für seine Mitarbeiter als „katastrophal“. Er hofft auf Veränderungen, aber nur, wenn Betriebe eigenverantwortlich wirtschaften und von jeder „Gängelei“ abgehalten werden. Die starren Pläne und Verträge der Planwirtschaft hätten zu dieser Situation geführt; das Wort „Gängelei“ sei neu im Sprachgebrauch, aber die Realität habe gezeigt, wohin es führt.

Die Medien, die jahrelang „nur die guten Seiten dieser Gesellschaft“ zeigten und sich hinter einer Medienpolitik versteckten, die das Positive hervorhob, sehen sich nun einer Flut von Problemen gegenüber. Nachrichten, die früher unterdrückt wurden, wie die der Behindertenbewegung, kommen jetzt ans Licht. Journalisten, die die Schere zwischen Realität und Darstellung wahrnahmen, beginnen nun, die Dinge „mit anderen Augen zu sehen“, was eine „Erschütterung“ auslöst.

Die Schweriner sind geplagt von „Versprechungen, Versprechungen, immer nur Versprechungen“, die zu nichts führten. Viele Menschen, wie ein Busfahrer, der 30 Jahre in Schwerin gelebt hat, ziehen nun die Konsequenzen und verlassen die Stadt für Arbeit und Wohnraum in Westdeutschland, etwa in Kassel oder Lübeck. Doch inmitten dieser schwierigen Realität bleibt die Hoffnung bestehen, die man „nicht aufgeben darf“. Das Leben muss anders werden – ohne Hunger, ohne das, was diese Zeit prägt. Es kommt auf jeden Einzelnen an, um in ein neues Leben aufzubrechen.

Geheime Atomwaffen in der DDR: Die verborgene Bedrohung

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Jahrelang wurde angenommen, dass die Stationierung sowjetischer Atomraketen außerhalb der UdSSR erstmals 1962 in Kuba stattfand. Neue Erkenntnisse aus russischen Archiven und jahrelange Forschung enthüllen jedoch eine weitaus frühere und diskretere Realität: Bereits 1959 wurden atomare Mittelstreckenraketen tief in den brandenburgischen Wäldern der DDR stationiert. Es lagerten weitaus mehr Atomwaffen in der ehemaligen DDR, und ihre Stationierung begann viel früher als bisher bekannt.

Ein streng gehütetes Geheimnis
Die Atomwaffen – darunter Raketen, Bomben und Granaten – wurden in speziell gesicherten Bunkern gelagert und streng von Sondereinheiten des sowjetischen KGB bewacht. Alle in der DDR gelagerten Kernwaffen unterstanden dem Kommando der damals hier stationierten sowjetischen Streitkräfte, einer hochmodern ausgerüsteten Elite-Streitmacht, die darauf trainiert war, im Ernstfall den ersten Schlagabtausch mit den NATO-Truppen in Europa zu führen. Für die sowjetischen Militärs waren Atomwaffen die Garantie, diesen Schlagabtausch zu gewinnen.

Die ersten alarmierenden Nachrichten erreichten den Bundesnachrichtendienst (BND) in West-Berlin bereits im Winter 1958. Agenten berichteten von verdächtigen Bewegungen in den brandenburgischen Wäldern nahe Fürstenberg, wo sowjetische Militärs unter strengster Bewachung große Teile von Eisenbahnzügen auf Sattelschlepper verladen haben sollen, darunter „Bombenröhren und raketenartige Teile“. Doch die Nachrichten waren diffus, die Spione konnten nicht nah genug herankommen, und so wurden den „teilweise vagen Berichten“ zunächst keine weitere Beachtung geschenkt – ein Fehler, wie sich später herausstellte.

Vogelsang und Fürstenberg: Das Herz der Geheimoperation
Zwischen Fürstenberg und Templin vollzog sich ab Ende 1958 eine der geheimsten und spektakulärsten Militäraktionen der Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg. Spezialeinheiten stationierten die ersten Mittelstreckenraketen außerhalb der UdSSR. In tief in den Wäldern verborgenen Startrampen wäre man in der Lage gewesen, atomare Sprengköpfe bis nach Paris oder London zu schießen.

