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SVT18.16 Görlitz – Der elegante Star kehrt zurück

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Ein historisches Meisterwerk deutscher Eisenbahngeschichte, der VT 18.16, auch bekannt als SVT18.16 Görlitz, steht kurz vor seiner Rückkehr auf die Gleise. Nach einer jahrelangen Ruhephase und einer aufwendigen Restaurierung, die bereits 7 Millionen Euro gekostet hat, soll der einst so elegante Triebwagen schon bald wieder über die Schienen flitzen. Die ersten Probefahrten sind für August am Harz Nordrand zwischen Öburg und Aschersleben geplant.

Der VT 18.16 war einst der Star der Deutschen Reichsbahn. Vom Waggonbau Görlitz entwickelt, wurde der Prototyp 1963 auf der Frühjahrsmesse in Leipzig vorgestellt. Der Zug wurde speziell für den internationalen Verkehr konzipiert und verkehrte auf Strecken nach Skandinavien, Österreich und ins heutige Tschechien. Seine Bezeichnung SVT steht für Schnellverbrennungstriebwagen, da er dieselhydraulisch betrieben wurde – praktisch angesichts der nicht durchgängigen Elektrifizierung und unterschiedlichen Systeme. Die Zahlen 18 und 16 in seinem Namen weisen darauf hin, dass beide Triebfahrzeuge zusammen 1800 PS leisteten und der Zug bis zu 160 km/h schnell fahren konnte. Zwischen 1965 und 1968 wurden sieben weitere Triebzüge gebaut. Der letzte SVT wurde im Jahr 2003 ausgemustert. Der hier restaurierte Zug stammt übrigens aus dem Bestand des DB Museums in Nürnberg.

Die Wiederbelebung dieses „Stars“ ist ein Mammutprojekt, das von unermüdlichem Einsatz und Leidenschaft getragen wird. Im Führerstand bereitet sich Michael Brandes darauf vor, den 1000 PS Motor des Triebwagens zu starten, ein Moment voller Anspannung und Aufregung. Ein Teil des Zuges kann bereits aus eigener Motorkraft rollen, während an anderen Segmenten noch fleißig gearbeitet wird. Der Zug ist derzeit vierteilig, wobei ein weiterer Wagen in der Werkshalle entdeckt wurde und der letzte Teil noch versteckt ist.

Herzblut und Handarbeit: Die unsichtbaren Helden der Restaurierung
Die Restaurierung des SVT18.16 Görlitz, die von der 2018 gegründeten SVT Görlitz GmbH initiiert wurde, die den Zug 2019 zunächst witterungsgeschützt nach Dresden überführte, ist vor allem das Werk zahlreicher engagierter Eisenbahnfans. Diese Freiwilligen stecken ihre Freizeit und ihr Herzblut in das Projekt. Viele Arbeiten wären schlichtweg unbezahlbar, wäre da nicht der unermüdliche Einsatz dieser Menschen.

Zu den umfangreichen Aufgaben gehören:

• Der Einbau neuer Druckluftschläuche für die Bremsanlage, da die alten Schläuche nicht mehr verwendet werden konnten. Dies ermöglicht in Kürze die Durchführung erster Bremsversuche.

• Die komplette Aufarbeitung sämtlicher Fenster des Zuges, eine Aufgabe, die von einem einzelnen Restaurator mit großer Hingabe bewältigt wurde. Für ihn ist der Zug eine lebenslange Begleitung; er sah ihn bereits als 12-jähriges Kind regelmäßig zwischen Berlin und Wien verkehren.

Die Arbeiten finden in Halberstadt bei der Verkehrsindustriesysteme GmbH (VIS) statt, einem Standort mit über 180 Jahren Eisenbahngeschichte, der nach 1949 zu einem wichtigen Hersteller von Reisezugwagen für die Deutsche Reichsbahn wurde und heute noch Fahrzeuge instand hält.

Originaltreue trifft Barrierefreiheit
Das Ziel der Restaurierung ist die originalgetreue Wiederbelebung des VT 18.16. Doch das Projekt blickt auch in die Zukunft und öffnet Türen für Neues: Um den problemfreien Zugang für mobilitätseingeschränkte Personen zu ermöglichen, wird ein zweiter, klappbarer Türflügel an den Türen angebracht. Dieser kann eingeklappt werden, um die Türöffnung zu verbreitern. Im Innenraum, der wieder besichtigt werden konnte, sind Details wie Gardinen und die acht Sitzplätze im Zweite-Klasse-Abteil zu sehen.

Das gesamte Projekt hat bisher 7 Millionen Euro verschlungen und ist darauf angewiesen, dass geplante touristische Sonderfahrten Geld in die Kassen spülen. Es wird höchste Eisenbahn, dass der Zug in Betrieb genommen werden kann, denn die Fertigstellung der restlichen Arbeiten ist für das dritte Quartal dieses Jahres geplant, womit das Projekt eine geplante Verzögerung von fast zwei Jahren aufholen würde. Die erste Sonderfahrt ist bereits für den 6. September geplant, mit dem Ziel, jährlich 40 bis 50 Sonder- und Charterfahrten durchzuführen. Der Zug kann nicht in seine alte Halle in Dresden zurückkehren, aber eine neue Halle wird derzeit in Radebeul gebaut.

Neben dem SVT Görlitz konnten Besucher beim Tag der offenen Tür in Halberstadt auch andere interessante Wagen bestaunen, darunter sogenannte Orient Express- oder Rheingoldwagen, die ebenfalls auf ihr neues Leben warten und restauriert werden sollen.

Mit den bevorstehenden Probefahrten und dem Start der Sonderfahrten rückt der Traum vieler Eisenbahnfreunde und die Wiederbelebung eines wertvollen Stücks Eisenbahngeschichte in greifbare Nähe. Der alte neue SVT Görlitz wird bald wieder zu sehen sein – so wie einst.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Der „Punk unter den Historikern“ im Kampf für Freiheit und Widerspruch

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Berlin. In einer Zeit, in der die Grundfesten von Demokratie und Freiheit vielerorts auf dem Prüfstand stehen, fordert der Historiker und Autor Ilko-Sascha Kowalczuk mit scharfen Analysen und einer unerschrockenen Haltung zum aktiven Widerspruch auf. Für ihn geht es um nichts Geringeres als „Demokratie versus Diktatur“ und „Freiheit versus Unfreiheit“, eine Auseinandersetzung, die ihn aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit der Diktatur der DDR zutiefst persönlich antreibt.

Kowalczuk, der sich selbst als „diktaturgeschädigt“ bezeichnet, ist bekannt für seine provokative Art, die ihm den Ruf einbrachte, der „Punk unter den Historikern“ zu sein. Er wirkt „wie sowas anderes“ inmitten von Konvention und Langeweile in der Geschichtswissenschaft. Diese Haltung sei jedoch keine Attitüde, sondern Ausdruck seines Wesens und seiner Überzeugung, dass wir nur „wirklich weiter mit Widerspruch, mit Widerstand, mit Dagegenhalten“ kommen. Für ihn ist dies das „Salz in der Suppe von Demokratie und Freiheit“ und der „Motor der Entwicklung“.

Widerspruch als Motor der Demokratie, nicht als Gebrüll
Kowalczuk differenziert klar zwischen „Widerstand“ und „Widerspruch“. Während Widerstand an Diktaturen gebunden und dort notwendig ist, um die Diktatur zu überwinden, ist in einer parlamentarischen Demokratie die Opposition die zentrale Kraft, um die Demokratie lebendig zu halten. Es gehe darum, „Opposition mit Widerspruch, mit Dagegenhalten“ zu üben.

Er räumt ein, dass es scheinbar viel Widerspruch gebe, insbesondere in sozialen Medien, wo allem „immer Widerspruch“ begegnet werde. Doch er bezweifelt, dass dies echter Widerspruch ist. Für Kowalczuk hat Widerspruch mit Substanz zu tun und muss „rational nachvollziehbar“ sein. Er kritisiert, dass Meinungen oft zu Fakten erklärt werden und dass eine „hohe zum Beispiel Wissenschaftsfeindlichkeit“ die Gesellschaft durchzieht. Stattdessen brauche es „empirisch basierte Aussagen“, um Lösungen zu finden und nicht, um einander „niederzubrüllen“. Er plädiert zudem für einen „konstruktiven Journalismus“, der auch Positives berichtet und diejenigen in den Mittelpunkt rückt, die das Land durch Ehrenämter am Laufen halten.

