„Ich hätte niemals geschossen“: Die mutige Flucht eines jungen Grenzers 1961

Berlin, 1961 – Dramatische Szenen spielten sich im August 1961 an der frisch errichteten Berliner Mauer ab, als ein junger Grenzsoldat der DDR unter den Augen empörter West-Berlinern eine lebensgefährliche Entscheidung traf: Er sprang in die Freiheit. Das Filmmaterial aus dem Jahr 1961 hält den Moment fest, als der 20-jährige (oder 21-jährige) Unteroffizier über den Zaun eines Friedhofs flüchtet, der sich auf Ostberliner Gebiet befindet und an der Berliner Mauer vorbeiführt.

Der Friedhof war abgeriegelt, das Tor verschlossen, und Ulbrichts Soldaten patrouillierten zwischen den Gräbern. Auf der westlichen Seite des Tores versammelte sich eine Gruppe West-Berliner, die ihrer Empörung Luft machten und die Wächter beschimpften. Inmitten dieser angespannten Atmosphäre fiel den Kameraleuten das Gesicht eines jungen Soldaten auf, der die Schmähungen nicht ertragen konnte, weil er sich zu Unrecht getroffen fühlte. Er konnte es nicht länger ertragen, auf der „anderen Seite“ des Tores zu stehen.

Nur eine Stunde nach seiner waghalsigen Flucht wurde der junge Mann bereits im Fernsehstudio des SFB in West-Berlin interviewt. Auf die Frage, ob er Angst gehabt habe bei diesem lebensgefährlichen Sprung, bejahte er dies – vor allem wegen seiner Genossen, die auf ihn hätten schießen können, da seine Flucht in diesem Moment als Fahnenflucht galt. Doch er betonte: „Ich konnte das nicht mehr mitmachen da drüben, das war zu viel“. Er berichtete von dem Befehl, Menschen anzurufen, festzuhalten und bei Nichtbefolgung zu schießen. Auf die Frage, ob er selbst geschossen hätte, antwortete er klar: „Ich hätte niemals auf den deutschen geschossen, denn das ist doch zu viel, denn ich habe auch Verwandte in Westdeutschland und das könnte ich niemals machen“. Er war zudem der festen Überzeugung, dass die wenigsten seiner Kameraden schießen würden.

Der Soldat kam freiwillig, niemand hatte ihn aufgefordert, und er wusste nicht, was ihn im Westen erwarten würde. Er kam nicht, weil er Gutes erwartete, sondern weil er im Osten Schlechtes erlebt hatte. Tage später wurde das Interview in einem Café fortgesetzt, um seine Beweggründe und seine neue Realität weiter zu beleuchten.

Das Bild, das ihm in Ost-Berlin von West-Berlin und Westdeutschland vermittelt wurde, wich drastisch von der Realität ab. Er war überrascht: „Es ist ’n ganz anders, wie man uns geschildert hat, wie wir uns Berlin, Westdeutschland vorgestellt haben“. Ihm wurde gesagt, im Westen werde für den Krieg gerüstet und alles Geld in die Rüstung gesteckt. Doch mit offenen Augen sah er eine andere Wirklichkeit: „bloß wenn man mit offenen Augen sich die Straßen angucken tut, das ist hier so lebendig, also das ist wie im Schlaraffenland kann man sagen“. Er fragte misstrauisch, ob dies nur in Berlin der Fall sei, um die Ostbevölkerung anzulocken und Menschen abzuwerben. Die Antwort war eindeutig: Nein, es sei in Westdeutschland ganz genauso. Er selbst hatte „überhaupt noch nichts gesehen von der Rüstung“, obwohl er schon viel in Berlin herumgekommen war.

Nach nur wenigen Tagen im Westen war er kaum wiederzuerkennen. Er fand die Stadt wunderschön und konnte es kaum in Worte fassen, wie gut es ihm gefiel. Trotz der Bestätigung, dass in der Bundesrepublik gerüstet werde – wenngleich kein „Schlaraffenland“ existiere – war seine Entscheidung klar: „ich würde niemals wieder tauschen“. Seine Flucht war nicht nur eine physische Überwindung der Grenze, sondern auch eine desillusionierende Konfrontation mit der Wahrheit, die er im Westen fand.