Tragödie am Bahnübergang Neuwiederitzsch im Jahr 1983

Leipzig, 23. April 1983 – An einem strahlenden Frühlingstag ereignete sich am Bahnübergang Neuwiederitzsch eine Katastrophe, die sieben Menschenleben forderte und tiefe Spuren hinterließ. Ein Linienbus kollidierte mit einer Lokomotive, ein Unfall, der nach Stasi-Ermittlungen auf menschliches Versagen zurückgeführt wurde, doch auch gravierende technische Mängel und überholte Betriebsabläufe eine entscheidende Rolle spielten.

Der verhängnisvolle Nachmittag Der 23. April 1983 war ein Samstag. Dieter Buttstädt, ein vierfacher Familienvater, war mit einem Freund in Seehausen bei Leipzig, um ein Haus zu renovieren. Er hatte seiner Frau Ilse versprochen, rechtzeitig zum Abendessen zurück zu sein, um das Lieblingsgericht der Familie, Kartoffelsalat, zuzubereiten. Gegen 15 Uhr machten die beiden Feierabend und nahmen um 16:11 Uhr in Seehausen den Linienbus in Richtung Leipzig-Eutritzsch. Im Bus saß auch eine junge Mutter mit Kinderwagen.

Zur selben Zeit war der 24-jährige Rettungssanitäter Gerd Queisser privat unterwegs, nur wenige hundert Meter vom späteren Unfallort entfernt. Im Stellwerkshäuschen von Neuwiederitzsch hatte seit 6 Uhr morgens Hans Jürgen N. Dienst. Um 16 Uhr erhielt er die Meldung, dass neben dem planmäßigen Schnellzug von Leipzig nach Stralsund auch eine außerplanmäßige einzelne Lok in Gegenrichtung unterwegs war.

Eine Kette unglücklicher Umstände Der Linienbus näherte sich dem Bahnübergang Neuwiederitzsch. Die Schranken waren geschlossen, da der Schnellzug passierte. Die Wartezeiten waren damals oft lang, was zu Ungeduld unter den Autofahrern führte. Das Stellwerk wurde noch von Hand betrieben, im Gegensatz zum modernen, ETC-basierten Sicherheitssystem des heutigen Leipziger Messebahnhofs, das menschliche Fehler ausschließen soll. Die elektrisch angetriebene Schranke von Neuwiederitzsch konnte mit einem Knopfdruck sehr schnell geöffnet werden, ohne die „Bedenkzeit“ alter, handgekurbelter Schranken.

Um 16:15 Uhr passierte der Schnellzug den Bahnübergang. Direkt danach öffnete der Stellwerksleiter die Schranke, um die wartenden Fahrzeuge nicht länger aufzuhalten. Dabei vergaß er die einzelne Lokomotive, die in Richtung Leipzig unterwegs war.

Der Busfahrer fuhr sofort los, um seine Fahrgäste pünktlich abzuliefern. In diesem Moment fiel dem Stellwerksleiter die vergessene Lok ein. Er versuchte noch, das Signal von Höchstgeschwindigkeit auf Stopp zu stellen und den Busfahrer winkend zu warnen, doch die Lok war bereits am Signal vorbei, und der Busfahrer schaute nicht zum Stellwerk. Im Bus blickte Dieter Buttstädt aus dem Fenster und rief laut den späteren Ermittlungsakten zufolge: „Pass auf, es kommt was!“.

Die Katastrophe Gerd Queisser, der in der Nähe war, hörte einen riesigen Knall und sah eine wahnsinnige Staubwolke. Die 82 Tonnen schwere Lok krachte mit 60 Kilometern pro Stunde ungebremst in die Seite des Busses. Die Wucht des Aufpralls zerriss den Bus in zwei Teile. Der vordere Teil wurde noch 150 Meter mitgeschleift, bis die Lok zum Stehen kam. Der hintere Teil lag völlig zerstört auf den Schienen.

Erste Hilfe inmitten des Chaos Gerd Queisser, von Beruf Rettungssanitäter, war der erste Helfer am Unfallort. Durch die riesige Staubwolke konnte er zunächst nichts erkennen, doch dann wurde die Sicht klarer, und er sah das zerschmetterte Wrack des Busses. Trotz fehlender Verbandsmittel traf er die einsame Entscheidung, zum Wrack zu eilen. Er hörte viele Schreie und entdeckte ein wimmerndes Baby. Er zog das unversehrte Baby aus dem verbeulten Kinderwagen im Wrack, nahm es in seine Arme und legte es sicher im Schatten hinter einem Strauch ab.

Danach versuchte er, weiteren eingeklemmten Personen zu helfen. Kurz darauf trafen die ersten Feuerwehren ein. Die Lage war schockierend: Ein in zwei Teile gerissener Bus und verstümmelte Opfer. Die Bergung der vielen eingeklemmten Verletzten war aufgrund der bescheidenen technischen Ausrüstung (keine Beleuchtung, nur Trennschleifer, Brecheisen und Eisensägen) extrem schwierig. Dennoch gelang es den Einsatzkräften mit viel Muskelkraft, Schwerverletzte zu befreien. Gerd Queisser versorgte unermüdlich die Verletzten, darunter viele mit schweren Brustverletzungen. Der Busfahrer überlebte wie durch ein Wunder schwer verletzt, obwohl er in seinem völlig zerstörten Sitz 150 Meter mitgeschleift wurde.

Die bangen Stunden der Familien In Eutritzsch warteten Ilse Buttstädt und ihre Kinder sehnsüchtig auf Dieter. Sie hatte ein beklemmendes Gefühl, während immer mehr Einsatzfahrzeuge an ihrem Haus vorbeirasten. Der Bahnmitarbeiter Alfred Im, der gegen 17:30 Uhr seinen Dienst in der Dispatcherleitung in Leipzig antrat, wurde schnell mit dem Ausmaß der Katastrophe konfrontiert. Kurz vor 18 Uhr wurde der erste Bestattungswagen angefordert, später weitere. Um 19:20 Uhr war klar: Es gab viele Tote. Ilse Buttstädt suchte telefonisch nach ihrem Mann und brach zusammen, als sie die Todesnachricht erhielt. Für die Kinder war der Tod ihres Vaters unfassbar.

Ursachen und Konsequenzen Die Stasi begann sofort mit der Untersuchung. Es stellte sich heraus, dass bereits 1979 Bahnmitarbeiter die Koppelung der Schranke am Bahnübergang mit dem Zugsignal gefordert hatten, um die Belastung des Fahrdienstleiters zu reduzieren. Ein Antrag auf eine moderne, automatische Schranke wurde damals jedoch abgelehnt. Zudem hatte der Stellwerksleiter zum Unfallzeitpunkt bereits elf Stunden gearbeitet.

Trotz dieser bekannten Mängel wurde schnell ein Schuldiger gefunden: der Stellwerksleiter. Er hatte die Lok vergessen und die Schranke zu früh geöffnet. Noch am selben Abend, gegen 21:22 Uhr, wurde er verhaftet und später zu drei Jahren Haft verurteilt.

Insgesamt starben bei dem Unfall sieben Businsassen, darunter auch die junge Mutter, deren Baby von Gerd Queisser gerettet wurde. Nur wenige Wochen nach dem schweren Unglück erhielt der Bahnübergang Neuwiederitzsch endlich die signalabhängige Schranke, die von den Bahnmitarbeitern so lange gefordert worden war. Für sieben Menschen kam diese dringend benötigte technische Neuerung jedoch zu spät.