Demokratie ist für ihn keine „Konsensangelegenheit“, sondern eine „Kompromissgesellschaft“. Es sei entscheidend, den politischen Gegner als solchen anzuerkennen und ihm zu unterstellen, „das Beste für unsere Gesellschaft“ zu wollen, selbst wenn er ganz andere Wege vorschlägt. Nur so bleibe man „koalitionsfähig“ und könne Kompromisse erarbeiten. Die Verwandlung politischer Gegner in Feinde, wie in den USA durch Trump zur Meisterschaft geführt, sei eine langfristige Strategie zur Zerstörung der demokratischen Grundordnung.

Ostdeutschland als „Brennglas unserer Welt“
Ein zentrales Thema in Kowalczuks Arbeit ist Ostdeutschland, das er als „Brennglas unserer Welt“ bezeichnet. Er sieht es als ein „Feldversuch“ oder „Mahnmal“, denn in Ostdeutschland passiert „seit vielen Jahren ungefähr seit 20 Jahren alles früher schneller und radikaler als anderswo“. Was sich dort herausbilde, geschehe in vier bis acht Jahren auch im Westen.

Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Die Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 war eine „größte Zäsur“. Millionen Menschen verloren Arbeitsplätze und Institutionen. Der „Transformationsschock“ im Osten war hart, auch wenn der bundesdeutsche Sozialstaat die Gesellschaft auffing. Was nicht kompensiert werden konnte, waren „kulturelle Verluste“ mit „mentalen Folgen“. Kowalczuk erläutert, dass im Osten der Arbeitsplatz nicht nur der Broterwerb war, sondern ein ganzes Lebensgefühl und umfassende soziale, kulturelle und versorgende Funktionen bot. Mit dem Wegfall dieser Arbeitsplätze und Institutionen brach ein ganzer Lebenskontext weg, was zu einem „Phantomschmerz“ führte.

Er widerspricht der verbreiteten Rede von der verlorenen „Gemeinschaft“ im Osten. Er erklärt, dass die DDR eine „verstaatlichte Gesellschaft“ war, in der Staat und Gesellschaft eins gedacht wurden und Organisationen eigentlich staatlich waren. Die Menschen wurden in einen kollektivistischen Anpassungsdruck sozialisiert, der die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ förderte. Kowalczuk selbst erlebte dies als Kind und Jugendlicher, als seine Umgebung ihn zum „Feind konstruierte“, nur weil er sich nicht bedingungslos anpassen wollte. Diese Erfahrung prägte ihn zutiefst und führte zu seiner „politischen DNA“, „nie wieder die Fresse zu halten“.

Die gefährliche Verharmlosung der Diktatur
Die Beschäftigung mit dem Osten ist für viele eine „lebendige Gegenwart“, da die Vergangenheit immer zum Vergleich dient. Doch Kowalczuk warnt energisch vor der „Verharmlosung und Verharmlosung der Diktatur als tödliches Gift“. Er hat „null Verständnis“ dafür, wenn jemand eine Diktatur „verharmlost“ oder „schöngeredet“. Sein eigenes „Diktaturschaden“ macht ihn zum unerbittlichen Kämpfer gegen solche Narrative. Er litt „körperlich“ unter dem Gefühl der Unfreiheit, als ein „scheiß Staat vorschreiben wollte, wo ich hinfahre, was ich für Bücher lese, welche Musik ich höre“.

Das Problem sei, dass viele in der DDR nicht merkten, dass sie in einer Diktatur lebten. Er kritisiert, dass selbst die angepassten Lebensweisen in der DDR heute oft nostalgisch verklärt werden, anstatt sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Er sieht dahinter einen „tiefen Hass auf den liberalen Verfassungsstaat“, der sich in der Nähe zu Putin-Narrativen oder der Verherrlichung des Putin-Regimes zeige. Für Kowalczuk sind geschichtspolitische Debatten deshalb relevant, weil sie „ganz viel mit unserer Gegenwart und unserer Zukunftsgestaltung zu tun“ haben.

Ein unermüdlicher Kämpfer für Freiheit
Kowalczuk versteht seinen Job als Historiker als einen „politischen Job“. Er ist nicht naiv gegenüber der Welt, erkennt aber an, dass wir in der „besten aller bisherigen Welten“ leben, verglichen mit früheren Zeiten, trotz der aktuellen Krisen. Dennoch lehnt er es ab, sich zurückzulehnen. Er empfindet eine tiefe Notwendigkeit, sich für die Verteidigung der Freiheit einzusetzen. Es gebe keine Pflicht dazu, aber er fühlt sie.

Für ihn funktioniert Freiheit „nur, wenn es für alle da ist“. Er will seine Freiheit nicht denjenigen ausliefern, „die diese Freiheit abschaffen wollen wie die faschistische AfD wie die leninistische wie das leninistische Bündnis von Sarah Wagenknecht“. Seine Wut und sein Engagement sind sein Motor, um „die anderen nicht das Feld zu überlassen“.

Am Ende des Gesprächs auf die Frage, was er auf eine große Plakatwand am Alexanderplatz schreiben würde, antwortet Kowalczuk kurz und prägnant: „Freiheit.“ Eine Botschaft, die seine Arbeit, seine Persönlichkeit und sein unermüdliches Eintreten für die Grundwerte unserer Gesellschaft zusammenfasst.

Das erste WBS 70-Wohnhaus in Neubrandenburg erhält ein neues Dach

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Neubrandenburg – Es ist ein Gebäude von besonderer Bedeutung für die Stadt Neubrandenburg und die deutsche Architekturgeschichte: das Wohnhaus in der Koschaliner Straße 1 bis 7. Dieses Gebäude ist nicht nur ein Zuhause für seine Bewohner, sondern auch ein Zeugnis seiner Zeit – es ist das allererste in Plattenbauweise der Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) errichtete Gebäude überhaupt. Als Ikone der Architektur steht es unter Denkmalschutz und wird dementsprechend behutsam erhalten und gepflegt. Genau das war in den vergangenen Wochen der Fall, als das Gebäude einer dringenden Instandsetzung unterzogen wurde.

Akute Gefahr am Giebel
Anfang Juni bot sich den Passanten ein ungewohntes Bild: Betonplatten vom Dach und Gebäudekörper lagerten vor dem Haus, und das Gebäude war teilweise eingerüstet. Der Grund dafür war ein akutes Schadensbild im Giebelbereich: Eine sogenannte Drempelplatte drohte sich herauszudrücken und abzustürzen. Der Drempel ist der Bereich zwischen dem letzten Obergeschoss und dem eigentlichen Dach, wo auch das Regenwasser über einen Dachsteg in der Mitte in die Stränge abgeleitet wird. Nach all den Jahren hatte sich dieser Dachsteg an einer Stelle gesenkt und drückte nun gegen die Drempelplatte der Giebelfassade.

Komplexe Rettungsaktion mit Fachkräften
Um das Problem zu beheben, musste das Dach im entsprechenden Bereich geöffnet und abgedeckt werden. Bereits im Mai begannen die Arbeiten, bei denen ein nicht gerade kleiner Kran zum Einsatz kam, um Betonplatte für Betonplatte sicher nach unten zu befördern. Für die Bauphase wurde zudem eine provisorische Behelfsdachabdeckung installiert.

Die Instandsetzung war ein Paradebeispiel für koordinierte Zusammenarbeit und Professionalität, besonders da es sich um ein bewohntes Objekt handelte. Insgesamt waren vier spezialisierte Unternehmen an dem Projekt beteiligt:

• Ein Unternehmen für den Rückbau und die Montage der einzelnen Betonelemente.

• Der Gerüstbauer, der das Behelfsdach über den Drempelbereich setzte, während das eigentliche Dach komplett geöffnet war.

• Ein Dachdeckerunternehmen, das die Abdichtung wiederherstellte.

• Ein weiteres Unternehmen, spezialisiert auf die Wiederherstellung der Fugen in Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt.

Herausforderung Denkmalschutz: Exaktheit bis ins Detail
Die besondere Herausforderung bei dieser Instandsetzung war die Auflagen des Denkmalschutzes. Die äußerlich sichtbaren Plattenelemente des schadhaften Bereichs mussten so aufgearbeitet werden, dass ein stimmiges, originalgetreues Gesamtbild des Gebäudes erhalten bleibt. Bei solchen Denkmalschutzprojekten geht es immer um Exaktheit bis hin zu Farbnuancen und Fugmaßen. Dieser Feinschliff wurde zum Abschluss der Baumaßnahme vorgenommen.

Erfolgreicher Abschluss
Das große Finale fand am letzten Junitag statt, erneut unter Einsatz des großen Krans. Das Behelfsdach hatte seinen Zweck erfüllt und wurde abgebaut. Der Dachsteg sitzt nun wieder fest in Position, sodass Drempel und Dachabdeckung anschließend Stück für Stück geschlossen und fachgerecht abgedichtet werden konnten.