Historiker Matthias Uhl stieß in sowjetischen Archiven auf erste Spuren des „Fürstenwalder Kues“, was durch Zeitzeugen und interne Veröffentlichungen in russischer Fachliteratur bestätigt wurde. Auch der amerikanische Spezialist für sowjetische Raketen und Atomwaffen, Charles P. Vick, beobachtete die militärischen Vorgänge in der DDR sehr genau. Doch 1959 hatten die Geheimdienste geringere Möglichkeiten, herauszufinden, was in Ostdeutschland vor sich ging; es gab nur Gerüchte und Anzeichen. Erst 1980, 20 Jahre nach den Ereignissen, wurde die tatsächliche Stationierung strategischer Raketen in Vogelsang und Fürstenberg erkannt.

Die Vorbereitungen für die Stationierung begannen bereits Anfang der 1950er Jahre. In Vogelsang und Fürstenberg wurden Kasernen und Bunker für die Raketen, mobilen Abschussrampen und Sprengköpfe errichtet. Die geheime Verlegung der 72. sowjetischen Ingenieur-Brigade in die DDR begann 1958. Die Transporte erfolgten aus Geheimhaltungsgründen ausschließlich nachts per Bahn über Frankfurt (Oder) nach Fürstenberg. Die Atomsprengköpfe trafen Ende April 1959 in der DDR ein. Im Mai 1959 meldete der Chef der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland die Einsatzbereitschaft der Raketen an Chruschtschow persönlich.

Die tödliche Last der R-5 Raketen
Bei den stationierten Raketen handelte es sich um den Typ R-5, im Westen auch als SS-3 „Halunke“ bekannt. Die R-5 war das Modernste, was die Sowjetunion Ende der 1950er Jahre zu bieten hatte: 20 Meter lang, 26 Tonnen Startgewicht, mit einem 1,5 Tonnen schweren Atomsprengkopf, dessen Sprengkraft 20 Hiroshima-Bomben entsprach. Sie konnte ihre tödliche Last über 1200 Kilometer weit tragen. Zwölf dieser Raketen standen 1959 in Vogelsang und Fürstenberg zum Abschuss bereit.

Die stete Einsatzbereitschaft der Raketen, die innerhalb von zwei Stunden gegen Ziele in England gestartet werden konnten, brachte erhebliche Nachschubprobleme mit sich und erforderte ständiges Anzapfen der knappen DDR-Ressourcen. Die DDR-Militärs, einschließlich des damaligen Chefs der Luftstreitkräfte, Heinz Keßler, wussten nichts von dieser Operation. Die Sowjetunion betrachtete die DDR als „sowjetisches Territorium“ und sah keine Notwendigkeit, die Regierung über militärische Maßnahmen zu informieren.

Strategisches Wettrüsten und die Rolle der Geheimdienste
Die Stationierung der sowjetischen Mittelstreckenraketen war eine direkte Reaktion auf die amerikanischen Thor-Raketen mit Atomsprengköpfen, die auf Abschussbasen in Großbritannien stationiert waren. Die Sowjets reagierten sehr sensibel auf jedes westliche System, das ihr Kernland angreifen konnte. Zu dieser Zeit hatten die USA eine hoch entwickelte Nuklearwaffentechnik und strategische Überlegenheit.

Westliche Geheimdienste hatten nur vage Informationen, die sie durch Satellitenbilder, Luftaufnahmen (insbesondere von der U2), Berichte von Überläufern und Aufklärungseinsätzen sammelten. Die Satellitenfotografie ermöglichte es, Vergleiche zwischen verschiedenen Standorten anzustellen und Zusammenhänge zu erkennen. Die Sowjets ahnten nicht, dass die USA innerhalb weniger Jahre die Fähigkeit besaßen, ihr gesamtes Territorium zu scannen und ihre Geheimnisse zu enttarnen.

