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Ex-Agent Leo Martin: Alltag im Geheimdienst, V-Leute und der NSU-Fall

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Die Welt der Geheimdienste ist für die meisten von uns ein undurchsichtiges Geflecht aus Verschwiegenheit und verdeckten Operationen. Doch wer sind die Menschen, die in diesem Schattenreich agieren, und wie sieht ihr Alltag aus? Leo Martin, ein ehemaliger Geheimagent und Verfassungsschützer, gewährt einen seltenen Einblick in seine frühere Tätigkeit und enthüllt die komplexen Herausforderungen und psychologischen Belastungen dieses hochsensiblen Berufs.

Vom Polizisten zum Agenten: Ein ungewöhnlicher Werdegang Leo Martin, dessen wahrer Name streng geheim ist – „den kennt nur das Finanzamt“ –, beschreibt seinen Weg zum Geheimagenten als eine klassische Polizeiausbildung, gefolgt von einem Angebot des Innenministeriums. Er entschied sich für ein Studium der Kriminalwissenschaften und die Spezialisierung als Operateur beim Verfassungsschutz. Seine Faszination galt dabei stets dem „Blick hinter die Kulissen“ und den „Abgründen der menschlichen Psyche“.

Was macht ein Verfassungsschützer? Ein Verfassungsschützer ist ein Beamter im öffentlichen Dienst, angesiedelt unter dem Innenministerium, entweder bei einem Landesamt für Verfassungsschutz oder dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Ihre Kernaufgabe ist die Erhebung und Auswertung von Informationen, die auch verdeckt gewonnen werden dürfen, beispielsweise durch den Einsatz technischer Mittel oder – und hier liegt Martins Spezialgebiet – durch V-Leute, also menschliche Quellen. Der Auftrag umfasst die Beobachtung und Abwehr extremistischer Organisationen (Links-, Rechts- oder Ausländerextremismus), die Spionageabwehr und in einigen Bundesländern auch die Bekämpfung der organisierten Kriminalität.

Das Herzstück der Arbeit: Der Umgang mit V-Leuten Als Operateur besteht Martins Alltag hauptsächlich aus der Führung von V-Leuten, von denen er je nach Einsatzgebiet fünf bis zwölf gleichzeitig betreuen konnte. Diese wurden ein- bis dreimal pro Woche getroffen.

• Der erste Kontakt: Leo Martin legte beim ersten Kontakt „relativ schnell die Karten auf dem Tisch“. Er offenbarte, dass er für den Nachrichtendienst arbeitet, bot eine Zusammenarbeit an und zeigte gleichzeitig „Innenseiter Wissen“ über die Zielperson, um sie zur Mitarbeit zu motivieren. Dies führte zu einer „Schocksituation“, in der die Zielperson das Bedürfnis entwickelte, Sicherheit zurückzugewinnen und herauszufinden, „was wissen die wirklich, was wollen die wirklich“.

• Vertrauensaufbau: Entscheidend war, dass der V-Mann das Erlebnis macht, dass Informationen, die er liefert, niemals zu seinem Nachteil führen. Zunächst wurden Informationen über Konkurrenzorganisationen abgegriffen, bevor der V-Mann in einem Moment der Schwäche (z.B. bei ungerechter Behandlung innerhalb der eigenen Organisation) erstmals Informationen aus seiner eigenen Gruppe herausgab. Dieser Prozess, so Martin, funktioniere „erstaunlich schnell“.

• Motivation jenseits des Geldes: V-Leute werden nicht reich. Sobald Informanten merken, dass ihre Informationen mit Geld abgegolten werden, neigen sie dazu, Geschichten zu erfinden, die „immer wilder“ und „immer spannender“ werden, aber nicht der Realität entsprechen. Daher war es entscheidend, den V-Mann „weg vom Geld […] hin zur Beziehung“ mit dem Operateur zu bringen, sodass er es „für mich tut“.

• Unterschiede bei Extremisten: Die Arbeit in der linken Szene, die „antiautoritär“ und „antistaat“ ist, unterscheidet sich fundamental von der Arbeit in der rechten Szene. Während im linken Milieu oft Personen in die Organisation eingeschleust und dort aufgebaut werden müssen, ist es im rechten Bereich, der einen „starken Staat“ bevorzugt, einfacher, jemanden „herauszubrechen“ und anzuwerben.

• Informationsbewertung: Informationen werden niemals ungeprüft übernommen, sondern jede Information von jedem V-Mann wird auf zwei Ebenen bewertet: die Zuverlässigkeit des V-Mannes und die Verifizierbarkeit der einzelnen Informationen. Berichte gehen erst dann nach außen, wenn sie von zwei, besser drei Quellen bestätigt wurden.

Der Alltag eines Agenten: Zwischen Alibi und Isolation Als Alibi-Beruf diente Leo Martin die Bezeichnung „Projektmanager“. Diese Legende ist flexibel gestaltbar und erfordert außer Methodenwissen „im Zweifelsfall nichts“, was das Risiko minimierte, bei Fachfragen aufzufliegen.

Der Preis für diese Geheimhaltung war jedoch hoch:

• Einschränkungen im Privatleben: Freunde wurden weniger, und die Fähigkeit, Verpflichtungen einzugehen, litt massiv, da Einsätze unplanbar sind. Selbst Martins Mutter erfuhr erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst von seiner wahren Tätigkeit.

• Partner als einzige Ausnahme: Die einzige Person, die die Art des Berufs erfahren durfte, war der Partner. Allerdings wurden auch hier keine konkreten Fälle, Namen oder Zahlen besprochen, um „Kopfkino“ und „morgen Drama“ zu vermeiden.

Das Dilemma: Verfassungsschutz und Polizei Ein ständiges „Spannungsfeld“ besteht zwischen Verfassungsschutz und Polizei. Die Polizei unterliegt dem „Legalitätsprinzip“, muss also bei Kenntnis einer Straftat einschreiten. Der Verfassungsschutz hingegen arbeitet nach dem „Opportunitätsprinzip“, das ihm einen gewissen Ermessensspielraum einräumt. Das bedeutet, bei „relativ einfachen Delikten“ können Geheimdienste „wegschauen“, um ihre V-Leute zu schützen, während die Polizei einschreiten müsste. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen führen zu Reibungen, die jedoch „in einem gewissen Niveau“ managbar seien und vom Rechtsstaat so vorgesehen.

Der NSU-Fall: Warum der Verfassungsschutz scheiterte Die Frage, wie der NSU „unter den Augen des Verfassungsschutzes passieren“ konnte, beantwortet Leo Martin mit der Struktur der Gruppe: Die Kernkompetenz der Landesämter für Verfassungsschutz ist es, in „bewusst abschottende Organisationen“ einzudringen, die ein „großes Netzwerk“ und geteilte Werte haben. Der NSU war jedoch eine kleine Gruppe von drei Personen, die ihre Taten nicht nach außen bekannt machte, was sie „relativ schwierig zu detektieren“ machte. Trotz umfangreicher polizeilicher Ermittlungen in verschiedenen Bundesländern war der NSU „besser, stärker, cleverer, gewiefter unterm Radarf“ und hatte bis zum Ende an vielen Stellen „Glück“.

Keine moralischen Konflikte und spezielle Ausrüstung Leo Martin betont, dass er in seinen zehn Jahren Dienst „nie und zwar kein einziges Mal über eine moralische Hürde springen“ musste und jede Nacht gut geschlafen habe, da er V-Leute führte, um „unsere Rechte und Freiheiten zu schützen“. Die spionage-technische Ausrüstung eines Agenten ist oft unspektakulärer als gedacht. Abgesehen von verdeckten Kameras in Knopflöchern oder Taschen waren es oft simple Hilfsmittel wie ein Klebestreifen, um eine Tür offen zu halten, oder Werkzeuge zur Reparatur kleiner Defekte.

Zusammenfassend lässt sich die Arbeit eines Geheimagenten als ein ständiger Drahtseilakt beschreiben, bei dem das Erlangen und Bewerten von Informationen durch menschliche Quellen im Mittelpunkt steht, während gleichzeitig ein extrem hohes Maß an Geheimhaltung und psychologischer Belastbarkeit gefordert wird. Es ist wie das Arbeiten in einem Labyrinth mit unsichtbaren Wänden: Man muss die Wege kennen, die Fallen umgehen und das Vertrauen derer gewinnen, die selbst im Verborgenen agieren, um die Sicherheit des Ganzen zu gewährleisten.

Mario Rölligs Kampf gegen die SED-Diktatur und sein Vermächtnis

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Berlin – Mario Röllig, dessen Fluchtversuch aus der DDR im Jahr 1987 scheiterte und der daraufhin drei Monate im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen inhaftiert war, engagiert sich heute in zahlreichen Projekten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und ist Vorsitzender der Lesben und Schwulen in der Union in Berlin. Seine Geschichte ist ein Zeugnis persönlicher Freiheit und des unermüdlichen Kampfes gegen Unrecht.

Ein „normales“ Leben mit Einschränkungen
Vor seinem Fluchtversuch führte Mario Röllig ein Leben, das er als „ganz normal“ beschreibt, wie das Millionen anderer DDR-Bürger und Jugendlicher. Doch dieses Leben war von den Restriktionen des sozialistischen Staates geprägt. Obwohl er das Abitur anstrebt hatte, war die Möglichkeit dazu stark reglementiert: In einer Klasse von 30 Schülern durften nur vier die Erweiterte Oberschule besuchen, und Röllig gehörte nicht zu den Auserwählten. Die Auswahl bevorzugte junge Menschen mit „regimetreuer“ Einstellung, deren Eltern oft in Fabriken arbeiteten, um die Arbeiterklasse zu fördern.

Sein Vater riet ihm zur Gastronomie, wo er die Möglichkeit sah, „viel Geld zu verdienen“. Röllig fand einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz im Flughafen Berlin-Schönefeld, das damals als „Tor zur Welt“ galt. Obwohl er sich selbst als unpolitisch einschätzte, wusste er aus dem Alltag heraus, dass er mit Gästen nicht über Politik, schon gar nicht kritisch, sprechen durfte, da „immer Menschen im Umfeld, Kollegen oder andere Leute im Restaurant, die große Ohren bekamen und zuhörten“, dies weiterleiten könnten.

Die Liebe als Auslöser der Flucht
Der Wendepunkt in Rölligs Leben kam mit seinem Coming-out als schwuler Mann im Alter von 16 Jahren. Er verliebte sich 1985 auf einer Urlaubsreise nach Budapest in einen Mann aus West-Berlin. Ein Jahr nach ihrem Kennenlernen, als sein Freund ihn regelmäßig in der DDR besuchte, wurde die Stasi auf sie aufmerksam. Viele uniformierte Grenzbeamte waren Stasi-Leute, die genau prüften, wer ein- und ausreiste.
Im November 1986 wurde Röllig von zwei Männern des Ministeriums für Staatssicherheit in das Büro seines Chefs im Flughafenrestaurant zitiert.

Sie waren mit seiner Arbeit zufrieden, wollten ihn aber als Informanten anwerben, um Informationen über seinen West-Berliner Freund zu sammeln – dessen Schwächen, Stärken, Charakter, politische Einstellungen und Freundeskreis. Mario Röllig weigerte sich, Freunde zu verraten, „und schon gar nicht die erste große Liebe“.

Die Stasi reagierte mit Druck: Sie wussten über seinen Führerscheinantrag, die zehnjährige Wartezeit auf einen Trabant und seine Hoffnung auf eine eigene Wohnung, für die Singles in Ost-Berlin acht Jahre warten mussten. Sie versprachen ihm ein neues Auto innerhalb von drei Wochen und die freie Wahl des Wohnbezirks in Berlin, wenn er kooperiere. Röllig provozierte sie mit der Forderung nach einer Wohnung in „West-Berlin Charlottenburg“ – eine absolut tabuisierte Antwort.