Mit dieser aufwendigen Instandsetzung wurde das WBS 70-Original gesichert – als Zuhause für seine Bewohner und als unverzichtbares Architekturdenkmal für Neubrandenburg.

Sachsens MP Michael Kretschmer – Minderheitsregierung als Chance

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Dresden/Berlin. Michael Kretschmer (CDU), der Ministerpräsident des Freistaats Sachsen, hat in einem aktuellen Interview mit dem YouTube-Kanal „Jung & Naiv“ ausführlich über die besonderen Herausforderungen seiner Minderheitsregierung, den Umgang mit der erstarkten AfD sowie die drängendsten sozialen und wirtschaftlichen Sorgen der Bevölkerung gesprochen.

Minderheitsregierung in Sachsen: Pragmatismus statt Fraktionszwang
Kretschmer bezeichnet die Minderheitsregierung in Sachsen als eine „echte Herausforderung“, die er jedoch als Ausdruck des Wählerauftrags und nicht als Problem betrachtet. Er sieht darin eine Rückbesinnung auf Prinzipien der Kommunalpolitik, in der es laut ihm keine Koalitionsverträge oder Fraktionszwang gibt und der Fokus auf das Zuhören und die sachliche Auseinandersetzung liege.

Die Regierungsarbeit wird durch einen sogenannten „Konsultationsmechanismus“ gestaltet: Gesetzesvorschläge der Regierung werden allen im Parlament vertretenen Parteien – CDU, SPD, BSW, Linke, Grüne und AfD – vorgelegt, um Mehrheiten zu finden, bevor das eigentliche Gesetzgebungsverfahren beginnt. Kretschmer betont, dass alle gewählten Abgeordneten „die gleichen Rechte und Pflichten“ hätten, nämlich an der Gesetzgebung mitzuwirken und das Beste für das Land zu tun. Als Beispiel für erfolgreiche Konsultationen nannte er den Haushalt, in dem Vorschläge von Grünen und Linken zur Kultur- und Sportförderung sowie zur Feuerwehrunterstützung aufgenommen wurden, auch wenn diese ursprünglich wegen der Haushaltslage gekürzt worden wären. Verhandlungen mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für eine breitere Mehrheit seien gescheitert, da die BSW eine Regierungsbeteiligung damals nicht gewollt habe.

AfD: „Gesichert rechtsextrem“, aber kein Verbot als Lösung
Ein zentrales Thema war die Alternative für Deutschland (AfD). Kretschmer hob hervor, dass der sächsische Landesverband der AfD im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern vom Landesamt für Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird. Dies sei ein Resultat der „konsequenten Art Kampf gegen Rechtsextremismus“ in Sachsen.

Trotz dieser Einstufung spricht sich Kretschmer gegen ein bundesweites AfD-Verbotsverfahren aus. Er argumentiert, dass die juristischen Hürden dafür sehr hoch seien und ein Scheitern des Verfahrens der AfD einen „Persilschein“ ausstellen und sie stärken würde, ähnlich wie es bei der NPD der Fall war. Stattdessen sei der „Wert einer solchen Einstufung“ (als gesichert rechtsextrem) „riesig hoch“, da sie dem „mündigen, bewusst entscheidenden Bürger“ Informationen für seine Wahlentscheidung liefere. Kretschmer zufolge muss man „den Nährboden“ entziehen, auf dem die AfD gedeiht, indem man die eigentlichen Probleme der Menschen löst.

Bezüglich der Rhetorik der AfD, wie der vom Interviewer zitierten Aussage des sächsischen AfD-Chefs, ihn „jagen“ zu wollen, zeigte sich Kretschmer unbeeindruckt und betonte, er lasse sich „nicht treiben lassen, nicht jagen lassen, nicht verrückt machen lassen“. Er forderte die Bürger auf, sich gegen die „Verrohung der Sprache“ zu wehren.

Wirtschaft und Soziales als Mittel zur Problemlösung
Kretschmer ist überzeugt, dass die effektivste Strategie gegen den Populismus darin besteht, die „Probleme aus der Welt [zu] schaffen, die aus Sicht der Bevölkerung die drängendsten Sorgen sind“. Basierend auf Nachwahlbefragungen sieht er die Hauptsorgen der Deutschen in den Bereichen Migration, Energiekosten, der Rolle des Staates und dem Ukraine-Krieg.

• Renten und Pflege: Angesprochen auf niedrige Renten und wachsende Altersarmut verwies Kretschmer auf die Stabilisierung des Rentenniveaus als „extrem teure Maßnahme“ der Bundesregierung. Er räumte ein, dass viele Menschen die Pflegekosten nicht mehr tragen können und in die Sozialhilfe rutschen. Er schlug einen „Zwischenweg“ für die Pflegeversicherung vor, bei dem Geringverdiener Zuschüsse erhalten, um Sozialhilfebezug zu vermeiden, was auch die Kommunen entlasten würde. Dies sei jedoch nur durch ein starkes Wirtschaftswachstum finanzierbar.

• Ungleichheit und Vermögenssteuer: Kretschmer lehnte die Forderung nach einer Vermögenssteuer oder höheren Erbschaftssteuern ab. Er argumentierte, dass dies Investitionen behindere und zur Kapitalflucht führe, da Vermögen bereits versteuert worden sei. Sein Fokus liegt darauf, Deutschland zu einem attraktiven Investitionsstandort zu machen, um so Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu generieren und damit letztlich auch soziale Leistungen finanzieren zu können.

• Wohnungsbau und Mieten: Die hohen Mietkosten und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum seien hauptsächlich auf „überzogene Standards“ und staatliche Vorgaben im Wohnungsbau zurückzuführen, die das Bauen zu teuer machten. Kretschmer forderte eine Reduzierung dieser Standards, um mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

• Mindestlohn: Kretschmer bekräftigte seine grundsätzliche Kritik am Mindestlohn in seiner aktuellen Höhe. Er argumentierte, dass er Arbeitsplätze vernichte und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwäche, indem er beispielsweise die heimische Erdbeerproduktion gegenüber günstigeren Importen unrentabel mache. Er behauptete, dass „alles, was unter der Produktivität ist, … in diesem Land nicht mehr stattfinden“ werde.

Energie, Verteidigung und Ukraine: Kretschmers Visionen
Beim Ausbau der Windkraft in Sachsen beklagte Kretschmer den Widerstand der Anwohner, der darauf zurückzuführen sei, dass diese nicht ausreichend beteiligt würden. Er sprach sich dafür aus, die unmittelbar Betroffenen an den Erträgen der Windräder zu beteiligen.
Hinsichtlich der Verteidigungsausgaben äußerte Kretschmer Skepsis gegenüber dem 2%-Ziel des BIP. Er plädierte dafür, die militärischen Fähigkeiten der europäischen Mitgliedstaaten „stärker [zu] bündeln“, um mit „deutlich niedrigeren“ Ausgaben auszukommen. Die Europäische Union sei die „Lebensversicherung“ Deutschlands und müsse ihre Kraft im Verteidigungsbereich besser nutzen.

Zum Ukraine-Krieg bekräftigte Kretschmer die Notwendigkeit der Hilfe für die Ukraine angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffs. Gleichzeitig betonte er, dass eine diplomatische Lösung notwendig sei, da der militärische Weg allein nicht zum Erfolg führen werde. Er sprach sich dafür aus, auch wieder mit Russland und Präsident Putin ins Gespräch zu kommen, was er selbst zuletzt 2021 getan habe. Er wies die Behauptung, russische Narrative zu verbreiten, entschieden zurück.

Schließlich bewertete Kretschmer das neue Cannabisgesetz als einen „großen Fehler“, der die „Büchse der Pandora“ geöffnet habe. Er ist überzeugt, dass das Gesetz nicht mehr rückgängig zu machen sei und zu einer „wesentlich höheren Anteil von Menschen“ mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen führen werde.

Die erstaunliche Verwandlung des Senftenberger Sees

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Senftenberg, Lausitz. Er ist der Tourismusmagnet zwischen Sachsen und Berlin, die „Mutter der Seen“ im Lausitzer Seenland und ein Vorreiter, von dem sich andere Regionen die Entwicklung abschauen können. Doch wer heute am stolzen Stadthafen von Senftenberg flaniert oder die schiffbare Verbindung zum Geierswalder See nutzt, mag kaum glauben, dass dieser Ort vor nur wenigen Jahrzehnten noch vom Braunkohlebergbau geprägt war. Die Geschichte des Senftenberger Sees ist eine bemerkenswerte Erzählung von Wandel, Weitsicht und dem unermüdlichen Willen, aus einer zerstörten Landschaft ein Paradies zu schaffen.