Der mysteriöse Abzug und eine mögliche Austausch-Theorie
Im Herbst 1959 nahmen die Ereignisse in Vogelsang und Fürstenberg eine überraschende Wende: Innerhalb weniger Wochen wurden Raketen und Sprengköpfe abgezogen. Ein möglicher Grund hierfür war das erfolgreiche Treffen zwischen Chruschtschow und Eisenhower in Camp David im September 1959, bei dem sich die Sowjets entschieden haben könnten, die gefährlichen Waffen einseitig zurückzuziehen, um eine Krise wie später in Kuba zu vermeiden. Auch die Märkischen BND-Beobachter meldeten eine Lockerung der strengen Abschirmung der sowjetischen Kaserne in Vogelsang.

Es gibt jedoch begründete Zweifel an dieser Sichtweise. Eine mögliche dritte Version der Stationierungsgeschichte besagt, dass es 1959 keinen Abzug, sondern lediglich einen Austausch der Raketen gab. Indizien dafür sind der Bau eines zweiten, mit dem ersten völlig identischen Bunkers in Vogelsang, der 1964 errichtet und 1965 fertiggestellt wurde, sowie Veränderungen an den Abschusspunkten. Diese Annahme ist eine „typische Geheimdienstvermutung“, die nicht von russischen Quellen bestätigt wurde. Zeitzeugen und Militärs schweigen bis heute zu diesen Vorgängen.

Atomare Lagerstätten auch für Bomben
Neben den Raketen wurden auch Atomsprengköpfe für Granaten in gesicherten Bunkern gelagert. Die Stationierung von Atomwaffen in der DDR war jedoch nur der Anfang einer „verhängnisvollen militärischen Zuspitzung“. Es gab insgesamt 15 weitere Atombombenlager auf sowjetischen Militärflughäfen in der DDR.

Ein Beispiel ist Eberswalde, bis 1994 ein Flugplatz der 16. Luftarmee der sowjetischen Streitkräfte. In den 1950er Jahren war Eberswalde Standort eines Frontbomberregiments, zu dessen taktischen Aufgaben auch der Einsatz von Atombomben gehörte. Diese wurden in einem unscheinbaren Bauwerk, von den Sowjets „Granit 1“ genannt, gelagert.

Ein weiteres Beispiel ist Groß Dölln bei Templin, wo das 20. Jagdbomber-Fliegerregiment stationiert war. Die Piloten dieser Jets wussten nicht, dass ihre Maschinen im Ernstfall mit Atombomben bestückt werden sollten, die in einem hochsicheren Bunker nahe der Rollbahn gelagert wurden. Dieser 33 Meter lange Bau aus Stahlbeton war perfekt ausgestattet mit Klimaanlage, Belüftung und Krananlagen. Bereiche um den Bunker waren selbst für Kampfflieger erster Klasse „absolut verboten“.

Die Spuren dieser makabren Orte sind noch heute zu sehen.

Theater Ost: Eine Stimme für die Ostgeschichte und alternative Perspektiven in Berlin

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Berlin – Im Herzen von Berlin, genauer gesagt in Treptow-Köpenick, befindet sich das Theater Ost, eine Kultureinrichtung, die sich der Bewahrung und Erzählung der DDR-Geschichte verschrieben hat und gleichzeitig eine Plattform für gesellschaftlich ausgegrenzte Stimmen bietet. Das Theater, das in einem Gebäude untergebracht ist, das einst das Studio der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ des Deutschen Fernsehfunks beherbergte, blickt auf eine reiche Historie zurück.

