Am 9. Oktober 1971 erlebte Karl-Marx-Stadt einen Moment von historischer Dimension: Die Enthüllung der monumentalen Bronzebüste von Karl Marx, ein Werk des sowjetischen Bildhauers Lew Jefimowitsch Kerbel. Rund 300.000 Menschen versammelten sich im Herzen der Stadt, um diesem feierlichen Akt beizuwohnen – eine Inszenierung von beeindruckender propagandistischer Kraft.
Auf einer eigens errichteten Tribüne standen zahlreiche Ehrengäste, darunter Jekaterina Alexejewna Furzewa, Ministerin für Kultur der UdSSR, sowie der Künstler selbst. Im Mittelpunkt der Zeremonie: Erich Honecker, der erst wenige Monate zuvor die Führung der SED übernommen hatte und mit seiner Ansprache das Denkmal in den ideologischen Kosmos der DDR einfügte.
„Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“ – das zentrale Credo von Karl Marx hallte in Honeckers Rede wider. Er stilisierte das Monument zu einem Symbol der internationalen Solidarität und der unerschütterlichen Freundschaft zur Sowjetunion. Die Stadt, die Marx’ Namen trug, wurde zum Schauplatz eines Bekenntnisses zur sozialistischen Zukunft.
Unter dem donnernden Applaus der Anwesenden fiel schließlich der verhüllende Stoff – und offenbarte die über sieben Meter hohe, ausdrucksstarke Büste, deren Blick starr und entschlossen in die Zukunft gerichtet war. Ein Moment voller Pathos, begleitet vom Aufmarsch der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, von Fanfaren und Sprechchören.
Der Tag der Enthüllung war nicht nur die Weihe eines Denkmals, sondern auch ein machtvoll inszenierter Akt sozialistischer Selbstvergewisserung. In den darauffolgenden Tagen und Wochen diente das Ereignis als Anlass für zahlreiche Versammlungen, Diskussionen und propagandistische Veranstaltungen – ein Bekenntnis zur ideologischen Linie der DDR und ihrer Führungspartei.
Bis heute prägt das Karl-Marx-Monument, oft liebevoll „Nischel“ genannt, das Stadtbild des heutigen Chemnitz. Doch die Zeiten haben sich geändert: Wo einst Massen in sozialistischer Einigkeit jubelten, lädt heute ein Denkmal zum Nachdenken ein – über Geschichte, Ideologie und den Wandel einer Stadt, die einst den Namen des Philosophen trug.