Die Geburt einer Vision: Von der Grube zum Gewässer
Mitte der 1960er Jahre bestimmten im Lausitzer Revier noch Förderbrücken und Absetzer das Bild. Seit 1940 wurde im Tagebau Niemt Braunkohle gefördert, ein Kapitel, das Energie für das Land und Arbeitsplätze sicherte, auf der anderen Seite aber auch Umweltschäden verursachte. Am 15. Mai 1966 verließ der letzte Kohlezug die Grube, und die Förderbrücke wurde gesprengt – ein emotionaler Moment für die Bergleute.
Die Idee, den Tagebau in einen See zu verwandeln, war jedoch schon früh geboren worden. Fachleute erkannten, dass es zu wenig Abraum gab, um die gewaltigen Krater wieder zu füllen. Bereits 1958 erhielt der Architekt des Lausitzer Seenlandes, Otto Rind, den Auftrag, die Bergbaufolgelandschaften in der Lausitz zu planen. Seine Vision einer geschlossenen Seenlandschaft, die den Senftenberger, Geierswalder, Partwitzer und Sedlitzer See umfassen sollte, stieß anfänglich auf Unglauben bei den Bergleuten. Doch die Festlegung des Rates des Bezirkes in den 60er Jahren, den See auszubauen, weil Lauchhammer und Senftenberg nicht ausreichend mit Naherholungsgebieten ausgestattet waren, ebnete den Weg.

Ein Prestigeobjekt der DDR: Die „Badewanne der Sachsen“
Die ersten Arbeiten für den neuen See erledigten die Bergleute der Grube Niemt noch selbst, indem sie mit einem Abraumbagger den künftigen Badestrand modellierten. Nur anderthalb Jahre nach dem Ende des Bergbaus begann die Flutung am 15. November 1967 um 10 Uhr. Der Senftenberger See entwickelte sich schnell zu einem Prestigeobjekt der damaligen DDR-Führung, die der Welt zeigen wollte, wie man mit Tagebaurestlöchern umgeht – sowohl in Bezug auf den Ausbau als auch die Geschwindigkeit der Realisierung.

Am 1. Juni 1973 wurde das Naherholungsgebiet Senftenberger See am Großkoschener Strand feierlich eröffnet, ein Jahr später folgte die Strandanlage in Peickwitz. Hans-Jürgen Lukas, ein Hobbyhistoriker aus Großkoschen, erinnert sich an ein „Volksfest“ mit vielen Menschen, die glücklich und zufrieden waren. Der Senftenberger See wurde zu einer wichtigen touristischen Adresse in der DDR, besonders für die Menschen aus Sachsen, die ihn liebevoll die „Badewanne der Sachsen“ nannten und das Gefühl der Ostsee mitten in der Lausitz schätzten. Das Kinderferienlager und der Freizeitpark Großkoschen waren stark frequentiert, und das Jahr 1982 war ein Rekordjahr mit 2,3 Millionen Besuchern.

Herausforderungen und Neuanfang nach 1989
Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 änderte sich die Situation schlagartig. Plötzlich standen den Menschen im Osten völlig neue Reiseziele zur Verfügung, und der Senftenberger See verlor seine Anziehungskraft. Die Besucherzahlen sanken dramatisch, da das bisherige Angebot nicht mehr ausreichend war, um mit renommierten Tourismusregionen im Westen zu konkurrieren.

Um dieser Situation zu begegnen, wurde 1991 die Erholungsgebiet Senftenberger See GmbH gegründet. Das Unternehmen sah sich mit erheblichen Mängeln in der Infrastruktur und Bausubstanz konfrontiert – der „Erblast der DDR“. Doch die neuen Tourismusmanager orientierten sich konsequent an den Erfordernissen des Tourismusmarktes. Ein Familienpark, ein Campingplatz, ein Wassersportzentrum und ein hervorragendes Radwegenetz wurden zu Säulen des Erfolgsrezepts. Höhepunkte dieser Entwicklung waren die Einweihung des Amphitheaters in Großkoschen im Jahr 2001 und insbesondere die Eröffnung des Stadthafens am 23. April 2013.

Die Zukunft ist vernetzt: Das Lausitzer Seenland wächst zusammen
Das Jahr 2013 markierte einen weiteren Meilenstein: Am 1. Juni wurde die erste Schleusung durch den Koschener Kanal vollzogen. Diese schiffbare Wasserstraße, die von 2007 bis 2013 gebaut wurde, verbindet den Senftenberger See mit dem Geierswalder See und ist ein symbolischer Start für den Verbund von zukünftig zehn Seen im länderübergreifenden Seenland. Es war ein besonderes Ereignis, da erstmals ein zweiter See angebunden und Ländergrenzen zwischen Brandenburg und Sachsen überwunden wurden.

Heute empfängt der Senftenberger See jährlich über 60.000 Urlauber in seinen Anlagen. Die Region erlebt eine „leichte Goldgräberstimmung“, da viele investieren und sehen, dass hier etwas passiert. Der Strukturwandel wird sichtbar durch den Bau des Stadthafens und des Kanals. Die Verantwortlichen stecken voller neuer Ideen und bauen weiter an diesem „Jahrhundertprojekt“, das nicht nur für Touristen, sondern auch für die Einheimischen eine hohe Lebensqualität zurückbringt. Der Senftenberger See ist eine wahre Erfolgsgeschichte, die zeigt, wie aus einer einst durch den Bergbau gezeichneten Landschaft ein blühendes Urlaubsparadies werden konnte.

Die Liebe in Kuba zu den ostdeutschen MZ-Motorrädern

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Santiago de Cuba, die zweitgrößte Stadt der Insel mit rund einer halben Million Einwohnern, ist das Herzland der MZ-Motorräder aus der ehemaligen DDR. Über 10.000 dieser Maschinen sollen hier noch fahren, was mehr als die Hälfte aller zugelassenen Motorräder in der Stadt ausmacht. Diese hohe Dichte an MZ-Motorrädern im Verhältnis zur Bevölkerung macht Kuba weltweit einzigartig und zu einem wahren „lebendigen Museum für Made in Zschopau“.

Ein Erbe der DDR-Gastarbeiter Viele Tausend Kubaner waren in den 1980er Jahren Gastarbeiter in der DDR. Sie nutzten die seltene Gelegenheit, sich dort eine MZ zu kaufen und brachten diese wertvollen Maschinen mit zurück auf die Insel. Damals kostete eine MZ beispielsweise 4.150 DDR Mark. Heute kann ein solcher Oldtimer in Kuba bis zu 10.000 US-Dollar wert sein. Eine der Hauptgründe für den Kauf war die Möglichkeit, gutes Geld zu verdienen und die Erlaubnis der Botschaft, der Chefs und der Regierung, Motorräder während des Studiums oder der Arbeit in der DDR zu importieren. Die MZ galt als eines der Exportschlager der DDR und wurde in über 100 Länder verkauft. Besonders beliebt waren die Modelle MZ 175 und 250 Kubikzentimeter aus Zschopau, bekannt für ihre Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit.

Meister der Improvisation und Pflege Die MZ-Motorräder in Kuba sind nicht nur Transportmittel, sondern Kultobjekte, die liebevoll gepflegt werden. Da die MZ-Fabrik in der ehemaligen DDR nach ihrer endgültigen Insolvenz 1991 geschlossen wurde, sind Ersatzteile extrem selten. Kubaner sind daher Weltmeister im Improvisieren: Sie behelfen sich mit Nachbauten, nutzen gebrauchte Teile von anderen Motorradmarken, die angepasst werden müssen, oder recyceln alles, was sie finden können, selbst Teile aus stillgelegten Bussen. Dieses Wirtschafts-Embargo der USA zwingt die Menschen zu Kreativität.

Die Reparatur und Wartung der MZ erfolgt oft in improvisierten Motorradwerkstätten, die sich häufig in Wohnhäusern befinden und auf bestimmte Bereiche wie Stoßdämpfer, Vergaser oder Elektrik spezialisiert sind. Umelio beispielsweise kümmert sich ausschließlich um Motoren der MZ ETZ 250, da er diese Marke für besonders robust hält: „Dieses Modell kennt kein Limit, solange man dieses Motorrad gut behandelt, gibt es für jedes Problem eine Lösung“.

Die Robustheit und einfache Bauweise der MZ machen sie ideal für die oft schlechten Straßen Kubas mit vielen Schlaglöchern. Vieles kann selbst repariert werden, und die Pflege ist einfach. Die wöchentliche Kettenwartung beispielsweise trägt zur Langlebigkeit bei, was auf Kuba entscheidend ist, da Haltbarkeit das Wichtigste ist.