Ein Ort voller Geschichte und Erinnerung Das Gebäude wurde am 21. Dezember 1952 als Fernsehtheater eröffnet und ab 1957 als Fernsehstudio genutzt, bis zur Schließung des Deutschen Fernsehfunks. Obwohl es noch nicht saniert wurde, erinnert vieles an seine frühere Nutzung. Der eigentliche Theatersaal, der später auch das Studio der „Aktuellen Kamera“ war, wurde zu Ehren von Klaus Feldmann, dem „charmantesten und klügsten Nachrichtensprecher“ der DDR, in Klaus Feldmann Saal umbenannt. Feldmann hatte diesen großen Saal, eine von drei Bühnen des Hauses, einst mit einer Lesung aus seinen Büchern eröffnet.

Freiheit durch Unabhängigkeit: Ein mutiges Finanzierungsmodell Ein herausragendes Merkmal des Theaters Ost ist sein fast vollständiger Verzicht auf staatliche Subventionen. Obwohl es eine kleine kommunale Unterstützung erhält, muss sich das Theater mit seinen drei Bühnen und einer zusätzlichen Außenbühne im Sommer (1000 m² Fläche) hauptsächlich auf Eintrittsgelder und Spenden verlassen, um die wirtschaftliche Seite zu stemmen. Dieser Ansatz führt zu vergleichsweise höheren Eintrittspreisen, etwa 28 Euro für eine Karte zum „Polizsalon“, aber er ermöglicht dem Theater auch eine „gewisse Freiheit in der Auswahl der Themen“. Wie die Interviewpartnerin betont: „Wenn es dem Besucher denn tatsächlich wichtig ist, auch alternative Inhalte und Darstellungen erleben zu wollen, dann muss er leider in die Tasche greifen, aber immer mit dem Blick darauf, dass er das Haus unterstützt und damit eben auch dazu beiträgt, dass das Haus weiter besteht und dass auch vor allem unsere Geschichte weiter erzählt wird“. Ein Teil des Kollegiums arbeitet sogar ehrenamtlich, da es finanziell anders nicht darstellbar wäre.

Kooperation mit Telepolis: Der „Polizsalon“ als Forum für alternative Diskurse Das Theater Ost ist eine Kooperation mit dem Online-Magazin Telepolis eingegangen, um den „Polizsalon“ ins Leben zu rufen. Diese Zusammenarbeit entstand, weil die Interviewpartnerin selbst eine Konsumentin von Telepolis ist und beide Partner das Ziel teilen, „denjenigen bei uns im Haus in unserem Programm eine Stimme geben die ja so gesellschaftlich (…) ausgegrenzt werden“. Telepolis wird dabei als „Alternativmedium“ und „Gegengewicht zu den Mainstream Medien“ beschrieben.

Ein Beispiel für diese Unabhängigkeit und Themenfreiheit war der erste „Polizsalon“ Ende April, der dem „Tag der Befreiung“ gewidmet war und bei dem der russische Botschafter Neshijev einer der Podiumsgäste war. Trotz der Empfehlung des Auswärtigen Amtes, keine offiziellen russischen Vertreter zu solchen Gedenkveranstaltungen einzuladen, öffnete das Theater Ost seine Türen. Das Interesse war enorm: Die Veranstaltung war vier Stunden nach der Online-Stellung komplett ausverkauft, was das Theater als Bestätigung für seinen Kurs sieht, Meinungen und Gedanken eine Bühne zu geben, die man in Mainstream-Medien kaum noch findet. Auch das Bezirksamt Treptow-Köpenick zeigte sich mutig und verkündete, bei solchen Veranstaltungen niemanden wegzuschicken, was dem Theater ein Gefühl der Bestätigung gab. Es gab weder Störungen noch einen „Shitstorm“ im Nachhinein.

Vielfältiger Spielplan und spannende Zukunftsaussichten Das Theater Ost bietet einen vielseitigen Spielplan: Etwa 70% der Inhalte konzentrieren sich auf die DDR-Geschichte, während die restlichen 30% „links und rechts daneben“ andere Branchen und Inhalte beleuchten.