Drei Wochen später verlor er seinen Arbeitsplatz und wurde zum Hilfsarbeiter als Abwäscher am S-Bahnhof Berlin-Schöneweide degradiert. Die Stasi drohte ihm, dass er bis zum Ende seines Lebens abwaschen müsse, wenn er nicht kooperiere, und bei einmaligem Zuspätkommen als „arbeitsscheu und asozial“ verhaftet würde. Diese Drohungen verstärkten seine Angst und trieben ihn in die Flucht.

Obwohl Homosexualität in der DDR gesetzlich entkriminalisiert war (Paragraph 175 wurde entschärft), war sie in der Bevölkerung nicht anerkannt, und die Gründung offizieller Selbsthilfegruppen war verboten.

Der missglückte Fluchtversuch
Mario Röllig plante seine Flucht im Alleingang, niemandem erzählte er davon. Er flog 1987 für seinen Jahresurlaub nach Budapest und fuhr per Anhalter in den Süden Ungarns, um Polizeikontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu vermeiden. Er versteckte sich in einem Graben an der Grenze zu Jugoslawien, sah aber aus 150 Metern Entfernung stündlich patrouillierende ungarische Armeepolizei. Sein Plan war, nach Einbruch der Dunkelheit loszurennen, was er auch tat.

Doch er hatte nicht mit den bitterarmen Bauern im Süden Ungarns gerechnet, die im Nebenberuf Kopfgeldjäger für das Regime waren – selbst für Tote gab es Geld. Röllig hörte Schreie, einen Schuss und rannte um sein Leben. Kurz vor den letzten Grenzschildern rutschte er aus und wurde gefasst. Er musste miterleben, wie der Kopfgeldjäger für seine Verhaftung ein Bündel Geldscheine erhielt, was er heute als über einen halben Monatslohn beziffert.

Die Haft: Psychische Tortur statt körperlicher Gewalt
Nach seiner Festnahme wurde Röllig zunächst in einer Zelle in der Grenzstation und dann in Gefängnisse in Kecskemét und Budapest gebracht. Er nahm in einer Woche etwa zehn Kilo ab, da die hygienischen Bedingungen und das Essen unerträglich waren.

Nach einer Woche wurde er mit anderen jungen DDR-Flüchtlingen von zivilen Stasi-Leuten in einem Sonderflugzeug nach Berlin-Schönefeld zurückgebracht. Röllig musste vor dem Flug eine Beruhigungstablette einnehmen, um gewaltsame Spritzen zu vermeiden. In Berlin angekommen, wurde er in einem fensterlosen Containerwagen – beschrieben als „Besenschrank große dunkle Zellen“ – nach Hohenschönhausen transportiert. Dort erlebte er eine entwürdigende Ankunft: unter Gebrüll und Geschrei wurde er aus dem Wagen gezerrt, umringt von Männern mit Gummiknüppeln. Er musste sich an eine Wand stellen, Hände hinter den Kopf, Gesicht zur Wand, Schnürsenkel und Gürtel abgeben – eine Szene, die ihn an einen Nazi-Film erinnerte und ihm das „letzte Rest Heimat“ nahm.

In Hohenschönhausen erhielt er die Gefangenen-Nummer 328. Seine Zelle war zwar sauber, aber die Heizung lief im Hochsommer auf Hochtouren, wodurch die Temperatur 35 bis 40 Grad erreichte. Er wurde tagsüber ständig durch den Türspion beobachtet.

Die Vernehmungen waren eine psychologische Tortur. Der erste Vernehmer schrie ihn an und beleidigte ihn als „schwules asoziales Element“. Der zweite, über Monate zuständige Vernehmer war gegensätzlich: freundlich, gepflegt, auf sein Persönlichkeitsbild angesetzt. Dieser Vernehmer eröffnete ihm, er könne mit zwei bis acht Jahren Haft rechnen, möglicherweise mit 15 Mördern in einer Zelle, was für ihn als schwulen Mann „bestimmt nicht angenehm“ wäre. Ihm wurde vorgeworfen, das Vaterland verraten, den Weltfrieden gefährdet und einen Atomkrieg provoziert zu haben. Die Stasi bot ihm an, seine Strafe zu reduzieren, wenn er andere aus seinem Umfeld belastete. Um niemanden zu verraten, zählte Röllig stundenlang die Blätter der Wandtapete.

Körperliche Folter fand in Hohenschönhausen zu dieser Zeit nicht mehr statt; stattdessen wurde hauptsächlich „seelisch gefoltert“. Dies lag daran, dass die DDR Gefangene an den Westen verkaufte, um Devisen zu erhalten – 90.000 bis 120.000 D-Mark pro Person in den 1980er Jahren – und die Freigelassenen im Westen keine Folterspuren zeigen sollten.

Die wundersame Freilassung und der Weg in die Freiheit
Nach nur drei Monaten wurde Mario Röllig entlassen – sein „größtes Glück“. Die DDR war Ende 1987 wirtschaftlich „völlig pleite“ und brauchte dringend Geld. Rölligs Name wurde im Westen bekannt. Seine Eltern, die er zutiefst stolz nennt, weigerten sich, jeden Kontakt zu ihm abzubrechen, wie es von einer „sozialistischen Familie“ erwartet wurde. Stattdessen informierten sie heimlich Freunde in West-Berlin. Diese Freunde kontaktierten ein prominentes Rechtsanwaltsbüro, das wiederum beste Kontakte zum innerdeutschen Ministerium der Bundesregierung hatte. So kam Röllig auf die geheime Freikaufsliste der Bundesrepublik Deutschland für politische Gefangene. Er wurde ohne Gerichtsprozess oder Urteil, aber mit einem Amnestie-Beschluss entlassen.

Obwohl seine Eltern ihn mit offenen Armen empfingen, musste er noch vier Monate als Hilfsarbeiter abwaschen. Er nahm bewusst an Veranstaltungen der Opposition teil, was der Stasi reichte, um ihn als „gefährlich“ und „ohne Angst“ einzustufen. Am 7. März 1988 wurde er von der Stasi zum Bahnhof gebracht und in einen Zug gesetzt. Die Stasi drohte ihm, ihn wieder zu verhaften, sollte er um Mitternacht noch auf DDR-Staatsgebiet sein, und warnte ihn davor, öffentlich über seine Erlebnisse zu sprechen, da ihm überall etwas zustoßen könnte und seine Eltern bekannt seien. Am 8. März 1988, punkt 0 Uhr nachts, fuhr der Zug mit Mario Röllig über die deutsch-deutsche Grenze in die Freiheit. Dies war der schönste Augenblick seines Lebens.

Der Schatten der Vergangenheit: Begegnung mit dem Vernehmer und die Folgen
Jahre später, 1997, arbeitete Röllig als Verkäufer in der Zigarrenabteilung des Berliner KaDeWe. Dort traf er zufällig seinen ehemaligen Stasi-Offizier, der ihn über Monate verhört und seelisch gefoltert hatte. Der Vernehmer, der ihn nicht erkannte, kaufte teure Zigarren. Röllig sprach ihn an, stellte sich vor und forderte eine Entschuldigung. Der Vernehmer reagierte mit Schreien und der Aussage, Röllig sei damals zu Recht in Haft gewesen und es gäbe keinen Grund zur Reue.

Dieses Erlebnis stürzte Mario Röllig in eine tiefe Krise mit Depressionsschüben, Angstattacken und Panikzuständen. Er versuchte, sich das Leben zu nehmen, wurde aber gerettet. Ein Chefarzt diagnostizierte ein Foltertrauma. Er riet Röllig, die Gedenkstätte Hohenschönhausen, das ehemalige Gefängnis, zu besuchen und seine Geschichte zu erzählen, um zu heilen. Dies tut Röllig seit 22 Jahren, um sicherzustellen, dass das Thema nicht vergessen wird.

Ein weiterer Schlag war die Einsicht in seine Stasi-Akten im Jahr 1997, die 2000 Seiten umfassen. Das Schlimmste war nicht die Verhörprotokolle, sondern die Erkenntnis, wer ihn alles verraten hatte: Nachbarn, wenige Arbeitskollegen und vor allem sein damaliger bester Freund. Bei einem Treffen in einem Berliner Café, als Röllig seinen Freund zur Rede stellte, wies dieser jede Schuld von sich. Seitdem haben sie sich nie wiedergesehen. Das Vertrauen ist bis heute ein schwieriges Thema für Röllig, auch in Freundschaften und Beziehungen, da er stets die Angst trägt, zu viel von sich preiszugeben und verraten zu werden.

Nach dem Mauerfall und die Vision für die Zukunft
Den Mauerfall erlebte Mario Röllig in West-Berlin. Sein Vater rief ihn mitten in der Nacht aus Ost-Berlin an, um ihm die Nachricht zu überbringen. Röllig, zunächst ungläubig, eilte zum Grenzübergang Bornholmer Straße, wo er seine Eltern nach fast zwei Jahren wiedertraf. Doch die Freude war gemischt: Er empfand auch Wut, da die Mauer ihn nicht nur von seiner Familie getrennt, sondern ihn im Westen auch „geschützt“ hatte. Nun musste er all jene wiedersehen, die ihm das Leben in der DDR so schwer gemacht hatten.

Mario Röllig engagiert sich in der CDU, da er sie als einzige Partei sieht, die sich offensiv mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur auseinandersetzt. Er betont die Förderung von Gedenkstätten und Zeitzeugenprojekten, die seit Angela Merkels Kanzlerschaft stärker geworden sei.

Für die heutige Ost-West-Beziehung plädiert er für gegenseitiges Zuhören und Besuche, um Stereotypen wie „Besserwessis“ oder „40 Jahre SED gewählt“ abzubauen. Für junge Generationen sei die Ost-West-Frage heute ohnehin kein Thema mehr.

Freiheit bedeutet für Mario Röllig, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich einzumischen und nicht nur zu meckern. Er mahnt: „Deshalb seit unbequem, stellt Fragen, lasst euch nicht alles bieten und hinterfragt auch selbst unsere demokratische Bundesregierung“. Seine Geschichte ist eine eindringliche Erinnerung daran, dass Demokratie niemals selbstverständlich ist und ständiges Engagement erfordert, um nicht eines Morgens in einer Diktatur aufzuwachen.

Gefangen in der DDR: Schicksale von politischen Häftlingen und ihr Kampf für Freiheit

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Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war ein Staat, der seine Bürger scharf kontrollierte und jegliche Abweichung von der offiziellen Linie streng verfolgte. Vier persönliche Berichte – von Erich Loest, Ulrich Schacht, Simone Langrock und Jürgen Fuchs – zeichnen ein tiefgreifendes Bild vom politischen Konflikt mit dem DDR-Regime und den traumatischen Erfahrungen von Verhaftung, Haft und Freilassung. Ihre Geschichten beleuchten die Härte des Systems, aber auch die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes.

Die Verhaftung: Ein plötzliches Ende der Normalität
Für Erich Loest, 1926 in Mittweida/Sachsen geboren, kam die Verhaftung am 14. November 1957 am Abend, während er bei seinem Vater war. Drei Männer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erschienen und nahmen ihn fest. Die Begründung: Mitgliedschaft in einer „staatsfeindlichen Gruppe“, die den Sturz der DDR-Regierung zum Ziel hatte. Loest, der sich als Kommunist verstand und sich für Demokratie innerhalb der Bewegung einsetzte, war drei Tage zuvor aus der SED ausgeschlossen worden.