Die MZ im kubanischen Alltag In Kuba ist Benzin knapp, es gibt nur wenige Autos, und der öffentliche Nahverkehr besteht hauptsächlich aus Motorrädern. Die MZ wird für alles genutzt: als Transportmittel im Alltag, für Taxifahrten (Santiago ist die einzige Stadt mit offiziellen Taxi-Lizenzen für Motorräder), für Familienausflüge oder um Freunde zu besuchen. Sie ist ein schnelles Fahrzeug, das gut vorankommt, wenig Benzin verbraucht und nicht zu groß ist. Die Kubaner fahren wann immer sie können mit ihrer MZ zum Strand, um dort das Wochenende zu verbringen oder Geburtstage zu feiern.

Die MZ ist so tief in der kubanischen Kultur verwurzelt, dass die Kubaner ihre Motorräder liebevoll „motosykletter Allemann“ nennen – deutsches Motorrad. Die Maschinen sind nicht nur praktisch, sondern auch ein Statussymbol: „Das ist der Motorrad und das wertvollste Pferd, das sind diese hier und die Mädchen, die Mädchen stehen voll drauf“.

Trotz täglicher Herausforderungen wie Stromausfällen, die Reparaturen verzögern können, oder der Knappheit von Materialien, stirbt die Hoffnung auf Kuba zuletzt. Die MZ-Motorräder sind ein lebendiger Beweis für die Ingenieurskunst der DDR und die erfinderische Anpassungsfähigkeit der Kubaner, die diese Kultmaschinen über 30 Jahre am Laufen halten.

Das stille Verschwinden der Stadt Suhl

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Mitten in Deutschland, am südwestlichen Rand des Thüringer Waldes, liegt ein Stadtteil, der fast so groß wie eine Kleinstadt ist und doch kurz davorsteht, komplett zu verschwinden. Suhl-Nord, einst für 14.000 Menschen gebaut, ist heute ein Sinnbild für Verfall und Vergessen. Es ist eine Geschichte von Aufstieg, Fall und der Suche nach einer neuen Identität.

Ein Traum aus Beton: Die Geburt von Suhl-Nord Ende der 1970er Jahre erlebte die DDR einen Baurausch. Suhl wuchs rasant, Betriebe brummten, und der Wohnraummangel drängte nach einer schnellen Lösung. Auf dem Ziegenberg, einem kahlen Hügel nördlich des Stadtzentrums, entstand Suhl-Nord – ein komplett neuer Stadtteil, geplant am Reißbrett und gegossen in Beton. Die Vision war klar: funktionale, schnell gebaute, kostengünstige und dennoch komfortable Wohnungen für Tausende Menschen. Der Baustoff der Stunde waren Platten, ermöglicht durch das System WBS70 (Wohnungsbauserie 1970).

In nur zehn Jahren entstanden über 5.600 Wohnungen in Hochhäusern mit fünf, sechs oder elf Stockwerken. Obwohl die Fassaden grau waren, boten die Wohnungen für viele Familien einen Quantensprung: zwei oder drei Zimmer mit Balkon, Einbauküche, Warmwasser aus der Wand und Zentralheizung. Dazu kamen breite Gehwege, große Innenhöfe und Spielplätze. Suhl-Nord sollte ein sozialistisches Ideal verwirklichen, ein Ort, an dem man das Viertel kaum verlassen musste. Kindergärten, Schulen, ein Ärztehaus und eine zentrale Kaufhalle – das Herz der Nahversorgung – alles war darauf ausgelegt, den Alltag zu vereinfachen.

Mitte der 80er-Jahre brummte das Viertel. Knapp 14.000 Menschen lebten auf dem Ziegenberg. Es war dicht, lebendig und energiegeladen. Die Häuser waren voll, die Innenhöfe belebt, Spielplätze waren Zentren der Nachbarschaft und die Bänke Treffpunkte für Rentner. Für viele war Suhl-Nord nicht einfach nur Wohnraum, es war Heimat.

Der Bruch von 1989 und die schleichende Leere Doch jede Utopie hat ihr Verfallsdatum. Während in Suhl-Nord noch gekocht und gelacht wurde, schlichen sich Gerüchte von Veränderungen ein. Das Jahr 1989 brachte die Wende, die Mauer fiel – Jubel, Aufbruch, Hoffnung, aber auch Unsicherheit. Was für viele ein Tor zur Freiheit war, bedeutete für Stadtteile wie Suhl-Nord den Beginn eines langsamen, schleichenden Verschwindens.

Die Betriebe, auf denen Suhl gebaut war – Rüstungsfirmen, Maschinenbau, Zulieferwerke – wurden abgewickelt. Was eben noch als systemrelevant galt, hatte plötzlich keinen Platz mehr in der neuen Ordnung. Der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik war kein Ort für die einstigen Kombinate. Die Menschen reagierten: Wer jung, mobil und hoffnungsvoll war, zog in den Westen. Wohnungen wurden frei, erst eine, dann zwei, dann ein ganzes Stockwerk. Leerstand begann, nicht nur als technischer Begriff, sondern als spürbare Realität: Türen, die nicht mehr zufallen, Flure, die hallen, und klingeln, die niemand mehr hört.

Ein kurzes Aufatmen und das unaufhaltsame Schrumpfen Für einen kurzen Moment schien die Geschichte noch einmal abbiegen zu wollen. Anfang der 90er-Jahre tauchten neue Namen auf: Krone Verbrauchermarkt, Cardimarkt, westliche Händler witterten Chancen. 1994 wurde das Rennsteigkarree, ein Einkaufszentrum, gebaut, und 1996 eröffnete sogar ein Family Center mit Aldi. Die Menschen hatten wieder einen Ort zum Einkaufen, zum Verweilen, zum Alltag.

Doch es war zu spät. Die Abwanderung war schneller als jedes Bauprojekt. Die neue Infrastruktur wirkte wie eine Filmkulisse – sauber, modern, aber merkwürdig leer. Geschäfte und Straßen füllten sich nicht. Das Viertel, einst so durchdacht, hatte plötzlich zu viele Wege, die ins Nichts führten.

Der „Rückbau“: Wenn Heimat dem Bagger weicht Die Antwort auf einen Stadtteil, der zu groß für seine Gegenwart geworden war, war brutal, aber konsequent: Man begann, ihn zu verkleinern, zu löschen. Der Rückbau begann nicht mit Presslufthammer, sondern mit Stille. Im Jahr 2001 zog die Stadt Suhl die Reißleine. 5.600 Wohnungen, aber kaum noch Menschen, die darin wohnen wollten. Der Beschluss: Rückbau.

Dieser Prozess ist tiefgreifend, denn es geht nicht nur um Steine, sondern um Schicksale, Lebensgeschichten und Erinnerungen. Block für Block wird entkernt: Erst verschwinden die Bewohner, dann die Fenster, dann das Dach, bis nur noch ein Gerippe steht. Doch der Abriss verläuft nicht reibungslos. Geldmangel und Bürokratie verzögern die Fördermittel, sodass auf dem Papier Stehendes oft nicht zur Praxis passt. Manche Häuser stehen jahrelang leer, wie eingefrorene Ruinen, weder lebendig noch tot. Die Schneekopfstraße 30 bis 36 ist ein Beispiel dafür, wo Blöcke viel zu lange dem Verfall überlassen blieben und nur noch von der Feuerwehr als Trainingsgelände genutzt werden. Der letzte Supermarkt im Family Center, ein Aldi, schloss bereits 2016. Suhl-Nord wird kleiner, aber nicht schnell, sondern zäh, verworren, unvollständig.

Die letzten Ausharrenden: Leben im Schatten des Abrisses In diesem Zwischenraum aus Vergangenheit und Abriss leben immer noch Menschen. Keine Tausende mehr, nicht einmal Hunderte pro Straße, aber einige wenige. Manche, weil sie nicht gehen konnten, andere, weil sie nicht wollten. Wer heute in Suhl-Nord lebt, lebt in einer Welt zwischen Beton und Erinnerung. Die Wohnung mag noch dieselbe sein, aber das Viertel ist ein anderes. Wo früher jemand Ball spielte, liegt heute Moos auf dem Asphalt. Wo man früher Nachbar war, ist man heute allein.

Für viele dieser letzten Bewohner ist weggehen keine Option. Sie haben hier geheiratet, Kinder großgezogen, Abschiede erlebt. Die Tapete im Wohnzimmer ist nicht einfach nur Wand, sie ist Geschichte. Doch der Alltag ist härter geworden. Der Bus fährt seltener, Arzttermine sind mit Taxi oder langen Fußwegen verbunden. Die Stadt bietet Ersatzwohnungen an, schöner, zentraler, vielleicht sogar günstiger. Aber ein Umzug ist ein Schnitt, und viele sagen: „Ich habe mein ganzes Leben in diesem Viertel verbracht, ich will auch hier bleiben“. Diese Entscheidung verdient Respekt, denn sie ist nicht bequem; es ist ein Leben im Schatten des Abrisses, ein Alltag mit bröckelndem Treppenhaus, aber festem Willen.