In der kommenden Spielzeit und darüber hinaus dürfen sich die Besucher auf ein abwechslungsreiches Programm freuen. Es wird neue „Polizsalon“-Runden geben, und Themen wie China sollen aufgegriffen werden. Gabriele Krone-Schmalz wird erneut für zwei ausverkaufte Abende erwartet. Auch eigene Produktionen wie die Brecht-Inszenierung werden wieder gezeigt. Musikalisch gibt es Highlights wie ein Konzert der bekannten DDR-Band „Lift“ in voller Besetzung. Für die nahe Zukunft ist zudem eine große satirische Puppenspielinszenierung mit der in Berlin sehr bekannten Puppenspielerin Suse Wächter und dem bekannten Moderator Jürgen Kuttner geplant, die bereits Inszenierungen am Berliner Ensemble und Deutschen Theater hatte.

Das Theater Ost, das Ende des Jahres zehn Jahre alt wird, blickt voller Vorfreude auf die kommenden Projekte und seine Mission, Geschichten zu erzählen und alternativen Stimmen Raum zu geben.

Der Hüter des Bahnhofs und sein Mammutprojekt

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Der Dresdner Hauptbahnhof ist seit über 125 Jahren ein Ort voller Leben, Geschichten und tiefgreifender Veränderungen. Er ist nicht nur ein zentraler Verkehrsknotenpunkt, sondern auch ein Spiegelbild der deutschen Geschichte und der persönlichen Schicksale unzähliger Menschen.

Heiko Klaffenbach ist seit 20 Jahren Chef des Bahnhofsmanagements in Dresden. Für ihn ist der Hauptbahnhof mehr als nur ein Arbeitsplatz; er empfindet ein Gefühl von Freiheit und sogar Heimat, wenn er auf dem Dach steht. Er pendelt täglich aus dem Erzgebirge nach Dresden und sieht den Bahnhof inzwischen als Teil seiner Heimat an.

Klaffenbach verantwortet aktuell die wohl außergewöhnlichste Baustelle Deutschlands: die Erneuerung der gesamten Dachhaut auf einer Fläche von 33.000 Quadratmetern. Dieses ehrgeizige Projekt kostet 44 Millionen Euro. Dabei muss aus der Vergangenheit gelernt werden, um Schäden wie die Zerstörung der ursprünglichen Trichter durch starken Winter zu vermeiden. Das neue Membrandach aus Glasfaser, ursprünglich als Sensation für die Ewigkeit konzipiert, wurde nun mit Skylights ausgestattet, die die Trichter schließen und in denen Glasscheiben eingebracht werden. Das neue Konstrukt wiegt 7 Tonnen und kann zusätzlich 33 Tonnen Last aufnehmen. Es ist zudem energiewirtschaftlich vorteilhaft mit einer Transluzenz von 13%, was den Stromverbrauch minimiert.

Eine der größten Herausforderungen ist es, den regulären Zugbetrieb trotz der umfangreichen Dachsanierung aufrechtzuerhalten. Der Bahnhof steht seit 1978 unter Denkmalschutz. Alte Bauwerke von 1898 mit Nietverbindungen werden saniert, wobei bei Bedarf Verstärkungselemente mit Passschrauben eingefügt werden, um eine Symbiose zwischen Alt und Neu zu schaffen.

Heimat, Ankunft und Verlust: Geschichten am Drehkreuz
Der Dresdner Hauptbahnhof ist die Visitenkarte der Stadt und das Eingangstor für Reisende. Er ist ein Ort des Ankommens, aber auch des Abfahrens. Seit mehr als 125 Jahren finden Menschen hier ihre Heimat oder sind gezwungen, sie zu verlassen.