Ulrich Schacht, 1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wurde am Morgen des 29. März 1973 in Wismar von zwei MfS-Beamten festgenommen. Ihm wurde am nächsten Tag „staatsfeindliche Hetze“ (§106 StGB DDR) und „Hetze gegen das sozialistische Ausland“ (§108 StGB DDR) vorgeworfen. Diese Anklage bezog sich auf Gedichte, Kurzgeschichten und Aufsätze, die in seinem Freundeskreis zirkulierten und Themen wie die innerdeutsche Grenze oder die Ereignisse von 1968 in der Tschechoslowakei behandelten. Auch die Verbreitung westlicher Bücher und Rundfunksendungen wurde ihm angelastet. Schacht verstand sich als „demokratischer Sozialist“.

Simone Langrock, 1957 in Leipzig geboren, erlebte ihre Verhaftung am 22. April 1980 um acht Uhr morgens in ihrer Wohnung durch vier Stasi-Mitarbeiter. Ihr wurde lediglich der Haftbefehl des Staatsanwalts vorgelegt, eine detaillierte Begründung erhielt sie nicht.

Jürgen Fuchs, 1950 in Reichenbach/Thüringen geboren, wurde am 19. November 1976 – drei Tage nach der Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann – in Grünheide bei Berlin aus einem Personenwagen geholt. Die Begründung bezog sich auf seine Schriften, seine Haltung und seine Freundschaften zu Dissidenten wie Biermann und Robert Havemann. Fuchs sah sich als kritischer Marxist, der die Wahrheit sagen und Zensur bekämpfen wollte, überzeugt davon, dass „wo Unrecht alltäglich wird, dann wird Widerstand zur Pflicht“.

Die Haft: Isolation, Demütigung und Zwangsarbeit
Der erste Tag im Gefängnis war für alle Betroffenen von Schock und Isolation geprägt. Erich Loest beschreibt das „Nacktmachen“, das „Betatschen“ bei der Leibesvisitation als Prinzipien der Demütigung, die die Selbstachtung senken sollten. Das Zuschließen der Zellentür und das Geräusch des Riegels waren eine „große, lange nachwirkende traumatische Situation“. Er fühlte sich über Wochen und Monate allein und isoliert, ohne Zeitung oder Buch. Loest verbrachte von 1957 bis 1964 politische Haft.

Ulrich Schacht saß im berüchtigten Zuchthaus Brandenburg. Das Gefängnis, ursprünglich für 900 Insassen konzipiert, beherbergte zu seiner Zeit dreieinhalbtausend. Einzelhaft war dort unüblich, da Zellen durchbrochen wurden und bis zu 17 Häftlinge auf 25 Quadratmetern leben mussten. Schacht erlebte jedoch drei Wochen „Einzelhaft“ im unterirdischen Arrestblock auf einem Steinbett, weil er versuchte, mit westdeutschen Häftlingen Nachrichten über Haftbedingungen auszutauschen. Körperliche Misshandlungen erlebte er nicht, hörte aber Schreie und Zeugenaussagen über Brutalität.

Simone Langrock wurde nach monatelangen Vernehmungen von 1980 bis 1982 inhaftiert. Sie kam in das Frauengefängnis Hoheneck, wo die Bedingungen als „miserabel“ beschrieben werden. Auch hier gab es Arreststrafen, die Wochen des Kontaktabbruchs zu anderen Häftlingen und Angehörigen bedeuteten.

Die Vernehmungen waren für alle eine Tortur. Loests Vernehmer versuchten, ihm eine „staatsfeindliche Gruppe“ und den Sturz der Regierung anzulasten. Sie übten psychologischen Druck aus, indem sie drohten, seine Frau festzunehmen, wenn er nicht „die Wahrheit“ sage. Schacht berichtet, dass seine Vernehmer „außerordentliche Geduld und Langsamkeit“ zeigten und über umfangreiches Material gegen ihn verfügten. Simone Langrock wurde kurz nach der Geburt ihres Kindes vernommen, leugnete zunächst alles und weigerte sich, andere zu belasten. Sie stellte fest: „jedes Wort, was man bei der Staatssicherheit sagt, sich immer gegen einrichtet“. Jürgen Fuchs’ Vernehmer galten als „unheimlich gut geschult“ und „sehr standfest“. Er glaubte, dass sie wirklich an das glaubten, wofür sie standen.

Zwangsarbeit war ein fester Bestandteil des Haftalltags. Loest musste in den letzten zwei Haftjahren bei zwei Betrieben arbeiten, die Niederlassungen im Gefängnis hatten: Fernsehgeräte zusammenstecken und Elektromotoren bauen. Er erhielt nur eine Mark pro Motor, während die Anstalt 52 Mark pro Häftling vom Betrieb kassierte – eine Ausbeutungsrate, die er nicht ausrechnen konnte. Schacht arbeitete in einer Schneiderei, die Strahlenanzüge für Soldaten produzierte. Er beklagte den Einsatz hochgiftiger Klebstoffe ohne Schutzmaske und Frischluft; er bezeichnete es als „Sklavenarbeit“. Langrock produzierte in Hoheneck Bettwäsche, die auch in die Bundesrepublik verkauft wurde. Sie empfand, dass Häftlinge als „billigste Arbeitskraft“ ausgenutzt wurden, da der Großteil ihres Verdienstes in die Staatskasse floss.

Der Prozess und die Rechtsbeugung
Die Gerichtsverfahren waren oft eine Farce. Ulrich Schachts Prozess im November 1973 vor dem Bezirksgericht Schwerin fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Richter, Bassong, war als „härtester Bursche“ bekannt. Schachts Verteidigerin konnte faktisch nichts am Urteil ändern, bot aber „menschliche Sympathie“ und unterstützte den Kontakt zur Familie.

Jürgen Fuchs’ Verteidiger, Dr. Kolbe, belog ihn über den Anklageparagraphen. Er nannte ihm den §19 (staatsfeindliche Hetze) anstatt des viel schwerwiegenderen §15 (Staatsverrat), der Haftstrafen von nicht unter fünf Jahren vorsah. Fuchs bezeichnete das Verhalten seines Verteidigers als „Schweinerei, ein Betrug“, da dieser „kampflos, schnell und ohne Aufheben“ das Verfahren abwickeln wollte. Es gab keine Zeugen der Verteidigung, nur Zeugen der Anklage.

Die Urteile waren oft hoch und niederschmetternd. Schacht, der sieben Jahre und fünf Jahre Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte erhielt, hatte fünf Jahre erwartet. Simone Langrock, verurteilt zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus und Entzug der Bürgerrechte, war schockiert, da sie durch ihren Anwalt mit zwei bis drei Jahren gerechnet hatte.

Die Trennung von den Liebsten
Eine der größten Qualen war die Trennung von den Familien. Simone Langrock war zweieinhalb Jahre von ihrem Kind getrennt, das bei ihrer Verhaftung sieben Monate alt war. Ihr Sohn war zu jung, um es zu verstehen, aber er entwickelte später Trennungsängste. Besuche waren streng reglementiert, fanden unter Aufsicht statt, und es durfte nicht über die Gründe der Verhaftung oder den Strafvollzug gesprochen werden. Kinder unter 14 Jahren durften nicht zu den Besuchen mitgebracht werden. Simone empfand diese Besuche als „qualvolle Situationen“, die sie emotional mehr belasteten, als dass sie eine Gnade gewesen wären.

Die Entlassung und das Leben danach
Die Entlassung, oft nach Jahren der Ungewissheit, war für die Betroffenen ein zwiespältiges Erlebnis. Erich Loest, nach über sieben Jahren freigelassen, benötigte fast 15 Jahre, um über seine Erlebnisse zu schreiben, und weitere sieben Jahre, um etwas zu verfassen, das er als substanziell empfand. Er verließ die DDR im März 1981 und lebt seither als freier Schriftsteller in Osnabrück. Loest bedauerte im Nachhinein, nicht mit seiner Familie ausgereist zu sein, wenn er die Folgen gekannt hätte.

Ulrich Schacht wurde am 17. November 1976 mit einem Bus in den Westen gebracht. Er beschreibt diesen Moment als unwirklich und emotional überwältigend, ähnlich der Verhaftung. Die Möglichkeit, in den Westen auszureisen, sah er als „erpresserisch“ an, da damit angedeutet wurde, dass andere Freunde in Haft bleiben würden, wenn er sich weigerte. Schacht ist auch heute noch ein „demokratischer Sozialist“, der sich den sozialdemokratischen Ideen zugewandt hat.

Jürgen Fuchs wurde nach neun Monaten Untersuchungshaft ohne Prozess nach Westberlin abgeschoben. Sein Tag der Entlassung, der 8. September 1982, war „sehr widersprüchlich“. Er empfand Freude über die Freiheit, aber auch die „Belastung, dass man Menschen zurücklässt, mit dem man zweieinhalb Jahre zusammen war“. Sein Verhältnis zum DDR-System ist gebrochen, nicht aber zu den Menschen dort. Er stärkte seine sozialkritische und kritisch-kommunistische Haltung.

Simone Langrock sah ihr Kind im Dezember 1982 in der Bundesrepublik wieder. Sie kann nicht und will nicht vergessen, was sie in der DDR erlebt hat, fühlt sich aber auch nach zwei Jahren in der Bundesrepublik politisch noch nicht angekommen.

Die Geschichten dieser vier Menschen sind wie die Fragmente eines Mosaiks, das die Schrecken der politischen Haft in der DDR zusammenfügt. Sie sind ein Mahnmal dafür, wie ein Staat seine Bürger zu unterdrücken versuchte, und ein Zeugnis für den unerschütterlichen Wunsch nach Freiheit und Wahrheit, der selbst hinter den dicksten Mauern nicht zerbricht.

Wie die deutsche Psychiatrie im Nationalsozialismus mitschuldig wurde

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Die Geschichte der deutschen Psychiatrie im Dritten Reich ist ein schmerzhaftes Kapitel, das von ideologischer Verblendung, grausamen Verbrechen und einer erschreckenden Verstrickung medizinischer Fachkräfte in die NS-Vernichtungspolitik geprägt ist. Anders als oft angenommen, wurde die Psychiatrie nicht lediglich von den Nationalsozialisten missbraucht; sie brauchte die Nazis, um lange gehegte Forderungen nach „Sichtung und Vernichtung lebensunwerten Lebens“ umzusetzen.

Die Wurzeln der Ideologie: „Lebensunwertes Leben“
Die Vorstellung, dass manche Menschen als „Ballast-Existenzen ohne Gemeinschaftswert“ gelten und ihr Leben als „lebensunwert“ anzusehen sei, war keine Erfindung der Nazis. Bereits lange vor 1933 forderten „ehrbare Professoren“ die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Prominente Psychiater wie der deutsche Psychiatrie-Papst Emil Kraepelin beklagten 1909, dass die Fürsorge die „geistig Minderwertigen am Leben lassen“ und die „Tüchtigen im Kampf ums Dasein“ schädige. Anstaltsleiter wie Hermann Simon erklärten 1931, es werde „wieder gestorben werden müssen“. Diese vor-nazistische Denkart ebnete den Weg für die späteren Gräueltaten.

Von der Sterilisierung zur Massenvernichtung
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann 1933 die „wissenschaftlich völlig unsinnige Massensterilisierung“ angeblich erbkranker Menschen. Die ersten Opfer waren Bewohner von Anstalten und deren Angehörige, gefolgt von Hilfsschülern, Blinden, Tauben, „Soziallästigen“ und schließlich politischen Gegnern. Insgesamt wurden etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, viele von ihnen für ihr ganzes Leben ruiniert. Prominente Mediziner wie Geheimrat Professor Karl Bonhoeffer, Direktor der psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, traten für die „Ausmerzung des Schwachsinns“ ein und arbeiteten als Gutachter für Sterilisierungsgerichte.