Ein Blick nach vorn: Gewerbe statt Wohnblocks Suhl-Nord soll bis auf wenige Ausnahmen – vielleicht ein Ärztehaus, das alte Einkaufszentrum – komplett verschwinden. Beton wird zu Staub, Geschichte zu Fläche. Doch auf dem Gelände, wo einst Wohnungen standen, soll etwas Neues wachsen: Ein Gewerbe- und Forschungsgebiet. Geplant sind rund 50 Hektar für Zukunftsthemen wie Holzbau, nachhaltige Werkstoffe und Forsttechnologie. Ziel ist es, einen Hotspot für klimafreundliche Materialien zu schaffen. Die Fachhochschule Erfurt, die LG Thüringen und die Stadt Suhl sind mit an Bord und wünschen sich ein anderes Ende für das Kapitel Suhl-Nord.

Auch an die Wege wird gedacht: Fahrradachsen sollen das neue Areal durchziehen, ein Steg könnte es mit dem Flugplatz Suhl-Goldlauter verbinden. Die Kanalisation bleibt, Glasfaser wird verlegt – die Infrastruktur ist bereits vorhanden und muss nur neu angeschlossen werden. Doch die Umsetzung ist eine andere Sache als der Plan: Fördermittel verzögern sich, Genehmigungen auch, und einige Blöcke, die längst weg sein sollten, stehen immer noch wie Mahnmale aus grauem Guss.

Suhl-Nord im Kontext: Ein stilles Drama in Ostdeutschland Suhl-Nord ist kein Unfall und kein Einzelfall. Es ist Teil eines größeren Musters, eines stillen Dramas, das sich seit über 30 Jahren durch viele ostdeutsche Städte zieht. Ganze Viertel, einst stolz geplant und dicht bewohnt, gerieten ins Rutschen. Nach der Wende brach das System weg, für das diese Stadtteile gebaut wurden. Fabriken schlossen, Kombinate wurden abgewickelt, die Perspektive löste sich auf. Wer konnte, zog weg. Die, die blieben, blieben oft allein zurück – zu groß waren die Wohnungen, zu leer die Straßen, zu wenig Hoffnung im Fundament.

Halle-Neustadt, Hoyerswerda, Leipzig-Grünau, Gera-Lusan – sie alle erzählen ähnliche Geschichten. Hoyerswerda verlor die Hälfte seiner Einwohner, Halle-Neustadt schrumpfte von 90.000 auf unter 50.000. Dies ist keine Zufälligkeit, sondern die Folge von Transformation ohne Netz, von zu großen Plänen und einer Politik, die lange dachte, die Zeit würde es schon richten. Wenn Städte schrumpfen, braucht es Strategien, klare, mutige Entscheidungen. Stattdessen wurden vielerorts einfach Fenster zugemauert, in der Hoffnung, dass niemand fragt, warum es so still ist.

Fragen an die Zukunft Ist Rückbau wirklich die einzige Lösung? Oder fehlt uns nur die Fantasie für das Danach? Vielleicht geht es nicht darum, alles zu erhalten, aber auch nicht darum, alles zu löschen. Vielleicht geht es darum, mit Verantwortung abzubauen, Orte zu würdigen, die Geschichte tragen, und Menschen, die darin gelebt haben.

Suhl-Nord gibt keine einfachen Antworten, aber es stellt gute Fragen. Es geht darum, wie wir mit Veränderung umgehen und wie viel Vergangenheit wir uns für die Zukunft leisten wollen. Suhl-Nord, einst ein Symbol sozialistischer Wohnkultur, wird zu einem Testfeld für eine neue Ära – ein Ort, an dem die Geschichte des Verschwindens auf die Hoffnung eines Neuanfangs trifft.

Feldheim: Das Dorf, das die Energiewende lebt und die Welt inspiriert

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Feldheim, ein scheinbar gewöhnliches Dorf in Brandenburg, ist weit mehr als das – es ist ein Leuchtturmprojekt der Energiewende, das schon vor über zehn Jahren realisiert wurde und bis heute funktioniert. Was hier geschah, ist keine ferne Utopie mehr, sondern gelebte Realität, in der sich Bürger, Kommune und lokale Unternehmen zusammengeschlossen haben, um ihre eigene Energieversorgung aufzubauen.

Die Anfänge: Windkraft als Keimzelle einer Vision Die Geschichte begann im Herbst 1993, kurz nach der Wende, als der damals noch fast studentische Michael Raschemann von Energiequelle in einer Gemeindevertretersitzung seine Idee vorstellte: Windenergieanlagen in Feldheim zu bauen. Die Stimmung im Dorf war frustrierend, es fehlten die Mittel, um den Ort zu verbessern. Doch die Feldheimer erkannten eine Chance. Trotz anfänglicher Skepsis und der Diskussion über Vor- und Nachteile gab man Raschemann die Möglichkeit, die ersten Windräder aufzustellen, auch weil sie über 1000 Meter vom Ort entfernt lagen. Dies war der Beginn einer über 20-jährigen Zusammenarbeit, die auf Zeit und Vertrauen basierte. Man schlug politisch und wirtschaftlich den richtigen Weg ein, ohne es damals richtig zu wissen.

Vom Wind zur Vollversorgung: Ein intelligentes Netz entsteht Der Startschuss fiel mit der Windkraft. Doch die Vision reichte weiter. Als die lokale Landwirtschaft vor Schwierigkeiten stand, entstand die Idee, in Biogas zu investieren. Ursprünglich sollte damit eine Sauenanlage mit Wärme versorgt werden, da die Ölkosten zu hoch waren. In enger Abstimmung mit der Agrargenossenschaft wurde eine Biogasanlage gebaut. Bald darauf fragten Anwohner nach einem Wärmeanschluss, was dazu führte, dass ein umfassendes Wärmenetz für das gesamte Dorf realisiert wurde – gleichzeitig mit der Verlegung von Stromleitungen.

Heute verfügt Feldheim über ein eigenes Strom- und Wärmenetz. Die Energieversorgung ist intelligent und robust aufgestellt:

• Windkraft ist die primäre Quelle.

• Solaranlagen ergänzen das Portfolio.

• Die Biogasanlage speist bei Windstille oder Wartungsarbeiten im Windpark Strom ins Netz ein, ist aber aufgrund höherer Kosten nur dann aktiv. Sie dient auch als Hauptenergiequelle für die Wärmeversorgung.

• Ein Stromspeicher (seit 2015) sorgt für zusätzliche Versorgungssicherheit bei unzureichendem Wind oder kann Feldheim bei einem Netzausfall für eine gewisse Zeit versorgen.

• Für die Wärmeversorgung ergänzen eine Hackschnitzelheizung und ein Power-to-Heat-System (Booster) die Biogasanlage. Dies sichert die Versorgung auch bei dauerhafter Kälte oder Ausfall der Biogasanlage und ermöglicht die Umwandlung von Windstrom in Wärme.

Dieses Zusammenspiel verschiedener Energiequellen gewährleistet eine hohe Versorgungssicherheit. Seit 2009 hatte Feldheim keinen einzigen Tag ohne Wärmeversorgung. Das Dorf kann sich weitgehend selbst versorgen, ohne fossile Energien nutzen zu müssen.

Bürgerbeteiligung als Erfolgsmodell Ein zentraler Pfeiler des Erfolgs ist die intensive Bürgerbeteiligung und das geschaffene Vertrauen. Die Feldheimer wurden von Anfang an mitgenommen. Die „Feldheim Energie“ ist eine Gesellschaft, die wie ein Gemeindewerk funktioniert. Die Bewohner sind sowohl Kunden als auch Miteigentümer und können die Entscheidungen beeinflussen. Dieses Modell ermöglicht es den Bürgern, direkt von den niedrigen Preisen und der Versorgungssicherheit zu profitieren.

Die Windmühlen um Feldheim produzieren jährlich etwa 200 Millionen Kilowattstunden, wovon das Dorf nur 0,5 Prozent benötigt. Die Wärmekilowattstunde wurde mit 7,5 Cent kalkuliert, während der Strompreis über 10 Cent günstiger angeboten und für 10 Jahre festgeschrieben werden konnte. Dies sichert nicht nur die Zukunft, sondern macht das Leben bezahlbar.

