Eisenhüttenstadt/DDR. Im Sommer 1970 erschütterte ein bislang in Vergessenheit geratenes Sporturteil den DDR-Fußball: Die BSG Stahl Eisenhüttenstadt und die BSG Aktivist Schwarze Pumpe wurden aus der Oberliga zwangsexpediert. Im Schatten angeblicher Regelverstöße gegen das offiziell geltende „Amateurprinzip“ entpuppte sich der Skandal als politisch motiviertes Exempel – und rückte die Doppelmoral des sozialistischen Sportsystems ins grelle Licht.
Ein Exempel für alle – oder doch nur Bauernopfer?
Offizieller Vorwurf: „Profitum“. Den beiden Klubleitungen wurde vorgeworfen, finanzielle Mittel ihrer Trägerbetriebe zweckentfremdet, ungerechtfertigte Zuwendungen gezahlt und Arbeitszeitregelungen missachtet zu haben. Im Ursprungsurteil, das bis heute unter Verschluss gehalten wird, soll es vor allem um „kapitalistische Anwendung“ gegangen sein. Inoffiziell jedoch diente der Schlag gegen zwei vergleichsweise unbedeutende Vereine einer höheren Zielsetzung: den dringend benötigten außenpolitischen Imageschaden abzuwenden.
Hintergrund war eine Intervention des niederländischen Fußballverbands, der den Amateurstatus der DDR-Kicker öffentlich infrage stellte – ausgerechnet während der EM-Qualifikation 1970 gegen die Oranjeelf. Sportobere und SED-Funktionäre fürchteten um die Teilnahmechancen an den Olympischen Spielen 1972 in München. Eine Breitenentscheidung, die alle Spitzenklubs hätte treffen müssen, erschien undenkbar. Die Degradierung zweier kleinerer Teams war das kalkulierte Minimum, um das „System DDR“ vor einem internationalen Eklat zu schützen.
Zwischen Fernwärmewohnung und Trainingsspionage
In Eisenhüttenstadt – bis 1961 noch Stalinstadt – ging es nie nur um Tore. Als beschauliche Wohnstadt für die 16.000 Belegschaft des Eisenhüttenkombinats Ost war sie von Beginn an eng verknüpft mit dem Werkssport. Sektionsleiter Siegfried Nowka, zugleich Chefeinkäufer im Kombinat, bot umworbene Spieler mit Aufmerksamkeiten wie ferngeheizten Wohnungen, Garagen oder neuen Gardinen – selbstverständlich nur „im Rahmen sozialistischer Wohnungsvergabeverfahren“, wie er später betonte. Handgelder seien ihm hingegen „strengstens verboten“ gewesen.
Doch wer in der Oberliga mithalten wollte, musste mit vergleichsweise üppigen Extras rechnen. Immerhin brachte allein der Status als Leistungsfußballer Freistellungen von bis zu 20 Stunden pro Woche – weit mehr als die üblichen fünf Stunden für Ligaspieler. Aufmerksame Beobachter wie DTSB-Funktionär Willi Bolt dokumentierten penibel, wenn Spieler während der regulären Arbeitszeit trainierten. Seine Berichte lieferten schließlich die Grundlage für das Urteil, das am zweiten Spieltag der Saison 1970/71 vollzogen wurde: Eisenhüttenstadt und Schwarze Pumpe mussten eine Klasse tiefer antreten.
Selektive Ahndung und Doppelmoral
Während die beiden kleinen Betriebssportgemeinschaften büßten, blieben Traditionsvereine wie Dynamo Dresden oder der 1. FC Magdeburg unangetastet – trotz ähnlicher Praktiken. Dort spielten Nationalspieler wie Hans-Jürgen Kreische, dessen Anwerbeversuche in Eisenhüttenstadt akribisch dokumentiert wurden: „Da wurden Summen genannt, da kam man ins Grübeln“, erinnert sich Kreische heute. Ein klarer Fall von Profitum? Oder doch nur der letzte Ausweg, um die DDR-Führung nicht öffentlich blamiert dastehen zu lassen?
Historiker verweisen auf die Strategie dahinter: Ein generelles Vorgehen gegen alle Topklubs hätte den gesamten DDR-Fußball lahmgelegt und die medaillenambitionierten Olympia-Akteure gefährdet. Das politisch gewünschte Bild „wir sind eine Sportnation ohne Profis“ musste um jeden Preis bewahrt werden. Zwei „Bauernopfer“ reichten dabei aus, um den Schein zu wahren.
Langfristige Folgen für Eisenhüttenstadt
Der Fall hinterließ in der brandenburgischen Stadt tiefe Spuren. Wo einst ambitionierte Fußballwirtschaft blühte, kämpft der heutige FC Eisenhüttenstadt in der siebten Liga gegen den Abstieg. Die einstige Hoffnung auf sportlichen Aufstieg und materielle Anreize löste sich in Ernüchterung auf. Ehemalige Spieler wie Harro Miller, der damals von Wismut Aue kam, erinnern sich noch gut: „Man wusste, wo das Geld herkommt – aber wer geht schon freiwillig in die Provinz?“
Für die Stadt war der Fußball mehr als Sport: Er war sozialer Kitt, Identifikationspunkt und Propagandainstrument zugleich. Nach der Wende verschwanden die meisten infrastrukturellen Fördermittel, das Stadion verfiel, Sponsoren zogen sich zurück. Die Erinnerung an den 1970er-Skandal blieb Teil einer kollektiven Erinnerung an staatliche Willkür und halbherzige Reformen.
Lehren aus einem Systemversagen
Der Eisenhüttenstädter Skandal zeigt exemplarisch, wie eng Sport und Politik in autoritären Systemen verknüpft sein können. Offiziell galt das sozialistische Sportmodell als Hort des Amateurgedankens. Praktisch jedoch galt: Wer Leistungen erbrachte, erhielt Privilegien – intransparent, selektiv und politisch motiviert. Die Degradierung zweier Klubs mag heute wie ein Relikt wirken, doch sie wirft Fragen auf, die weit über die DDR hinausreichen: Welche Spielregeln gelten tatsächlich, wenn Staat und Sport im Schulterschluss agieren? Wie viel Leistung darf honoriert, wie viel Privileg vergeben werden, ohne den Gleichheitsgedanken zu untergraben?
Ein journalistischer Blick zurück zeigt nicht nur sporthistorische Brüche, sondern offenbart auch den Mechanismus politischer Machterhaltung. Eisenhüttenstadt war damals ein Bauernopfer – heute ist es Mahnmal einer gescheiterten Doppelmoral.