Der Übergang von der Sterilisierung zur direkten Tötung erfolgte im Sommer 1939, als Nazi-Funktionäre, Psychiatrie-Direktoren und Professoren die Tötung der Geisteskranken und Behinderten durch Giftgas berieten. Ins Gas sollten alle, die seit fünf Jahren in Anstalten untergebracht waren, sowie jene, die in Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten zu beschäftigen waren. Die Psychiater sahen darin eine Gelegenheit, die „Unproduktiven und Unheilbaren“ zu beseitigen – diejenigen, die ihnen „tagtäglich ihr Unvermögen, nicht teilen zu können, vor Augen führen“.

Die Tötungsanstalten und die Rolle der Ärzte
Die „Endlösung“ – die Massenvernichtung durch Giftgas – begann in Posen, genauer gesagt im Fort 7, einer ehemaligen preußischen Befestigungsanlage, die als Konzentrationslager und Hinrichtungsstätte genutzt wurde. Im Herbst 1939 wurde hier erstmals Giftgas an Menschen erprobt, an polnischen und jüdischen Patienten.

In Deutschland wurden sechs Vergasungsanstalten eingerichtet, darunter Bernburg, Brandenburg an der Havel und Schloss Hartheim. Allein in Bernburg wurden 1940/41 exakt 70.273 Kranke und Behinderte in Gaskammern ermordet. Opfer wie Elvira Manthey, die als Kind die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ erhielt, wurden 1940 zur Vergasung aus Uchtspringe abtransportiert. Elvira Manthey war noch keine sieben Jahre alt, als sie 1938 in die Anstalt kam, weil ihr Vater „arbeitsscheu“ und dies als erblich galt – sie wurde als „erbfolglich“ bezeichnet. Ihre jüngere Schwester Lisa wurde 1940 einen Tag vor ihrem fünften Geburtstag abtransportiert und in Brandenburg vergast. Elvira Manthey ist heute die einzige Überlebende von insgesamt 70.000 Abtransportierten.

Die Anstaltsärzte und Professoren feierten die Ermordung der Unheilbaren als „Höhepunkt der Psychiatrie-Geschichte“. Auf Konferenzen herrschte eine „berauschende Gehobenheit“. Es gab sogar einen regelrechten „Vergasungstourismus“, bei dem Ärzte die Vergasung von Frauentransporten begafften. Paul Nitsche, ein Psychiatrie-Professor, äußerte: „Es ist doch herrlich, wenn wir in den Anstalten den Ballast loswerden und nun wirklich richtige Therapie treiben können“. Als „richtige Therapie“ galten dabei Insulin- und Elektroschocks, die oft schwere Knochenbrüche oder lebensgefährliche Wirbelverletzungen verursachten.

Der unerträgliche Forschungshunger: Kinder als Versuchsobjekte
Besonders grausam war die gezielte Ermordung von Kindern. Zahlreiche „Kindermordabteilungen“, oft von Ärztinnen geleitet, wurden eingerichtet. Hier konnten Mediziner Kinder und Jugendliche ohne Tabus testen, befragen, töten und sezieren. Die Nazizeit bot den Ärzten die „einmalige Gelegenheit, sich Patienten bestellen und sich ihre Gehirne bedienen zu können“. Kinder wie Valentina Zachernie dienten als „lebendes Hirnforschungsmodell“ und wurden getötet, damit ihre Gehirne seziert und in Lehrbüchern abgebildet werden konnten. Andere Kinder wurden wie „Labortiere zu Forschungszwecken verbraucht“. Dr. Georg Hensel, ein Allgäuer Arzt, infizierte Kinder in Kaufbeuren zu Studienzwecken mit Tuberkulose. Den Kindern wurde vor ihrer Tötung oft Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit entzogen und stattdessen Luft eingeblasen – ein schmerzhafter Eingriff, an dem viele starben.

Trotz der Verbrechen behaupteten die Täter nach dem Krieg, sie hätten „wahre Monster von einem Dasein ohne Leben erlöst“. Kinderarzt Dr. Wilhelm Baier verteidigte sich damit, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur gegen Menschen begangen werden könnten, und die „Lebewesen“, die zur Behandlung standen, nicht als Menschen zu bezeichnen seien.

Die Nachkriegszeit: Vertuschung und mangelnde Aufarbeitung
Das Sterben in den Anstalten hörte nicht mit dem Ende des Krieges auf. In vielen Einrichtungen, wie der Karl Bonhoeffer Nervenklinik in Berlin-Wittenau, Schloss Hoym oder Teupitz, stieg die Sterblichkeit nach der Befreiung sogar drastisch an, da Patienten verhungerten, während das Personal Lebensmittel unterschlug.

Erschütternd ist auch die mangelnde juristische und moralische Aufarbeitung nach 1945. Viele der Täter setzten ihre Karrieren fort, oft sogar in leitenden Positionen und erhielten Auszeichnungen. Beispielsweise wurde Professor Berthold Ostertag, der an der Sektion von Valentina Zachernie beteiligt war, nach 1945 Leiter der Neuropathologie der Uni-Nervenklinik Tübingen und erhielt das Große Bundesverdienstkreuz. Dr. Elisabeth Hecker, verantwortlich für Kinder-Euthanasie in Lubliniec, wurde nach 1945 Leiterin der Jugendpsychiatrie in Hamm und bekam das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Diese Fortsetzung der Karrieren zeigt die tiefe Verankerung der Ideologie und die mangelnde Bereitschaft zur echten Aufarbeitung. Tragischerweise wurden die als „lebensunwert“ erklärten, sterilisierten und ermordeten Opfer nie als NS-Verfolgte anerkannt.

Elvira Manthey, die das Grauen der Anstalt Uchtspringe überlebte, ringt noch heute mit den Erlebnissen: „Es war sehr schwer mit solchen Erlebnissen weiterzuleben und ich musste schweigen und musste das in mir verarbeiten, aber ich habe es bis heute noch nicht verarbeitet“. Sie versuchte sogar, sich das Leben zu nehmen, weil sie es „einfach nicht mehr tragen konnte“.

Die Geschichte der deutschen Psychiatrie im Dritten Reich ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie eine vermeintlich fortschrittliche Wissenschaft zu einem Instrument der Vernichtung werden kann, wenn sie moralische Grenzen überschreitet und sich in den Dienst einer menschenverachtenden Ideologie stellt. Es ist eine dunkle Erinnerung daran, dass der Mantel der Wissenschaft die Gräueltaten nicht verdecken darf, und dass eine tiefe Aufarbeitung der Vergangenheit entscheidend ist, um sicherzustellen, dass sich solche Abscheulichkeiten niemals wiederholen.

Man könnte sagen, die psychiatrischen Anstalten im Dritten Reich waren wie düstere Theaterbühnen, auf denen die Täter ihre tödlichen Ideologien aufführten, während die Patienten nicht als Schauspieler, sondern als stumme Requisiten dienten, deren Leben und Leiden für die perfide Inszenierung von „Rassenhygiene“ und „Ausmerzung“ verbraucht wurden. Das Publikum? Die Gesellschaft, die oft wegsehen oder applaudieren wollte.

Wie Wilhelm und Henrich Focke die deutsche Luftfahrtgeschichte prägten

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Die deutsche Luftfahrtgeschichte begann nicht in weit entfernten Laboren oder prestigeträchtigen Ingenieurschulen, sondern am Weserdeich in Bremen, mit den bescheidenen, aber kühnen „kleinen Hüpfern“ zweier Brüder: Wilhelm und Henrich Focke. Sie waren Pioniere, deren unterschiedliche Naturen sich ideal ergänzten und die gemeinsam – und manchmal auch getrennt – die Luftfahrt revolutionierten.

Wilhelm Focke: Der träumerische Visionär und Künstler
Wilhelm Focke, der ältere der beiden Brüder, war die treibende Kraft und ein sprudelnder Quell an Ideen. Schon früh zog es ihn in die Luft. Wie viele angehende Flugtechniker seiner Zeit begann er mit Gleitflügen, die mitunter gefährlich waren, aber das Gefühl des Getragenseins in der Luft vermittelten. Sein schöpferischer, künstlerischer Geist war es, der immer wieder sagte: „Wir müssen das schaffen, wir werden fliegen, das muss gehen!“.

Wilhelm war ein genialer Naturbeobachter, der die Dynamik und Kräfte der Natur aus dem Bauch heraus fühlen und in Zeichnungen umsetzen konnte. Ob Segeln, Strandroller oder Fliegen – die Schönheit der Linien und die zugrundeliegende Dynamik faszinierte ihn. Sein erstes großes Ziel war das Fliegen, und die „Ente“ war sein erster Erfolg. Dieser einzigartige Flugzeugtyp, von der Firma Rumpler gebaut und mit dem Geld eines Freundes finanziert, machte im Herbst 1909 auf dem berühmten Bornstedter Feld seinen Jungfernflug. Das Telegramm von diesem Flug – „Bin heute erstmalig geflogen! Endlich ist famos. Hundert Meter weit, sieben Meter hoch“ – erreichte die Familie zu einem Zeitpunkt, als Henrich gerade zum Abitur gehen wollte. Für den Vater der Brüder, Johann Focke, war das Fliegen jedoch eine unnötige Träumerei, und er legte Wert auf eine „richtige Ausbildung“.

Trotz seiner Leidenschaft für die Technik war Wilhelm in erster Linie Künstler. Gegen den Rat des Vaters studierte er Malerei in Düsseldorf, München und Berlin. Er verkaufte seine Bilder sehr früh gut, obwohl ihm finanzieller Erfolg unwichtig war. Er pendelte zwischen Berlin und Bremen und verbrachte viel Zeit an der Wümme, seinem liebsten Ort zum Malen. Selbst in den 20er-Jahren übernahm er einen Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule, wo er Akt- und Landschaftsmalerei unterrichtete, am liebsten in der Natur. Wilhelm hatte seinen Stil gefunden: naturverbunden, kraftvoll, farbenreich und auf Bewegung ausgerichtet.

Abseits der Malerei sprudelten Wilhelms Ideen weiter. Ganz nebenbei konstruierte er innovative Geräte wie den Strandsegler, der damals nirgendwo auf der Welt existierte und Geschwindigkeiten von bis zu 80 Stundenkilometern erreichen konnte. Auch Eissegler für die winterliche Wümme entwickelte er. Obwohl er fantastisch in handwerklichen Dingen war, fehlte ihm das Geschick, seine Erfindungen oder seine Kunst zu vermarkten. Er war stets auf die Hilfe anderer angewiesen, um damit Geld zu verdienen.

Wilhelms Privatleben wurde in der Familie weitgehend ausgeklammert; seine Homosexualität wurde stillschweigend akzeptiert. Die Zeit des Dritten Reiches war für ihn besonders schwierig. Als bekannter Künstler mit einer kritischen Haltung erhielt er ein Ausstellungsverbot. Er verbrachte viel Zeit im Verborgenen auf seiner Insel, um dem Druck zu entgehen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er es schwer, sich als Künstler zu ernähren, verkaufte kaum Bilder und erhielt nur eine sehr geringe staatliche Unterstützung. Doch seine Lebensgeister blieben ungebrochen, und er fand trotz aller Widrigkeiten in hohem Alter, ab etwa 70 Jahren, eine tiefe innere Zufriedenheit mit seinem Leben und seinen Errungenschaften.