Nachhaltige Entwicklung und internationale Aufmerksamkeit Die Vorteile der Energiewende in Feldheim gehen weit über die Energieversorgung hinaus. Im Jahr 2016 wurde eine eigene Stiftung ins Leben gerufen, um Gelder aus den Energieprojekten legal und nachhaltig der Gemeinde zukommen zu lassen, insbesondere den Vereinen und Strukturen, die das gesellschaftliche Leben prägen. Dadurch wurden Infrastrukturprojekte wie neue Straßenbeleuchtung, Gehwegbau, Unterstützung für Vereine, eine Umgehungsstraße, Fenster im Dorfgemeinschaftshaus und ein beleuchteter Fußballplatz realisiert. Dies hat dazu geführt, dass junge Leute wieder ins Dorf ziehen und das Dorfleben aufblüht.

Feldheim ist zu einem internationalen Vorbild geworden. Das Interesse ist ungebrochen; vor Corona besuchten bis zu 3.000 Menschen jährlich aus aller Welt das Dorf, darunter Präsidenten und Regierungsvertreter. Selbst die Frau des ehemaligen japanischen Premierministers Abe besuchte Feldheim, um die Energiewende kennenzulernen, und ein japanischer Schauspieler turnte in der Maissilage, um die Ungefährlichkeit erneuerbarer Energien zu demonstrieren.

Eine Botschaft für Deutschland und die Welt Feldheim zeigt, dass die Energiewende machbar ist, wenn man das Machbare als Ziel setzt und gemeinsam mit den Menschen vor Ort arbeitet, anstatt mit der Brechstange vorzugehen. Es ist ein Beweis dafür, dass Akzeptanz für große Energieprojekte entsteht, wenn die lokale Bevölkerung über unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten am Erfolg teilhaben kann.

Die hier produzierten großen Energiemengen werden in Ballungsräumen, Gewerbe und Industrie benötigt. Deutschland, einst Exportweltmeister bei Automobilen, hat die Chance, das Thema Energie zu einem neuen Exportschlager zu machen. Feldheim gibt Politikern Rückenwind, sich den schwierigen Diskussionen zu stellen und zu zeigen: „Lasst uns doch mal Feldheim besuchen.“

Feldheim ist stolz auf das Erreichte und blickt optimistisch in die Zukunft. Es ist der Beweis, dass man die Herausforderungen der Energiewende meistern und die Technologien erfolgreich umsetzen kann, indem man informiert, aufklärt und die Bevölkerung einbezieht, anstatt über deren Köpfe hinweg zu bauen. Für die Bewohner von Feldheim ist es die eigene Zukunft.

Siemensstadt Square: Berlins Zukunftsviertel vereint Historie und Innovation

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Berlin Spandau erlebt eine visionäre Transformation: Auf dem über 100 Jahre alten Industriegelände der Siemensstadt entsteht mit dem Siemensstadt Square ein neues urbanes, innovatives und klimaneutrales Stadtquartier, das Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet. Siemens, ein weltweit führendes Technologieunternehmen, verfolgt das ehrgeizige Ziel, diesen traditionsreichen Standort in ein modernes, lebendiges Viertel zu verwandeln, das die digitale Zukunft repräsentiert und sich nahtlos in das historische Erbe Berlins einfügt. Das Projekt steht für die Symbiose von Tradition und Innovation, Stadt und Metaverse und wird in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle in der Entwicklung Berlins spielen.

Die Siemensstadt, ein Stück lebendige Industriegeschichte mitten in Berlin, wurde ab 1897 von Siemens erschlossen, um dem wachsenden Flächenbedarf gerecht zu werden. Ab 1914 offiziell als Siemensstadt bekannt, entwickelte sich das 76 Hektar große Areal in Berlin Spandau zu einem industriellen Zentrum, das Siemens zu einem globalen Namen machte. In den Werkshallen und Produktionsstätten, wie dem berühmten Dynamowerk und den Schaltwerkhallen, wurden technologische Meilensteine gesetzt. Mehr als nur ein Produktionsstandort, war die Siemensstadt ein Symbol für den Aufstieg der deutschen Industrie und den Innovationsgeist. Jetzt, über ein Jahrhundert später, erlebt das Gebiet eine Renaissance.

Das Siemensstadt Square Projekt ist kein gewöhnliches Bauvorhaben, sondern ein ehrgeiziges Experiment. Bis 2035 soll auf dem ehemaligen Produktionsgelände ein neuer Stadtteil entstehen, der das Beste aus verschiedenen Welten vereint. Auf rund 1 Million Quadratmetern Fläche entstehen nicht nur neue Wohnungen und Büros, sondern auch Räume für Forschung, Bildung und Kultur. Geplant sind fast 3.000 neue Wohnungen, von denen fast ein Drittel als Sozialwohnungen vorgesehen sind. Der zentrale Boulevard, gesäumt von Läden, Cafés und gemütlichen Plätzen, wird das Herzstück des Quartiers bilden. Um nachhaltiges Leben zu fördern, wird der alte S-Bahnhof Siemensstadt reaktiviert, sodass die Bewohner ohne Auto auskommen können. Historische Gebäude wie das Schaltwerkhochhaus werden in das neue Viertel integriert, um eine spannende Mischung aus Alt und Neu zu schaffen.

Ein echtes Highlight des Projekts ist der Einsatz der digitalen Zwilling Technologie. Hierbei handelt es sich um eine digitale Kopie des gesamten Stadtteils, in der jede Straße, jedes Gebäude und jede Grünfläche virtuell dargestellt wird. Dies ermöglicht es den Planern, den Stadtteil schon vor dem ersten Spatenstich zu visualisieren und bis ins kleinste Detail anzupassen, was hilft, Fehler zu vermeiden und den Bauprozess effizienter zu gestalten. Auch nach der Fertigstellung bleibt der digitale Zwilling bestehen und wird ständig mit neuen Daten gefüttert, um Wartungen besser zu planen und Probleme frühzeitig zu erkennen. Diese Technologie macht Siemensstadt Square zu einem Vorreiter in Sachen Smart Cities, die intelligent und lebenswert sind.

Ein zentrales Ziel ist es, ein nachhaltiges und klimaneutrales Stadtviertel zu schaffen. Das Quartier soll angeblich vollständig CO2-neutral betrieben werden und nutzt dabei 100% erneuerbare Energien. Statt herkömmlicher Energiequellen setzt Siemensstadt Square auf eine Kombination aus Solarenergie, Geothermie und der Nutzung von Abwärme aus lokalen Quellen. Das Konzept der Schwammstadt, bei dem Dächer und Grünflächen Regenwasser auffangen und speichern, trägt dazu bei, das Mikroklima zu verbessern und Überschwemmungen zu verhindern. Intelligente Verkehrssysteme, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie die Schaffung von Fahrrad- und Fußgängerwegen sollen den Autoverkehr reduzieren. Grüne Parks, Dachgärten und Fassadenbegrünungen sind ebenfalls feste Bestandteile des Plans, um die Lebensqualität zu steigern und die Biodiversität zu fördern.

Ein entscheidender Faktor für den Erfolg des Siemensstadt Square Projekts ist die aktive Einbindung der Bürgerinnen und Bürger. Von Anfang an hat Siemens in Zusammenarbeit mit der Stadt Berlin darauf gesetzt, die Menschen vor Ort umfassend zu informieren und ihre Meinungen und Ideen in die Planung einfließen zu lassen. Regelmäßige Informationsveranstaltungen, offene Workshops und ein spezieller Infopavillon sorgen für Transparenz und Partizipation. Dieses Vorgehen hat nicht nur das Vertrauen der Anwohner gestärkt, sondern auch dazu beigetragen, das Projekt besser an die tatsächlichen Bedürfnisse anzupassen und Siemensstadt Square zu einem lebendigen, funktionalen und menschenfreundlichen Stadtteil zu machen.

Siemensstadt Square ist weit mehr als nur ein weiteres Stadtentwicklungsprojekt; es steht symbolisch für die Zukunft des urbanen Lebens. Bis 2035 soll hier ein Stadtteil entstehen, der zeigt, wie nachhaltige, vernetzte und lebenswerte Städte aussehen können und in dem rund 35.000 Menschen eine neue Heimat finden. Das Projekt will beweisen, dass technologische Innovation und ökologische Verantwortung Hand in Hand gehen können. Durch den Einsatz eines digitalen Zwillings, die Nutzung erneuerbarer Energien und moderner Mobilitätskonzepte wird hier ein zukunftsweisender Lebensraum geschaffen. Langfristig gesehen wird die Erneuerung der Siemensstadt nicht nur für ihre Bewohner und Arbeitnehmer von Vorteil sein, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung Berlins insgesamt leisten. Siemensstadt Square soll als Modellprojekt dienen und könnte als Blaupause für andere Städte weltweit dienen.

