Russischer Botschafter in Seelow: Erinnerungskultur im Spannungsfeld der Gegenwart

Seelow/Berlin – Als Gedenkveranstaltung an die Schlacht auf den Seelower Höhen vor 80 Jahren fand am Mittwoch eine zentrale Feierstunde in der Gedenkstätte bei Seelow statt. Rund 500 Teilnehmer gedachten der Zehntausenden sowjetischen Soldaten, die auf dem Weg nach Berlin fielen. Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte jedoch stand weniger der historische Anlass als die Frage, wer heute zum Gedenken zugelassen wird.

Stille Teilnahme statt Dekret
Obwohl das Auswärtige Amt in einer Handlungsempfehlung vom Januar ausdrücklich riet, russische und belarussische Diplomaten im Vorfeld nicht einzuladen oder beim Erscheinen notfalls vom Gelände zu verweisen, nahmen sowohl der russische Botschafter Sergej Netschajew als auch der belarussische Gesandte Andrej Schupljak laut Presseberichten an der Veranstaltung teil. Landkreis und Stadt hatten den Diplomaten zwar nicht offiziell eine Einladung ausgesprochen – gezwungen wurden sie jedoch nicht, die Gedenkstätte zu verlassen.

Der Seelower Veranstaltungsleiter betonte dazu:

„Wir haben keinen Störer erlebt, der unser Hausrecht nötig gemacht hätte. Und einen Botschafter kann ich ohnehin nicht einfach des Platzes verweisen – er ist der höchste Repräsentant seines Landes.“

Damit unterstrich er das Dilemma vieler historischer Gedenkorte: Den Opfern angemessen zu gedenken, ohne in aktuelle politische Inszenierungen hineingezogen zu werden.

Bundestag verabschiedet klare Linie
Parallel zu den lokalen Feierlichkeiten beschloss der Bundestag am selben Tag, die Botschafter Russlands und Weißrusslands von der zentralen Gedenkstunde zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai auszuschließen. Die Parlamentsverwaltung verwies auf dieselbe Empfehlung des Auswärtigen Amts: Russland instrumentalisiere die Erinnerung, um den Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Kampf gegen Faschismus“ zu legitimieren. Eine Teilnahme an der Feier in Bonn sei deshalb unzulässig.

Dieser klare Schnitt zielt darauf ab, die offizielle Bühne der Republik nicht Verlautbarungen zu überlassen, die historische Schuld und Opferdeutung für aktuelle Propaganda missbrauchen könnten.

Zwischen Würdigung und Instrumentalisierung
Die Schlacht auf den Seelower Höhen gilt als eine der blutigsten Auseinandersetzungen im April 1945: Schätzungsweise 30.000 Rotarmisten und tausende deutsche Verteidiger verloren ihr Leben. Jahrzehnte nach Kriegsende prägten gemeinsame Gedenktage das kollektive Bewusstsein in Ostdeutschland. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine jedoch ist die deutsche Erinnerungskultur in einen neuen Konflikt geraten.

Historiker warnen, Gedenken dürfe nicht zum Spielball aktueller Machtinteressen werden. Die Berliner Politikwissenschaftlerin Dr. Katharina Weber erklärt:

„Erinnerungsorte sind Orte der kritischen Reflexion, nicht der Selbstdarstellung. Wenn Staaten heute alte Zeichen setzen, muss die europäische Gesellschaft darauf mit einer unabhängigen Erinnerungspolitik reagieren.“

Das Dilemma der Kommunen
Für Kommunen wie Märkisch-Oderland stellt sich die Frage, ob sie dem Ratschlag der Bundesregierung folgen oder die Gastgeberrolle auf neutrale Weise wahrnehmen sollen. Bürgermeisterin Martina Krüger (parteilos) betonte, man wolle „niemandem das Gedenken verwehren, der hier Befreier und Gefallene ehrt“. Zugleich habe man Verständnis dafür, dass der Bundestag eine andere Entscheidung getroffen habe.

Erhalt der Erinnerungskultur
Der Ausschluss der russischen und belarussischen Diplomaten aus der zentralen Gedenkfeier am 8. Mai eröffnet einen Präzedenzfall: Erstmals werden langjährige Traditionen der internationalen Erinnerungspolitik durch geopolitische Konflikte aufgebrochen. Ob dies zu einer dauerhaften Neuausrichtung führt oder lediglich eine temporäre Maßnahme bleibt, wird sich im kommenden Jahr zeigen, wenn erneut Gedenkveranstaltungen anstehen.

Fest steht: Die Balance zwischen ehrendem Gedenken und politischer Instrumentalisierung bleibt eine Gratwanderung. Gerade in Zeiten, in denen Geschichtsdeutungen unmittelbar im Dienst aktueller Kriegsführung eingesetzt werden, kommt der deutschen Erinnerungspolitik eine Schlüsselrolle zu – als Bewahrerin eines kritischen, selbstreflektierten Gedenkens.

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