Henrich Focke: Der präzise Konstrukteur und Ingenieur
Henrich Focke, Wilhelms jüngerer Bruder, bewunderte dessen Genialität und hatte die Fähigkeit, Wilhelms Ideen in die Realität umzusetzen, insbesondere durch sein Studium. Er war die nötige Ergänzung zu Wilhelms Visionen, derjenige, der das Systematische umsetzte. Ihm war es wichtig, mit einfachen Mitteln zu arbeiten, da sie nicht viel Geld hatten.

Nachdem Wilhelm mit seiner „Ente“ Erfolge erzielt hatte, zog es Henrich nach Berlin zu seinem großen Vorbild. Die Brüder bauten ihren ersten Flugzeugschuppen in Bremen am Neuenlander Feld, dem heutigen Standort des Bremer Flughafens, und experimentierten mit einem geschenkten 8-PS-Rennradmotor und einem selbstgehobelten Propeller.

Henrichs Karriere als Flugzeugkonstrukteur nahm schnell Fahrt auf. Gemeinsam mit Georg Wulf gründete er die Focke-Wulf Flugzeugbau AG. Hier legte Henrich die Grundlagen des Flugzeugbaus, insbesondere die Beherrschung von Aerodynamik und Lasten. Ihre erste große Konstruktion war die „Möwe“, ein kleines Passagierflugzeug, das als das sicherste und wirtschaftlichste Verkehrsflugzeug seiner Zeit galt, vor allem dank seiner hervorragenden Tragflächen-Aerodynamik. Henrich erwies sich als überragender Konstrukteur, für den Verlässlichkeit und absolute Sicherheit oberste Priorität hatten. Tragischerweise kam sein Partner Georg Wulf 1927 bei einem Testflug ums Leben.

Mit Beginn der 30er-Jahre gerieten Flugzeugfabriken ins Visier nationalsozialistischer Bestrebungen. Henrich wollte keine Flugzeuge als Kriegsgerät bauen, musste aber mit ansehen, wie der Vorstand seiner Aktiengesellschaft den neuen Machthabern Platz einräumte. Er wurde zwar NSDAP-Mitglied, konzentrierte sich aber auf Zivilsachen und insbesondere auf ein neues, visionäres Ziel: die Entwicklung des Hubschraubers, den Senkrechtstarter.

Henrich Focke war weltweit allen anderen voraus. 1936 landete der berühmte Flieger Charles Lindbergh auf dem Neuenlander Feld, um Fockes neueste Entwicklung zu bestaunen: die FW 61, den weltweit ersten flug- und vor allem lenkfähigen Hubschrauber. Henrich hatte damit den Wettlauf gegen Igor Sikorsky in den USA gewonnen, auch wenn die Propaganda in Deutschland Sikorsky später oft als den Ersten darstellte. Die bekannte Pilotin Hanna Reitsch führte den Hubschrauber vor 18.000 Zuschauern in der Berliner Deutschlandhalle vor und vertraute dabei voll auf die einwandfreie Technik des Konstrukteurs Focke.

Nach 1945 erhielt Henrich Focke ein Berufsverbot, kam in Gefangenschaft und wurde aufgefordert, für die Franzosen zu entwickeln. Später ging er nach England, Holland und Brasilien, baute auch dort Hubschrauber, bevor er Mitte der 50er-Jahre nach Deutschland zurückkehren und wieder konstruieren durfte. Bei Carl Borgward fand er einen Platz für seine Hubschrauberideen, und sie träumten von der Serienproduktion eines „Hubschraubers für jedermann“. Doch dieser Traum endete tragisch mit der Pleite von Borgward, als Henrich Focke bereits 71 Jahre alt war.

Dennoch gab Henrich niemals auf. Selbst in einem kleinen Bremer Hinterhof baute er einen neuen Windkanal, erforschte Strömungen und Luftwiderstände und publizierte wissenschaftliche Erkenntnisse. Er nutzte einfache physikalische Prinzipien und konnte mit Küchenwaagen und Gewichten hochpräzise Messungen durchführen, die dem Stand der Technik entsprachen. Trotz aller Rückschläge und der Tatsache, dass er in Deutschland oft zu Unrecht in den Schatten gestellt wurde, war Henrich Focke mit dem Erreichten zufrieden. Heute werden am Neuenlander Feld, dem ehemaligen Standort des ersten Schuppens der Brüder, Airbus-Teile gebaut, ein Zeugnis ihres nachhaltigen Vermächtnisses.

Eine ungleiche Partnerschaft, die die Welt bewegte
Wilhelm und Henrich Focke waren Brüder, die unterschiedlicher kaum hätten sein können, aber in ihrer Leidenschaft für das Erfinden, Konstruieren und vor allem das Fliegen untrennbar verbunden waren. Wo Wilhelm im Genialen steckenblieb, verwandelte Henrich es in Realität. Henrich kümmerte sich auch sein Leben lang um seinen Bruder, wie er es dem Vater versprochen hatte, da Wilhelm als Künstler nicht „ökonomisch überlebensfähig“ war.

Ihr Schaffen war ein Paradebeispiel dafür, wie Vision und Präzision Hand in Hand gehen müssen, um bahnbrechende Innovationen zu schaffen. Wilhelms unendliche Ideen und sein künstlerisches Gespür für Dynamik legten den Grundstein, während Henrichs systematische Herangehensweise, sein Fokus auf Sicherheit und seine ingenieurtechnische Umsetzung diese Träume flugfähig machten.

Man könnte ihre Zusammenarbeit mit einem Künstler und seinem talentierten Bühnenbauer vergleichen: Der Künstler (Wilhelm) hat die kühnen, oft fantastischen Ideen für ein atemberaubendes Spektakel. Er sieht die Farben, die Bewegungen, die Emotionen – das große Ganze. Doch es ist der Bühnenbauer (Henrich), der mit seinem präzisen Wissen um Statik, Materialien und Mechanik die Vision des Künstlers greifbar macht, die Kulissen aufstellt und die komplizierte Technik installiert, damit die Show tatsächlich stattfinden und das Publikum verzaubern kann. Einer lieferte die Flügel der Fantasie, der andere die Mechanik, die sie in die Lüfte hob.

Ärzte ohne Gewissen: Das grausame Erbe der Menschenversuche im Dritten Reich

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Im Dritten Reich bot sich Medizinern eine beispiellose, verlockende Möglichkeit: Statt auf Meerschweinchen und Laborratten, konnten sie Menschen für Versuchszwecke nutzen. Diese erschreckende Freiheit führte zu einer Reihe von unfassbaren Verbrechen, die das Fundament der medizinischen Ethik erschütterten.

Gehirne ermordeter Kinder und die Gleichgültigkeit der Forschung In Wien sammelten Mediziner, darunter Heinrich Gross, die Gehirne und Gehirnschnitte von etwa 400 ermordeten Kindern aus psychiatrischen Einrichtungen. Die Hirnforschung bediente sich schlicht am Überfluss dieser „Materialien“, ohne Rücksicht auf die Umstände des Todes oder das Einzelschicksal der Opfer. Kinder wurden zu medizinischen Präparaten reduziert, ihr Leid und ihre Angst vor Ärzten, die nicht halfen, sondern sie als Forschungsobjekte und „Verbrauchsmaterial“ sahen, wurde ignoriert.

Gewebeschnitte hingerichteter Frauen: Die Karriere eines Anatomieprofessors Dr. med. Hermann Stieve, Ordinarius der Berliner Universität, machte seine Karriere mit Arbeiten über die Entwicklung des Eierstocks und widmete sein Leben der Einwirkung von Angst und Schrecken auf diese Organe. Er sammelte Daten aus dem Intimleben von Opfern während ihrer Haft und verarbeitete hingerichtete Frauen des deutschen Widerstandes, darunter Elisabeth Schumacher und Ilse Stöbe, zu Gewebeschnitten. Stieve starb 1952 als Ordinarius der Berliner Humboldt Universität und wurde postum zum Ehrenmitglied der Deutschen Bühnenökologischen Gesellschaft ernannt.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft – Eine treibende Kraft hinter den Verbrechen Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der personell identische Reichsforschungsrat, ansässig im ehemaligen Haus der Forschung in Berlin-Steglitz, rüsteten die deutsche Forschung heimlich auf. Sie finanzierten Studien, die von der Erfassung von „Zwergnegern“ in Kambodscha bis zur Erfassung von Sinti und Roma reichten, die in Auschwitz vernichtet wurden, sowie vieles andere, was „rassisch oder militärisch nützlich“ erschien. Genehmigungen in der Sparte Medizin erteilte der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der auch die menschenmordende Forschung Josef Mengeles in Auschwitz-Birkenau bewilligte.

Skrupellose Experimente an wehrlosen Patienten und KZ-Häftlingen

• Multiple Sklerose-Studien: Professor Georg Schaltenbrand nutzte in Schloss Werneck, der „schönsten Psychiatrie Deutschlands“, wehrlose Patienten für Menschenversuche. Er versuchte, sie mit Multipler Sklerose anzustecken, indem er ihnen Affen-Liquor (Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit) injizierte. Seine Experimente scheiterten vorzeitig, da seine Versuchspersonen im Rahmen der Nazi-Euthanasie „abtransportiert und vergast“ wurden. Trotz seiner NSDAP- und NS-Ärztebund-Mitgliedschaft wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn nach dem Krieg dank eines Gutachtens eingestellt, das seine Versuche weder für strafbar noch für sittlich anfechtbar befand.

• Mauthausen –  Hunger, Impfstoffe und der „Schlachter“ Dr. Heim: Im Konzentrationslager Mauthausen wurden zahlreiche Häftlinge, gezeichnet von Hunger, für Ernährungsversuche und Verträglichkeitstests von Impfstoffen der Behring-Werke missbraucht. Einige Impflinge wurden ohne Gesicht, als „anonyme Versuchsobjekte“ gezeichnet. Der Versuchsleiter Dr. med. Karl Josef Groß konnte sich nach 1945 unbehelligt als Arzt niederlassen. Professor Dr. med. Ernst Günther Schenk, Ernährungsinspekteur der Waffen-SS, dessen Ermittlungsverfahren ebenfalls eingestellt wurde, wurde später „Wiedergutmachungsexperte für Hungerschäden“. Besonders berüchtigt war Dr. med. Aribert Heim, der Augenzeugen zufolge an Sadismus nahezu alle KZ-Ärzte übertraf. Er ermordete Hunderte von Juden mit Spritzen ins Herz, sezierte sie bei vollem Bewusstsein und bereitete ihre Köpfe aus „wegen des guten Gewissens“. Obwohl er als „höflich, gebildet, intelligent, kalt“ beschrieben wurde, verschwand er 1962, als er verhaftet werden sollte, und wird noch heute gesucht.

• Dachau – Höhen- und Unterkühlungsversuche der Luftwaffe: Im KZ Dachau wurden ab 1942 in einem Versuchslabor der Deutschen Luftwaffe höhen- und unterkühlungsversuche an polnischen, russischen und jüdischen Gefangenen durchgeführt. Sie wurden in Unterdruckkammern künstlich in Höhen bis 21 Kilometer gebracht, was zu Krämpfen, Ohnmachtsanfällen, Blindheit, Lähmungen, Wahnsinn und Tod führte. Manche Opfer wurden noch atmend seziert, ihre Organe zur „wissenschaftlichen Auswertung“ entnommen. Bei den Unterkühlungsversuchen wurden die Körpertemperaturen der Verkabelten gemessen, Blut- und Urinproben entnommen und Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit punktiert. Trotz des Todes von Versuchspersonen protestierte bei einem Treffen hochrangiger Mediziner in Nürnberg niemand lautstark oder trat aus Protest zurück. Viele der beteiligten Ärzte, darunter Professoren wie Hans-Joachim Deuticke und Hermann Rhein, setzten ihre Karrieren nach 1945 unbehelligt fort und bekleideten wichtige Positionen.