Alexanderplatz im Umbruch: Berlins Ringen um die Skyline

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Der Alexanderplatz, mehr als nur ein Ort – er ist ein Gedächtnisspeicher Berlins, ein „Seismograph für das, was Berlin gerade denkt, hofft oder verdrängt“. Seit Jahrzehnten ist der Alexanderplatz eine Bühne für ambitionierte Pläne und enttäuschte Hoffnungen, doch jetzt scheint sich das Blatt zu wenden. Nach 30 Jahren der Debatte wird nicht mehr nur diskutiert, sondern endlich gebaut. Der Platz, der einst ein Viehmarkt war und später zu einem „urbanen Biest“ mit regem Verkehr und modernen Bauten wie dem Alexanderhaus und Berolina Haus heranwuchs, wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt und von der DDR als sozialistisches Zentrum neu geformt, mit dem Fernsehturm als weithin sichtbarem Wahrzeichen. Nach dem Mauerfall jedoch wurde er zu einer Problemzone, gezeichnet von Investorenplänen, die immer wieder verworfen wurden.

Kollhoffs Vision wird Realität – mit Anpassungen
Die aktuelle Bauwelle ist eng mit einem Masterplan aus dem Jahr 1993 verbunden, entworfen von Hans Kollhoff. Dieser sah zehn 150 Meter hohe Wolkenkratzer vor – eine „vertikale Vision für ein horizontales Berlin“. Lange Zeit galt der Plan als „völlig aus der Zeit gefallen“, doch nun, drei Jahrzehnte später, wird er wieder hervorgeholt. Obwohl nicht komplett und nicht eins zu eins umgesetzt, lebt die Grundidee weiter: Statt nur Fläche zu planen, wird jetzt in die Höhe gedacht. Vier Hochhäuser entstehen derzeit gleichzeitig, auch wenn einige noch mit den Fundamenten oder Genehmigungen kämpfen.

Vier Projekte prägen die neue Skyline

Derzeit formen vier Großprojekte das zukünftige Bild des Alexanderplatzes:

• MYND Tower: Dieses 134 Meter hohe Gebäude des Architekturbüros Kleihues und Kleihes entsteht dort, wo jahrzehntelang das Galeria Kaufhaus dominierte. Der Turm soll „Denken, Arbeiten, Genießen miteinander verbinden“ und neue Arbeitswelten schaffen. Er bietet etwa 50.000 Quadratmeter Nutzfläche für Büros und Gastronomie, darunter einen Food Culture Market in luftiger Höhe und rund 1000 Quadratmeter für gemeinnützige oder öffentliche Nutzung. Der Bau begann 2020, stagnierte jedoch aufgrund der Insolvenz der Signa-Gruppe von René Benko. Seit der Übernahme durch Kommerz Real im Jahr 2023 schreitet der Bau sichtbar voran und soll Ende 2025 fertiggestellt sein.

• Covivio Tower (ALX): Nur wenige Schritte vom MYND Tower entfernt wächst dieser 133 Meter hohe Turm des Berliner Architekturbüros Sauerbruch Hatten. Der Covivio Tower ist ambitioniert und soll Arbeitsplatz, Zuhause, Marktplatz, Spielplatz und Aussichtsplattform in einem sein. Er bietet rund 63.000 Quadratmeter Nutzfläche, aufgeteilt in Büros, Einzelhandel und Wohnungen, darunter auch öffentlich geförderte, sowie eine Kita und Gemeinschaftsflächen. Ein Herzstück ist der 2500 Quadratmeter große, öffentlich zugängliche Dachgarten. Der Bau war technisch anspruchsvoll, da die Türme auf 40 Meter tiefen Betonpfählen ruhen und eine 3 Meter dicke Bodenplatte über der U-Bahnlinie 2 liegt. Beim Aushub sackte die Tunnelwand leicht ab, was zu einer vorübergehenden Stilllegung führte. Trotz dieser Panne geht der Bau weiter und soll Ende 2026 fertiggestellt sein. Das Projekt setzt auf Nachhaltigkeit mit Geothermie, Regenwassernutzung und Photovoltaik, angestrebt sind Lead Gold und Wired Score Zertifizierungen.

• Hines Tower: Dieser geplante Turm soll 150 Meter hoch werden und 39 Etagen beherbergen, mit einem Hotel im unteren Bereich und bis zu 300 Wohnungen darüber. Der ursprüngliche Entwurf stammt vom Starbüro Jerry Partners aus dem Jahr 2014. Doch während andere Projekte voranschreiten, bleibt es hier seit Jahren still. Baubeginn ist frühestens 2026 geplant, da der Bauantrag noch eingereicht und genehmigt werden muss. Der Hines Tower symbolisiert, wie schwierig es ist, in Berlin überhaupt erst mit dem Bau zu beginnen.

• Alexander Tower (Capital Tower / Monarch Tower): Dieses Wohnhochhaus direkt neben dem Alexa Einkaufszentrum sollte 150 Meter hoch werden und 35 Etagen mit 377 Luxuswohnungen, Spa, Fitnessstudio und Pool umfassen. Der Bau begann im November 2019 und war bereits zur Hälfte fertiggestellt, als er im Dezember 2022 abrupt zum Stillstand kam. Der Hauptinvestor Monarch mit Sitz in Moskau ist wirtschaftlich „abgetaucht“, es fließt kein Geld mehr. Berlin reagierte mit einem Bußgeld von 10 Millionen Euro, das bisher nicht gezahlt wurde. Obwohl der Turm technisch solide vorbereitet ist, mit 43 Betonpfählen, die 40 Meter tief reichen, und einer 4 Meter dicken Bodenplatte, ist er zu einem „eingefrorenen Versprechen“ geworden.

Herausforderungen unter der Oberfläche
Alle Bauprojekte am Alexanderplatz teilen eine gemeinsame, unsichtbare Hürde: den Boden unter ihren Füßen. Direkt unter dem Platz kreuzen sich drei U-Bahn-Linien, ein „Nervensystem aus Tunneln, Kabeln und Technik“. Hinzu kommen alte Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg und ein sehr hoher Grundwasserspiegel. Jeder Spatenstich kann hier „eine kleine Katastrophe auslösen“. Deshalb werden bis zu 40 Meter tiefe Pfähle in den Boden gerammt, auf denen 3 oder 4 Meter dicke Betonplatten ruhen – eine Bauweise, die an den Bau eines U-Boots an Land erinnert. Parallel dazu erfordern Genehmigungen, Abstimmungen und Abnahmen einen langwierigen Prozess, bei dem der Bezirk das eine, der Senat das andere und verschiedene Behörden wie die BVG und die Denkmalpflege ihre Anforderungen stellen. Ein Turm ist am Ende nicht nur ein Entwurf, sondern das Ergebnis Hunderter Entscheidungen, viele davon „unter der Erde, hinter verschlossenen Türen“.

Die politische Debatte: Wollen wir eine Skyline?
Die Frage, ob diese Hochhäuser überhaupt entstehen sollen, spaltet Berlin ähnlich stark wie der Bau des Flughafens. Bürgermeister Kai Wegner befürwortet die Entwicklung, inspiriert von New York, und sieht darin mehr Skyline, Dichte und Höhe für die Stadt, die neuen Wohnraum und Arbeitsplätze sowie eine lebendige Innenstadt schaffen kann. Kritiker hingegen sehen in den Hochhäusern „Fremdkörper“, die zu groß, zu kühl und zu profitgetrieben sind, und fragen, wem sie wirklich dienen – den Berlinern oder Investoren mit „Briefkasten in Luxemburg“. Dahinter steht die größere Frage, wie Berlin in Zukunft gestaltet werden soll: kleinteilig mit Höfen und Altbauten oder nach oben wachsend wie Frankfurt oder Rotterdam. Der Alexanderplatz ist kein neutraler Ort, sondern ein „Testfeld für Politik, für Architektur und für unsere Vorstellung davon, wie Berlin in Zukunft sein soll“.

Berlin ist keine Stadt der schnellen Entscheidungen. Wer hier baut, verhandelt mit der Geschichte, der Verwaltung und dem eigenen Anspruch. Der Alexanderplatz ist der „härteste Prüfstand“ für das, was Berlin einmal sein will. Manche sehen in den Türmen Hoffnung, andere ein Mahnmal für Größenwahn, doch fest steht: Der Platz bewegt sich, nicht linear, nicht perfekt, aber sichtbar. Und genau dieses „ewige Ringen um das richtige Maß zwischen Vergangenheit und Zukunft“ macht die Energie Berlins aus.