Die Geschichte der jüdischen Familie von Henny Wolf, 1924 in Dresden geboren, ist eng mit dem Bahnhof verbunden. Ihre Vorfahren flohen Ende des 19. Jahrhunderts vor Pogromen aus Russland und kamen in Dresden an, wo sie sich sicher fühlten und eine neue Heimat fanden. Henny Wolf selbst bezeichnete Dresden immer als ihre Heimat, auch wenn sie „Flecken“ hatte und schwierig geworden war.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Begriff der Heimat neu definiert, und die Gestapo-Zentrale zog 1937 direkt neben den Eingang des Hauptbahnhofs, um die Ausgrenzung und Deportation der jüdischen Bevölkerung zu organisieren. Henny Wolfs Vater wurde von der Gestapo bedrängt, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, was er ablehnte. Die Deportationen der Dresdner Juden begannen im Juli 1942. Ironischerweise rettete der Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 Henny Wolfs Familie vor der Deportation, da das entstandene Chaos dies verhinderte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Heimatfrage geklärt, doch Anfang der 1950er Jahre begann in der DDR erneut eine antisemitische Kampagne. Dies führte dazu, dass Henny Wolf und ihre Familie 1952 nach West-Berlin flohen und dabei erneut alles verloren. Den Dresdner Hauptbahnhof und ihre Heimat sollten sie jahrzehntelang nicht mehr wiedersehen.

Für andere ist Dresden jedoch eine feste Heimat geblieben. Beate Schmidt, Servicekoordinatorin am Bahnhof, kennt diesen von klein auf, da ihr Vater Lokführer war. Sie ist in Dresden geboren und hat ihrer Heimatstadt unverbrüchliche Treue gehalten. Auch Elisabeth Schüssler, Reinigungskraft am Bahnhof, blieb Dresden treu. Ihre eigene Familiengeschichte ist ebenfalls von den Schatten des Nationalsozialismus betroffen: Ihr Großvater war Nazigegner und wurde sieben Jahre im KZ Buchenwald inhaftiert, was sie als Kind tief prägte.

Der Bahnhof im Alltag: Helden des Service und historische Wendepunkte
Der Betrieb eines so großen Verkehrsknotenpunkts erfordert unermüdlichen Einsatz. Beate Schmidt ist seit 2001 am Dresdner Hauptbahnhof tätig und hat dort alles erlebt – von Randale über Naturkatastrophen bis hin zu Flüchtlingsströmen. Sie stellt fest, dass der Umgangston rauer geworden ist.

Elisabeth Schüssler und ihre Kollegen sorgen rund um die Uhr für Sauberkeit. Eine ihrer größten Herausforderungen ist die Beseitigung von Taubenkot, der 10% aller Reinigungsarbeiten ausmacht und gesundheitsschädlich sein kann.

Der Bahnhof hat auch Naturkatastrophen überstanden. Bei der Flut 2002 war der Hauptbahnhof komplett geflutet. Der damalige Manager, Joachim Teubert, konzentrierte sich darauf, alle Zugänge zu sperren und die Reisenden in Sicherheit zu bringen. Obwohl ein großer Gebäudeschaden entstand, kam kein Mensch tödlich zu Schaden.

Der Hauptbahnhof war auch ein zentraler Schauplatz der Wendezeit. In der DDR waren die Lebenshaltungskosten für Bürger durch enorme staatliche Preisstützungen niedrig gehalten. So kostete ein Kilogramm Mischbrot 70 Pfennig und die monatliche Miete betrug nur 9 Mark 45, da der Staat große Differenzen zuschoss. Matthias Wegner, ein Koch, war Teil des „Touristenexpress“ (Tourex), einem Prestigeprojekt der DDR, der Urlauber bis ans Schwarze Meer beförderte. Doch im Sommer 1989 erlebte er, wie Gäste einfach an den Betriebshalten ausstiegen und „weg waren“, als die ungarische Grenze zu Österreich geöffnet wurde.

Im Herbst 1989 wurde der Dresdner Hauptbahnhof zum Nadelöhr und historischen Kipp-Punkt. Tausende DDR-Bürger, darunter auch Mario Wolf, flüchteten über Prag und wurden mit Sonderzügen, die über die DDR ausreisen mussten, nach Hof gebracht. Am 4. Oktober 1989 befanden sich laut Akten des Ministeriums für Staatssicherheit bis zu 20.000 Menschen auf dem Gelände des Hauptbahnhofs. Es entwickelte sich eine Spaltung zwischen denen, die riefen „Wir wollen raus!“, und einer großen Gruppe, die entgegnete „Wir bleiben hier!“.