• Ravensbrück und Buchenwald – IG Farben und pharmazeutische Testreihen: Im KZ Ravensbrück wurden Frauen „bis auf die Knochen geschnitten oder die Knochen mit dem Hammer auf dem OP-Tisch zertrümmert“. Das KZ Buchenwald diente ab 1942 als Experimentierfeld für das Robert-Koch-Institut, die Wehrmacht und die IG Farben, die neue Präparate direkt am Menschen testeten. Gesunde Häftlinge wurden künstlich zu Fleckfieberkranken gemacht, um die Wirksamkeit von Präparaten wie Akridin Granulat und Rote Null zu testen. Diese Mittel zeigten in keinem Fall Wirkung, stattdessen traten zahlreiche Nebenwirkungen auf. Firmen wie Bayer hatten sogar eigene Mitarbeiter in den KZs, wie Dr. med. Helmut Vetter, dessen Einkommen stieg, während seine menschlichen Versuchsobjekte qualvoll zugrunde gingen. Auch hier setzten viele beteiligte Mediziner, darunter Professor Dr. Hermann Meyer und Dr. Bernhard Schmid, ihre Karrieren nach dem Krieg fort.

• Giftgas-Experimente in Spandau und Natzweiler: Die Zitadelle Spandau diente als Gasschutzlabor der Wehrmacht, wo Kampfgase wie Phosgen, Lost, Tabun und Sarin an Menschen erprobt wurden, was zum Tod durch Ersticken führte. Eine Bildersammlung dokumentierte die grausamen Verletzungen der Versuchspersonen. Dr. Dr. Wolfgang Wirth, der Chef-Toxikologe, wurde nach dem Krieg Professor an der Medizinischen Akademie Düsseldorf und Vorstand eines pharmazeutischen Instituts. Im KZ Natzweiler-Struthof wurden ebenfalls Häftlinge Lost-Gas-Experimenten unterzogen, was „kolossale Schmerzen“ und den Tod zur Folge hatte. Trotz der Beteiligung an diesen grausamen Versuchen, darunter auch solche, bei denen manche Häftlinge bewusst ohne Schutz blieben, während andere ein angebliches Gegenmittel erhielten, wurden Professoren wie Eugen Hagen und Otto Bickenbach nach kurzer Haft freigelassen und durften weiterhin als Ärzte arbeiten.

Josef Mengele und das Kaiser-Wilhelm-Institut – Der „Forschungstraum“ in Auschwitz Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Menschliche Erblehre und Eugenik, eine Eliteinstitution der Genetiker, verkörperte die dunkle Seite der Forschung. Unter der Leitung von Professor Otmar Freiherr von Verschuer, dessen Forschung von der DFG finanziert wurde, konzentrierte man sich auf Zwillingsforschung und die Erfassung von Menschen, die verfolgt wurden, darunter Kranke, Behinderte, Homosexuelle, Sinti und Roma. Verschuer’s Lieblingsassistent, Josef Mengele, fand in Auschwitz-Birkenau sein „Forschungsparadies“. Hier standen ihm 100.000 Menschenobjekte, darunter 350 Zwillingspaare, für beliebige Experimente zur Verfügung. Schwangere wurden ab 1944 nicht mehr vergast, sondern die Föten für Forschungszwecke abgetrieben und nach Berlin geschickt. Mengeles Forschung umfasste detaillierte Messungen, Augenuntersuchungen und das Sammeln von Augen, Organen und embryonalem Material für eine geplante „biologische Zentralsammlung“ und sogar einen „Menschenzoo“. Das Kaiser-Wilhelm-Institut „hatte keine Schranken für die Forschung gefördert“, ein Traum, der in Auschwitz-Birkenau „erfüllt“ wurde. Mengele floh nach Südamerika und bereute nichts.

Das Ausmaß dieser Gräueltaten zeigt, wie sich die medizinische Wissenschaft im Dritten Reich von ihren ethischen Verpflichtungen löste und Menschen zu bloßem Material für perverse Forschungszwecke degradierte. Viele der Täter entgingen der Rechenschaftspflicht und setzten ihre Karrieren fort, was eine tiefe Wunde in der Geschichte der Medizin hinterlässt. Die Verbrechen der „Ärzte ohne Gewissen“ sind ein düsteres Mahnmal dafür, wie schnell der Kompass der Moral verrutschen kann, wenn wissenschaftlicher Ehrgeiz und ideologische Verblendung Hand in Hand gehen – wie ein Schiff, das im Sturm seinen Anker verliert und hilflos auf die Felsen zutreibt.

Flucht in die Freiheit: Wie eine Familie der DDR mit einem Agrarflugzeug entkam

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Gadebusch, 25. August 1973 – Ein gewöhnlicher Samstagabend verwandelte sich in der kleinen mecklenburgischen Stadt Gadebusch in eine Nacht des Nervenkitzels und der Verzweiflung, als der Flugzeugmechaniker Jürgen Glaser einen waghalsigen Plan in die Tat umsetzte: die Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit einem Agrarflugzeug vom Typ Z-37 „Čmelák“. Dieser spektakuläre Versuch, dem „Riesengefängnis“ der DDR zu entkommen, wie Glaser es rückblickend beschreibt, sollte das Leben seiner jungen Familie für immer verändern.

Ein Leben in Unzufriedenheit und Überwachung
Die Familie Glaser war erst im Frühjahr 1973 von Dresden nach Gadebusch gezogen, nur zehn Kilometer von der Grenze zur Bundesrepublik entfernt. Obwohl es der Familie finanziell besser ging als vielen anderen, empfanden sie sich als unglücklich und unzufrieden mit dem System der DDR. Die ständige Bevormundung, Bespitzelung und Propaganda belasteten sie schwer. Besonders das Gefühl des Eingesperrtseins und die ständigen Verbote – „dies geht nicht, jenes geht nicht“ – waren unerträglich. Die Verlockungen des Westens, die heimlich über Antennen unter dem Dach empfangen wurden, verstärkten diesen Wunsch nach Freiheit. Es gab nur wenige Möglichkeiten, aus dem Land zu fliehen: durch die Ostsee schwimmen, Tunnel graben oder Ballons bauen – „das ist nicht normal“, so die Überzeugung der Glasers.

Jürgen Glaser, ein gelernter KFZ-Mechaniker mit einer lebenslangen Faszination für die Fliegerei, hatte sich bei der Interflug, der staatlichen Fluggesellschaft, als Flugzeugmechaniker beworben und war angenommen worden. Obwohl er kein Parteimitglied war, was bevorzugt wurde, half ihm seine Ehe bei der Anstellung. Als Stationsmechaniker hätte er sogar die Möglichkeit gehabt, Pilot zu werden, was eine „ganz hohe, enorme“ Position in der DDR darstellte. Doch Glaser wollte weg.

Der waghalsige Plan und die Tücke der Technik
Der Agrarflugplatz Ganze, drei Kilometer von Gadebusch entfernt, war wie jeder Flugplatz in der DDR ein hochsensibler Sicherheitsbereich. Das Betreten war selbst Familienangehörigen der Piloten und Mechaniker verboten. Der Platz wurde „wie ein Maschinengewehr“ bewacht, und jeder Schritt wurde minutiös von Überwachern dokumentiert, die sich im Wald versteckten. Ein unvorbereitetes Abheben war schlichtweg unmöglich. Die Agrarflugzeuge selbst waren mit komplexen Sicherungen versehen: vier Schlüssel, die zwischen Mechaniker und Pilot aufgeteilt waren, und ein langer Sicherungsstab, der den Vergaser blockierte. Ein „Waffeleisen“ am Gashebel und Steuerungshebel der Luftschraube machte es einem Nicht-Piloten fast unmöglich, die Maschine zu fliegen.

Der Entschluss zur Flucht war impulsiv: „Wenn ich da noch länger drüber nachgedacht hätte, hätte ich es sein gelassen“, gesteht Glaser. Am Nachmittag des 25. August 1973, gegen 16 Uhr, wurde der Plan gefasst. Jürgen Glaser überlistete den Piloten, indem er unter dem Vorwand, das Flugzeug waschen zu müssen, den „Waffeleisen“-Schlüssel erbat. Der Chef des Flugplatzes, sein Vorgesetzter, der Pilot, wurde mit einer vorgeschobenen Arbeitspause nach Hause geschickt.

Der Flug ins Ungewisse
Mit einer kleinen Stofftasche, die nur Ersatzunterwäsche, Socken und ein Stofftier für den dreijährigen Sohn Carsten sowie die Personalausweise enthielt, bestieg die Familie Glaser das Agrarflugzeug. Die Angst war immens: die Sorge, abgefangen zu werden, nicht starten zu können, und die Angst um das eigene Leben und das des Kindes. Die Familie saß im hinteren Teil des Flugzeugs, getrennt durch den Düngemittelbehälter. Jürgen Glaser konnte sich mit seiner Frau Heidi nicht mehr verständigen.

Der Start war eine Katastrophe. Jürgen Glaser war kein Pilot und hatte nur wenige Wochen als Mechaniker auf dem Flugplatz gearbeitet. Das Flughandbuch hatte er aus Neugier besorgt, nicht zur Fluchtvorbereitung. Das Flugzeug hob mit zu niedriger Geschwindigkeit „langsam aber sicher“ ab. „Das war unser großes Glück“, so Glaser, denn sonst wären sie sofort abgestürzt. Er flog direkt auf zwei Bäume und die „Zehwanlage“ zu, ein Warnsystem mit roter Lampe und Klingel, das bei zu langsamer Geschwindigkeit auslöste. Aus purer Angst rührte er den Steuerknüppel nicht an, und das Flugzeug schraubte sich wie von selbst hoch, knapp über die Bäume hinweg.

Die ersten 5 bis 10 Minuten flogen sie in nur 200 bis 300 Metern Höhe. Dann stieg Glaser auf 600 Meter, da er wusste, dass die Grenze parallel verlief und sie sich bereits im 7-Kilometer-Sperrgebiet befanden. „Ich wusste, dass es nicht möglich war, mich auf die Schnelle so zu erwischen“, erinnert er sich. Rund 30 Minuten flogen sie die Grenze entlang, mit guter Sicht und klarem Wetter, bis er im Norden den Flugplatz Lübeck-Blankensee erkannte. In diesen 30 Minuten war er „der stolzeste Mensch der ganzen Welt“ und genoss jeden Moment als „Flugkapitän“.

Landung unter Anleitung
Das Glücksgefühl hielt jedoch nicht lange an. Die Landung erwies sich als die größte Herausforderung. Jürgen Glaser beschreibt seine Anflüge auf Blankensee als „falsch“: falsche Höhe, falsche Richtung, wahrscheinlich sogar falsche Geschwindigkeit. Er drehte drei Runden über dem Flugplatz, während 15 Leute unten zuschauten, als sähen sie einen Segelflieger. Ein Seilwindenbediener rief ihm zu: „Junge, komm runter!“.
Glücklicherweise befand sich der Fluglehrer Friedrich Hamesfah auf dem Flugplatz. Er erkannte sofort, dass der Pilot der Z-37 in Schwierigkeiten war und nicht landen konnte. Hamesfah stieg mit einer Cessna auf, fing Glasers Flugzeug ein und lotste ihn zur Landebahn. Das Manöver war kritisch, da eine Kommunikation über Funk nicht möglich war.

Das Leben danach
Die Flucht hatte weitreichende Folgen. Der Pilot, der Jürgen Glaser den Schlüssel gegeben hatte, wurde fliegerisch gesperrt. Heidi Glaser erlitt als Folge der Flucht jahrelang Angstzustände in engen Räumen. Jürgen Glaser selbst litt noch Jahre später unter Nachtalbträumen, in denen er vor eine Mauer gestellt und erschossen wurde. Die Ehe der Glasers hielt nach der Flucht noch sieben Jahre, dann trennten sie sich. Sohn Carsten, damals drei Jahre alt, erinnert sich heute nicht mehr an die Flucht. Jürgen Glaser lebt heute mit seiner zweiten Frau auf Teneriffa und betreibt ein Reiseunternehmen.

Die Flucht der Familie Glaser bleibt ein eindringliches Beispiel für den verzweifelten Wunsch nach Freiheit und die Risikobereitschaft, die Menschen eingingen, um dem Gefühl des Eingesperrtseins in der DDR zu entkommen. Es war ein Sprung ins Ungewisse, angetrieben von einer inneren Notwendigkeit, der zeigt, dass selbst ein unscheinbares Agrarflugzeug zum Symbol der Hoffnung werden kann, wenn die Tür zum Käfig sich öffnet.

Stralsund: Vom morbiden Charme zur strahlenden Hansestadt

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Stralsund, die einstige Hansestadt am Strelasund, hat in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen. Einst gezeichnet von Verfall und Vernachlässigung, präsentiert sie sich heute als stolzes UNESCO-Weltkulturerbe, das mit historischen Baudenkmalen, dem Meeresmuseum und dem Ozeaneum zahlreiche Besucher anzieht. Doch der Weg zur „Perle am Strelasund“ war steinig und forderte immense Anstrengungen und Geduld.

Die Nachwendezeit: Euphorie und Ernüchterung
Nach dem 9. November 1989 herrschte in Stralsund eine anfängliche Euphorie. Viele glaubten an eine neue DDR und die Möglichkeit, Veränderungen herbeizuführen. Die Stimmung war geprägt von Aufbruch und dem Gefühl, dass nun „blühende Landschaften“ entstehen würden, wie es versprochen wurde. Doch diese optimistische Sicht wich schnell der Realität: Es wurde klar, dass die Transformation nicht so schnell und ohne äußere Einflüsse möglich sein würde.

Die Altstadt, die bereits in den 1980er Jahren unter Leerstand und mangelnder Sanierung litt, geriet nach der Wende noch schneller in einen Abwärtssog. Häuser wurden freigezogen, da Menschen Wohnungen in Neubauten fanden, kleine Läden und Kneipen schlossen, und die Lichter gingen aus – die Altstadt starb regelrecht. Besonders die Langenstraße und Frankenstraße boten ein Bild, als wären sie frisch aus dem Krieg gekommen, mit teils nur noch stehenden Fassaden oder wie ausgebombten Häusern. Eine Bewohnerin beschreibt die Frankenstraße damals sogar umgangssprachlich als „Frankensteinstraße“, die wie eine Theaterkulisse wirkte und ihrem kleinen Sohn Angst machte.

Der schlechte Zustand der Altstadt wurde von vielen als Normalität wahrgenommen, da der Fokus auf anderen Dingen lag, wie der Verschönerung des eigenen Wohnraums mit einfachen Mitteln. Das Konzept des Immobilienbesitzes spielte in der DDR nicht die gleiche Rolle wie heute, und mit gesetzlich festgeschriebenen, nicht erhöhbaren Mieten war die Erhaltung von Häusern für Eigentümer uninteressant. Es war kaum vorstellbar, ein Haus in der Stadt aufzubauen oder zu erwerben, es sei denn, man war Handwerker, hatte die nötigen Beziehungen für Material und einen enormen Optimismus. Pläne, große Teile der Altstadt abzureißen und durch Plattenbauten zu ersetzen, ähnlich wie in Greifswald, zeugen von der damaligen Perspektivlosigkeit.

Der mühsame Weg der Sanierung und der Durchbruch
Die ersten Jahre nach der Wende waren von einem gefühlten Stillstand geprägt. Obwohl viel Tiefbau stattfand – Leitungen wurden erneuert, Straßen aufgerissen und Kanalisation sowie Kabel verlegt – waren im Hochbau nur Sicherungsmaßnahmen sichtbar, um Häuser vor dem Einsturz zu bewahren. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse waren ein großes Hindernis. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sich eine Aufbau-Stimmung durchsetzte.

Dennoch wurden erste Maßnahmen ergriffen: Etwa 300 bis 400 einzelne Sicherungsmaßnahmen an Häusern kosteten rund 16 Millionen Euro und zogen sich über lange Zeit hin. Stralsund entwickelte in dieser Phase ein beachtliches „Know-how“ im Umgang mit Hausschwamm und einstürzenden Häusern. Die Priorität lag auf dem Erhalt der vorhandenen Substanz, da sie als Zeugnisse der Geschichte und der stolzen Hansestadt galten.

Ein entscheidender Wendepunkt war die massive Unterstützung durch Städtebaufördermittel, die als „Rettung“ für Städte wie Stralsund beschrieben werden. Diese nutzten die Chance, die Altstadt zu entwickeln und ihr eine Zukunft zu geben. Das Verständnis in der Stadtgesellschaft, Dinge anzupacken, führte zu einer beeindruckenden Geschwindigkeit bei der Umsetzung von Projekten.

Ein sichtbares Zeichen des Wandels ist das Quartier 17, ein großer Neubaublock, der eine kriegsbedingte Baulücke schloss, die durch einen Bombenangriff im Oktober 1944 entstanden war. Obwohl der Bau kontrovers diskutiert wurde, wird er heute als positiver Gewinn für die Stadt wahrgenommen. Stralsund bewahrte die historische Struktur der Stadt, wie Straßenverläufe und Plätze, während neue, moderne Gebäude hinzugefügt wurden, anstatt historische Bauten zu kopieren. Die Vision ist es, eine gute Einheit zwischen historischen und neuen Gebäuden zu finden, wobei jede Zeit ihren Beitrag zur Gestaltung der Stadt leisten soll.

Die Rückeroberung des Hafens und neuer Bürgerstolz
Ein weiteres prägendes Element für Stralsunds Wiedergeburt ist die Wiederbelebung der Hafenbeziehung. Der Hafen, einst Sperrgebiet und nicht zugänglich, ist heute ein kulturelles Zentrum und eine Flaniermeile, besonders die Hafeninsel. Alle Straßen der Altstadt führen zum Hafen, der mit dem Ozeaneum und dem Meeresmuseum ein enormer Anziehungspunkt für Touristen geworden ist. Das Krähen der Möwen und die Atmosphäre am Wasser gehören einfach zu einer Hafenstadt dazu. Es ist beeindruckend, dass diese wunderbaren Flächen nicht privatisiert, sondern für die Allgemeinheit und Besucher zugänglich gemacht wurden. Der Blick von der Hafeninsel hinauf zum Alten Markt und den Kirchen, mit alter und neuer Architektur, Natur und Brücken, ist einzigartig und erzeugt „Gänsehaut“.

Stralsunds Verwandlung ist so tiefgreifend, dass Touristen, die die Stadt in den 1990er Jahren besuchten, heute von einem „Traum“ sprechen. Dieser Wandel hat zu einem wiedererwachenden Bürgerstolz geführt. Man ist stolz auf das Erreichte und dankbar für all jene, die in die Stadt investiert und etwas geschaffen haben.

Die Stadt hat sich von einem melancholisch schlafenden Ort mit mangelnder Sorgfalt und leisem Verfall, wie Franziska Tiburtius Stralsund 1852 beschrieb, zu einer dynamischen und lebenswerten Stadt entwickelt. Stralsunds Geschichte wiederholt sich zwar in Zyklen, aber diesmal ist es eine Geschichte des Wiederaufstiegs.

Stralsunds Reise von einer fast verlorenen Altstadt zu einem blühenden Weltkulturerbe gleicht einem verborgenen Schatz, der unter Schichten von Staub und Verfall begraben lag. Mit behutsamer Hand und großem Einsatz wurde dieser Schatz nicht nur freigelegt, sondern auch restauriert und neu ins Licht gerückt. Heute strahlt er in neuem Glanz und zieht Menschen aus aller Welt an, die seine Schönheit und die Geschichte seiner Wiederentdeckung bewundern möchten.

Wustrow: Die Verbotene Insel im Dornröschenschlaf

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Rerik, Mecklenburg-Vorpommern. Nur wenige hundert Meter hinter dem idyllischen Urlaubsparadies Rerik, malerisch zwischen Salzhaff und Ostsee gelegen, verbirgt sich eine Halbinsel voller Geheimnisse und Gefahren: Wustrow. Seit über 30 Jahren unbewohnt, ist sie ein gefährliches Sperrgebiet und eine Geisterstadt mitten in Deutschland. Doch warum bleibt diese wunderschöne Halbinsel, die einst als „Leben wie im Paradies“ beschrieben wurde, unbebaut, und welche düsteren Geheimnisse birgt sie?

Eine militärische Vergangenheit: Vom Reichsadler zur Roten Armee
Die Geschichte Wustrows ist tief in zwei entscheidende Abschnitte deutscher Geschichte eingebettet. Ein in einem Keller entdeckter Reichsadler, jahrelang hinter Fliesen verborgen, liefert einen unmissverständlichen Hinweis auf die wahre Vergangenheit der Häuser. Ab den 1930er-Jahren befand sich hier die größte Flakschule des Hitlerdeutschlands. Etwa 1500 Soldaten übten hier den Abschuss von Flugzeugen mit Flakgeschützen. Die Häuser dienten als Wohnraum für die Familien der Wehrmachtssoldaten – eine Nazimilitärstadt mit traumhaftem Meerblick, die bereits damals ein Sperrgebiet war. Trotz des militärischen Zwecks wurde das Leben auf Wustrow von den damaligen Bewohnern als paradiesisch empfunden, mit einer eigenen Schule und einem Kindergarten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg über Hitlerdeutschland übernahm die Rote Armee die paradiesische Halbinsel. Die Sowjetsoldaten zerstörten die Nazimilitärbauten, nutzten jedoch die Wohnhäuser und zivilen Gebäude weiter. Für normale DDR-Bürger blieb das Betreten der Insel strikt verboten.

Das sowjetische „Paradies“ und seine Schattenseiten
Von 1945 bis 1993 lebten etwa 4000 sowjetische Soldaten und ihre Familien völlig autark auf Wustrow. Kontakte zur DDR-Bevölkerung gab es kaum. Die russische Militärstadt war umfassend ausgestattet und verfügte über alles Nötige zum Leben: ein Krankenhaus, eine Sporthalle, sogar ein großes Kino, in dem Filme aus der sowjetischen Heimat gezeigt wurden. Hinweise wie Notenblätter in einem Musikzimmer des ehemaligen Kindergartens sowie Schulbücher und Kinderzeichnungen in der Stützpunktschule zeugen vom Leben der russischen Kinder. Soldaten mit höherem Dienstgrad lebten vergleichsweise komfortabel in Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen, in denen sogar noch Fernseher erhalten sind. Die prächtige Villa des Stützpunktkommandanten, von den Nazis erbaut, ist jedoch heute so zerfallen, dass ein Betreten zu gefährlich wäre.

Für die einfachen russischen Soldaten sah das Leben auf Wustrow allerdings ganz anders aus. Sie waren in Massenunterkünften untergebracht, mit bis zu 100 Mann pro Schlafsaal, meist in Doppel- oder Dreistockbetten, und hatten nur einen kleinen Holzschemel für ihre Kleidung. Trotz riesiger Backöfen und zahlreicher Mehlsäcke in der ehemaligen Stützpunktbäckerei mussten die einfachen Soldaten oft hungern und bettelten auf Ausfahrten regelmäßig bei den Einheimischen nach Brot, Äpfeln und Birnen. Ihre Ernährung wurde durch die Haltung von Schweinen verbessert, deren Nachkommen, die einzigartigen gefleckten „Russenschweine“, noch heute auf der Insel leben.