Ein lebendiges Denkmal
Der Dresdner Hauptbahnhof bleibt ein Ort ständiger Herausforderungen und Innovationen. Er ist nicht nur ein Bauwerk von historischer Bedeutung, das Denkmalschutz und Moderne vereint, sondern auch ein lebendiges Zentrum, das die Geschichten von Ankommen, Abschied, Heimat und Wandel in sich trägt. Für Heiko Klaffenbach ist er sogar wie ein „drittes Kind“, ein Projekt, das ihm Freude bereitet und das er mit Leidenschaft führt.

Bleicherode: Eine Stadt im Herzen des Harzvorlandes

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Bleicherode, eine charmante Kleinstadt in Nordthüringen, blickt auf eine beeindruckende 850-jährige Geschichte zurück und präsentiert sich heute als lebendiger Ort mit starkem Gemeinschaftsgeist und einem klaren Blick in die Zukunft. Eingebettet in die sanfte Landschaft des südlichen Vorharzes, bewahrt Bleicherode trotz wechselhafter Zeiten, geprägt von Kriegen, Seuchen und Feuersbrünsten, stets seinen Mut und sein einzigartiges Gesicht.

Historisches Erbe und technischer Pioniergeist
Die Stadt, traditionell dem Harz näher als dem Brocken verbunden, verdankte ihren einstigen Reichtum dem Kalibergbau, der fast ein Jahrhundert lang Kali-Salz unter der Erde förderte, beginnend um 1890. Neben der Textilindustrie, die hier bereits seit der Zeit Friedrichs des Großen florierte, prägte der Bergbau das Schicksal der Menschen. Die Zeugnisse dieser Ära sind noch heute in den Kalihalden sichtbar – einst ein „Berg von Arbeit“, der nun mit großem Aufwand und wissenschaftlicher Begleitung begrünt wird, um die Wunde in der Landschaft zu schließen und die Natur wieder aufleben zu lassen.

Bleicherode ist auch eng mit bedeutenden Persönlichkeiten verbunden. So wurde hier August Heinrich Petermann geboren, ein berühmter Geograph und Reformator der Kartografie, dessen Name heute Berge, Seen, Fjorde und Krater weltweit, sogar auf dem Mond, ziert. Ein weiteres wichtiges Kapitel der Stadtgeschichte schrieb Werner von Braun, der geniale Pionier der Raumfahrt. Im letzten Kriegsjahr lebte er in Bleicherode, und nach dem Krieg, von 1945 bis 1947, entstand im Rabe Institut für Raketenbau und Entwicklung – einst eine Bergbauinspektion, dann Forschungsstätte – die Grundlage für Raketentechnik. Hier wurden gemeinsam mit sowjetischen Forschern Antriebe und Steueraggregate entwickelt, die den Weg für die ersten Flüge ins Weltall ebneten und aus denen später die amerikanischen Mondraketen hervorgingen. Die Antriebe wurden sogar in einer Salzhalle gebaut.

Die lange Geschichte der Stadt ist auch in ihrem Rathaus zu finden, das seit 450 Jahren das Zentrum der Bleicheröder Welt bildet und früher auch als Kreisgericht diente. Eine besondere Anekdote ist der Spottname der Bleicheröder: „Schneckenhengst“. Dieser entstand in der Not des Dreißigjährigen Krieges, als die Einwohner Weinbergschnecken züchteten. Einem Händler, der sie nach Leipzig bringen wollte, liefen die von der Frühlingssonne geweckten Schnecken davon, was ihm und später der ganzen Stadt diesen Spitznamen einbrachte. Doch Bleicherode kann damit leben, denn „in Bleicherode lebt es sich gut“.

Eine Gemeinschaft, die zusammenhält und feiert
Der Zusammenhalt der Bleicheröder ist bemerkenswert. In der Stadt wird der Gemeinschaftsgeist großgeschrieben, sei es beim Hexenfahrrad oder in den Alltagsangelegenheiten. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der überdurchschnittlich hohen Anzahl von Vereinen: „58 Vereine, so vielen wie sonst in keiner anderen Stadt in Deutschland“, was sogar das Fernsehen nach Bleicherode lockte. Von der Freiwilligen Feuerwehr über Jagd- und Bläsergruppen, Pilzfreunde, Schützenvereine mit 250-jähriger Tradition, Wandervereine, Musikgruppen, Kontakte der Vertriebenen (der mitgliederstärkste Verein), bis hin zu Frauenbunden, Anglervereinen und dem Bleicheröder Karnevalsclub, der seit 40 Jahren für Stimmung sorgt. „Feste feiern in Bleicherode heißt nicht nur zuschauen, sondern mitmachen – jeder mit dem, was er am besten kann“. Alte Traditionen wie das jährliche Bergmannsfest oder die einstigen Besuche der Kaiserfamilie leben in den heutigen Festen fort.

Wiederaufbau und Erholung
Nach dem Auslaufen des Kalibergbaus hat sich Bleicherode mit großem Engagement dem Wiederaufbau und der Neugestaltung verschrieben. Ähnlich wie Nehemia, der den Wiederaufbau der Stadtmauer vorantrieb, um Schutz zu bieten und Wirtschaft und Kultur aufblühen zu lassen, legt Bleicherode Wert darauf, eine wohnliche Heimatstadt zu bleiben. Dies zeigt sich in:

• Der Sanierung alter Ackerbürgerhäuser und Fachwerkhäuser, die das Gesicht der Stadt prägen.
• Einem völlig neuen Gewerbegebiet am Stadtrand, das neue Arbeitsplätze schafft.
• Einer neuen Wohnsiedlung im Nordwesten, die die Tradition der Villensiedlung vom Anfang des Jahrhunderts aufgreift.
• Dem modernisierten Bleicheröder Krankenhaus, das heute einen internationalen Ruf genießt.
• Dem völlig erneuerten Bleicheröder Schwimmbad mit Freibad, das sich zu einem Treffpunkt für 7.000 Einwohner und Urlaubsgäste entwickelt hat und als großer Schritt zur Wiederbelebung des Erholungsortes gilt – mit gutem Ruf, wie vor dem Krieg. Hier wurde „Neptun in eine Gegend geholt, in der es eigentlich keine Seen, keine natürlichen Bademöglichkeiten gibt“.

Natur und Tourismus
Die Umgebung Bleicherodes bietet Erholung pur. Die Bleicheröder Berge umfassen den größten Rotbuchenhain Europas, einen Ort der Ruhe für Mensch und Natur. Klare Quellen und Bäche, besonders im Bleichtal, sowie Wiesenblumen auf Lichtungen laden zum Verweilen ein. Auch die umliegenden Gemeinden wie Westhang, Kehmstedt, Kraja, Kleinbodungen, Etzelsrode, Friedrichstal, Ascherode und Gebra sind ideale Ziele für Entdeckungsfreudige. Die Villenkolonie im oberen Bleichbachtal, Anfang des Jahrhunderts mit billigem Bauland ins Leben gerufen, wurde für ein zweites Leben saniert.

Bleicherode ist eine Stadt, in der man „ankommen und gemeinsam eine Zukunft aufbauen will, weil es sich hier lohnt“. Wie der Heimatdichter Bäckermeister Daniel einst schrieb: „Der Frühling und die Jugend sind innig verwandt, sie kommen und gehen getreu Hand in Hand… doch glücklich wär trotzdem mit alterndem Haupt, aufs neu an den Frühling, den kommenden glaubt“. Bleicherode – eine Stadt, die nach jeder Frost- und Krisenzeit wieder aufgeblüht ist und ihre Besucher herzlich willkommen heißt.