Wustrow war für viele einfache Soldaten eher ein kleines Gefängnis unter voller Überwachung. Deserteure versuchten, von der Halbinsel zum heutigen Urlaubsort Rerik zu schwimmen, wurden jedoch von Wachtürmen aus scharf beschossen. Eine bemerkenswerte Täuschungsstrategie der Sowjets war der Bau eines „Fake-Flughafentowers“ und das Aufstellen von Flugzeugattrappen ohne Motor, die nachts verschoben wurden, um dem westdeutschen Militär eine größere Militärpräsenz vorzugaukeln. Gerüchten zufolge diente der „Tower“ auch als Saunaclub für höhere Dienstgrade.

Ein gefährliches Erbe: Munition, Müll und Ruinen
Als die russischen Soldaten 1993 samt ihren Familien abzogen, ließen sie vieles zurück. Die Halbinsel ist bis heute tonnenweise mit scharfer und verschossener Munition belastet. Der Grund: Die Russen hatten den Auftrag, die Munition nach Hause zu exportieren, entschieden sich jedoch, diese vor Ort zu vergraben und stattdessen auseinandergenommene Westautos in die Container zu packen. So finden sich heute nicht nur dutzende Hülsen verschossener Flakmunition, sondern auch Autoteile und ein hektarweiter Müllhügel auf der Insel. Da es nie eine Müllabfuhr gab, wurde der Abfall von über 4000 Menschen einfach in die Natur gekippt.

Hinzu kommt die extreme Einsturzgefahr der Gebäude. Decken stürzen ein, Böden drohen einzubrechen, was die Halbinsel zu einem lebensgefährlichen Ort macht. Dies schreckt jedoch leichtsinnige „Lost Place“-Fans nicht ab, die sich illegal auf das Gelände schleichen. Um dies zu verhindern, drehen Sicherheitskräfte wie Norbert regelmäßig Kontrollrunden.

Wächter der Geisterstadt und ihre Zukunft
Einer der wenigen Menschen, die das Sperrgebiet jederzeit betreten dürfen, ist der Inselförster Marius Hein. Er kontrolliert das 10 Quadratkilometer große Gebiet regelmäßig. Als studierter Forstwirt kümmert er sich um vielfältige Aufgaben: das Fällen morscher Bäume, die Überwachung des Wildbestands (inklusive Jagd), die Pflege der Ziegenherde, die den Rasen zwischen den Häusern kurz hält, und die Begleitung von Fernsehteams – Marius ist hier eine Art „Lebensversicherung“.

Die Halbinsel Wustrow, von Marius als seltene savannenartige Landschaft beschrieben, fasziniert auch Investoren. 1998 erwarb der Immobilienunternehmer Ano August Jagdfeld das Gelände mit dem Plan, Teile der historischen Geisterstadt wieder aufzubauen sowie ein Hotel und Wohnungen zu errichten. Doch die Stadt Rerik wehrt sich seit Jahrzehnten gegen diese Pläne, vor allem aus Furcht vor erhöhtem Verkehrsaufkommen, und hat mehrere Bebauungspläne abgewiesen.

So verbleibt die Halbinsel Wustrow in einem Dornröschenschlaf. Müll und Munition bleiben vorerst liegen. Lediglich Spezialeinheiten der Polizei nutzen das Gelände regelmäßig für Übungsszenarien wie Häuserkampf und Geiselnahmen, wobei Sprengstoff und Munition zum Einsatz kommen. Während dieser Übungen ist die Insel komplett für die Öffentlichkeit gesperrt.

Obwohl die aktuelle Situation für viele schade ist, bleibt die Halbinsel Wustrow eine faszinierende Zeitkapsel, die zwei entscheidende Abschnitte deutscher Geschichte bewahrt. Sie ist wie ein uraltes Schiffswrack am Meeresgrund, gefüllt mit verborgenen Schätzen und Gefahren, dessen Geheimnisse langsam an die Oberfläche drängen, während die Zeit über seine rostenden Hüllen hinwegzieht, und dessen Bergung noch aussteht.

Bernd Brückner über Honeckers Isolation und den politischen Stillstand im Sommer ’89

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Bernd Brückner, Jahrgang 1948 und ehemaliger persönlicher Leibwächter Erich Honeckers von 1976 bis zum Ende der DDR 1989, gibt im Gespräch tiefe Einblicke in seine 13-jährige Karriere im Herzen des ostdeutschen Staates. Aufgewachsen in einem kommunistischen Elternhaus, dessen Großeltern bewusste Sozialisten waren, beschreibt er sich als überzeugten DDR-Bürger, der bis zum Schluss kein Oppositioneller war.

Vom Motorradenthusiasten zum Personenschützer Brückners Weg zum Personenschutz begann mit seiner Begeisterung für Motorräder und die koordinierte Fahrweise der Begleitfahrzeuge bei internationalen Delegationen. Er trat in die Verkehrspolizei ein und wurde aufgrund guter Leistungen zur Hauptabteilung Personenschutz, Abteilung 3, delegiert. Seine Ausbildung umfasste ein Jahr als Wachsoldat mit „allen Schikanen“ und eine Polizeischule, die er als einer der wenigen Absolventen einer „Polizeiakademie“ anstelle der MfS-Schule in Potsdam besuchte. Das Auswahlverfahren für Honeckers Schutz war äußerst gründlich und zog sich über ein halbes Jahr hin, wobei auch seine Westverwandtschaft überprüft wurde. Seine offizielle Funktion war „Oberkommando Leiter Sicherungskommando Personenschutz Honecker“.

Das Personenschutzsystem der DDR war laut Brückner international auf hohem Niveau und hatte sogar ausländische Kräfte ausgebildet, darunter die erste Generation von Arafats Personenschützern und eine ganze Gruppe von Gorbatschows Leuten. Das oberste Credo im Personenschutz war, dass der Schutz als Ganzes etwas falsch gemacht hatte, wenn ein Personenschützer sein Leben opfern musste. Stattdessen wurden Szenarien trainiert, wie die Evakuierung eines verletzten Honeckers, auch unter Einsatz des Lebens.

Honeckers „Blase“ und die Realität der DDR Rückblickend stellt Brückner fest, dass Honecker in einer „Blase“ lebte, „weit abgeschirmt von den realen Problemen des Landes in einer eigenen Welt“. Brückner selbst, der in einem Neubaugebiet wohnte, nahm diese „Blase“ nicht so hin und bemerkte mit zunehmendem Dienstalter eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Er sah Diskrepanzen zwischen den offiziellen Jubelmeldungen über Wohnungsbau und der Realität vor Ort. Obwohl seine Loyalität zum Staat dadurch nicht erschüttert wurde, sorgte er bei Parteiveranstaltungen manchmal für „starke Unruhe“, indem er sagte, „es kann nicht so sein“.

Honeckers erste Reaktion auf seinen Personenschutz war Distanz. Er sprach Brückner lange Zeit nicht mit Namen an. Erst nach den Attentaten auf Indira Gandhi und Olof Palme im selben Jahr, die Honecker als nahestehende Persönlichkeiten empfand, nahm er seinen Personenschutz ernster und kooperierte mehr. Brückner beschreibt, wie Honecker zeitweise „überheblich“ wirkte und Meinungen hatte, die keiner zu widersprechen wagte. Bei seiner letzten Reise in die Sowjetunion zeigte Honecker jedoch eine selten gesehene sentimentale Seite, indem er sich über gemeinsame Bekannte und seine Jugendzeit erkundigte.

Begegnungen und Beziehungen im System Brückner erlebte kuriose Situationen, wie einen nicht abgesprochenen „Freudentanz“ mit Vorderlader-Schüssen in Algerien oder physische Gewaltanwendung, um Honecker vor einer enthusiastischen Menschenmenge zu schützen. Eine besonders unerwartete Erfahrung waren Demonstrationen in Karl-Marx-Stadt, wo Menschen still und friedlich Transparente zeigten, was für das Sicherheitsteam völlig neu war.

Die Beziehung zwischen Erich und Margot Honecker war komplex. Margot Honecker, im Volksmund auch als „lila Drache“ bekannt, war eine „bewusste Persönlichkeit“, die sich ihrer Position und Funktion bewusst war. Sie bestand darauf, Ministerin für Volksbildung zu bleiben, anstatt nur die Rolle der First Lady auszufüllen, was sie als bewundernswert bezeichnete. Sie war ideologisch gefestigt und eine „Revolutionärin mit Leib und Seele“, die sich auch nach der Wende in Chile zu ihren Überzeugungen bekannte. Sie hatte eine angespannte Beziehung zu Stasi-Chef Erich Mielke, den sie öffentlich kritisierte. Mielke selbst empfand Personenschützer als „Sklaven“ und ließ sie Gartenarbeiten verrichten, selbst nach langen Diensten.

Honecker pflegte trotz ideologischer Differenzen gute Beziehungen zu einigen westdeutschen Politikern, darunter Franz Josef Strauß und Heinz Galinski. Brückner erlebte, wie Honecker sich in Strauß‘ Anwesenheit wohlfühlte und sogar eine persönliche Ansprache von Honecker bei Strauß‘ Beerdigung verhindert werden musste.

Der Fall der DDR und ein neues Leben Der Herbst 1989 kam für Brückner nicht völlig überraschend, aber stufenweise. Er spürte, dass es „voll gegen Baum gehen“ würde, wenn sich nichts änderte. Honecker war im Sommer 1989 krank und wurde im Regierungskrankenhaus von Informationen über die Flüchtlingswelle aus Ungarn abgeschirmt, was zu einem „absoluten politisch geistigen Stillstand“ führte. Brückner empfand die DDR in dieser Zeit als ein „führerloses Schiff“. Nach dem Machtwechsel erlebten die Personenschützer von Honeckers Vorgänger Ulbricht Hausarrest, was für Brückner eine beunruhigende Parallele war. Auch Brückners Familie erlebte Anfeindungen und Schikanen nach dem Fall der Mauer.

Der Übergang in die Bundesrepublik war anfänglich schwierig, da sein Lebenslauf als Personenschützer nicht die besten Startchancen bot. Doch er fand seinen Weg, gab Seminare und gründete ein eigenes Unternehmen im Bereich Arbeitsvermittlung, mit besonderen Beziehungen zu Vietnam, einem Land, in das er sich bereits 1977 bei einem Staatsbesuch Honeckers verliebt hatte. Heute lebt Brückner in Bayern und stellt fest, dass der Osten Deutschlands ihm nicht fremd geworden ist, auch wenn er Unterschiede in den Einstellungen, beispielsweise gegenüber Flüchtlingen, wahrnimmt.

Bernd Brückner zweifelt heute nicht an seiner Loyalität zum Staat, dem er diente, räumt jedoch ein, dass er manchmal „dummes Zeugs“ hörte und im Rückblick konstanter und lauter hätte sein müssen. Er teilt die Einschätzung, dass die jüngere Generation heute kaum noch weiß, wer Erich Honecker war. Doch er blickt auch auf positive Aspekte des damaligen Lebens zurück, wie die Sicherheit, die seine Frau nachts allein auf der Straße empfand, da „ein Sexualdelikt zum Beispiel … nicht so [war]“.

Brückners Karriere ist ein Spiegelbild der Geschichte: Er war ein Mann, dessen Leben untrennbar mit einem Regime verbunden war, das am Ende in sich zusammenfiel. Er war wie ein Kapitän auf einem Schiff, das auf Kurs gehalten werden sollte, während der Kompass des Steuermanns immer mehr versagte.