Würde und Rechte des Menschen sind im KZ für die SS bedeutungslos. Der Kampf ums eigene Überleben, so die Absicht der SS, soll den Alltag beherrschen, die Persönlichkeit zerstören und jede Form von Solidarität oder Widerstand ersticken. Schon die Behauptung seines Glaubens und seiner selbst ist unter diesen Umständen Widerstand und wird, wie das Beispiel des Pfarrers Paul Schneider zeigt, von der SS mit Gewalt ausgelöscht. Trotzdem gelingt es der SS nicht, organisierte Hilfe oder Solidarität unter den Gefangenen zu verhindern. Bekannte oder Landsleute, Angehörige politischer oder religiöser Gruppen finden sich im Lager und helfen sich gegenseitig. Mitunter, so im Oktober 1941 bei der Hilfsaktion für sowjetische Kriegsgefangene, wird Solidarität zum politischen Widerstand. Häftlinge der verschiedenen Nationen bildeten 1943/44 Hilfskomitees. Die Vorherrschaft der deutschen Kommunisten in der Häftlingsverwaltung ermöglicht den Aufbau der größten kommunistischen Untergrundorganisation im SS-Lagersystem. Sie beschafft illegal Informationen und trifft Vorbereitungen, um im Falle der Niederlage des NS-Regimes einen drohenden Massenmord abzuwehren. Als am 11. April 1945 amerikanische Panzer den SS-Bereich überrollen, besetzen Mitglieder der internationalen Widerstandsorganisation die Wachtürme, Übernehmen das Lager und nehmen SS-Angehörige fest.
Historischer Überblick über die Ereignisse ab Anbruch des 10. April bis zum 19. April 1945.
Anfang April 1945 waren im KZ Buchenwald an die 48.000 Menschen inhaftiert. Angesichts der bei Gotha stehenden US-Armee begann die SS am 7. April mit der Evakuierung des Lagers; es gelang ihr, trotz aller Verzögerungstaktiken der Häftlinge, etwa 28.000 Gefangene auf sogenannte Todesmärsche zu schicken. Sie werden mit Recht so bezeichnet: etwa jeder Dritte starb unterwegs oder wurde von der SS, dem Volkssturm oder Jugendlichen der HJ erschossen. Mit Hilfe der Berichte des Lagerkomitees der befreiten Häftlinge und der US-Einheiten lassen sich die dramatischen Stunden kurz vor dem Ende der SS-Herrschaft rekonstruieren.
10. April 1945
18 Uhr: 9.280 Insassen haben an diesem Tag Buchenwald in zwei Kolonnen verlassen. Die SS kündigt für den folgenden Tag die vollständige Räumung des Lagers an.
24 Uhr: Das Combat Team 9 befindet sich bei Grumbach und Wiegleben, 50 Kilometer westlich von Buchenwald. Es gehört zum Kampfkommando A der 6th Armored Division der 3. US-Armee von General Patton.
11. April 1945
Morgens: Einheiten der 4. und 6. Panzerdivision der 3. US-Armee setzen ihren Vormarsch aus der Gegend von Gotha über Erfurt Richtung Osten fort.
Kurz vor 10 Uhr: Der Lagerälteste Hans Eiden und Franz Eichhorn werden ans Lagertor befohlen. KZ-Kommandant Pister kündigt den Abzug der SS an.
10 Uhr: Die Sirene „Feindalarm“ ertönt. Über Lautsprecher kommt der Befehl: „Sämtliche SS-Angehörige sofort aus dem Lager!“
10:30 Uhr: Das Internationale Lagerkomitee mobilisiert die Widerstandsgruppen und gibt illegal beschaffte Waffen aus.
11 Uhr: Infanteriefeuer amerikanischer Truppen nordwestlich des Lagers.
Gegen Mittag: Die Angehörigen der SS-Kommandantur fliehen. Die Besatzungen der Wachtürme setzen sich ab.
13 Uhr: Die ersten zwei Panzer der 4. US-Panzerdivision nähern sich aus Richtung Hottelstedt.
14 Uhr: Zwölf amerikanische Panzer werden in der Nähe des Wirtschaftshofes gesichtet, vier umfahren das Lager am nördlichen Rand. Schwere Gefechte zwischen amerikanischen Truppen und der SS westlich des Lagers.
14:30 Uhr: Panzer des 37. Panzerbataillons der 4. Panzerdivision überrollen den SS-Bereich ohne zu stoppen: Die SS ist militärisch besiegt.
14:45 Uhr: Die bewaffneten Widerstandsgruppen sammeln sich unterhalb des Appellplatzes.
15 Uhr: Otto Roth und zwei Elektriker steigen in das Torgebäude ein. Der Lagerälteste Hans Eiden folgt, hisst die weiße Fahne.
15.15 Uhr: Hans Eiden spricht durch die Lautsprecheranlager des Lagers die unerhörten Sätze:
»KAMERADEN, WIR SIND FREI, DIE SS IST GEFLOHEN, HALTET RUHE IM LAGER, WIR GEBEN
EUCH WEITERE INFORMATIONEN!«
16 Uhr: Die Widerstandsgruppen haben die Kontrolle über das Lager übernommen und 76 Gefangene gemacht.
16:45 Uhr: Vertreter von zehn Nationen kommen zusammen. Sie setzen einen Lagerrat und verschiedene Kommissionen ein, die das Überleben sicherstellen sollen.
Gegen 17 Uhr: Im Jeep treffen zwei Aufklärer der 4. Panzerdivision, die Franzosen Emmanuel Desard und Paul Bodot, am Lagertor ein.
Gegen 17:10 Uhr: Ein Aufklärungstrupp der 6. Panzerdivision betritt das Lager am nördlichen Ende. Captain Frederic Keffer, Sergeant Herbert Gottschalk, Sergeant Harry Ward und Private James Hoyt werden als Befreier begrüßt. Wie Desard und Bodot bleiben auch sie nur kurze Zeit.
12. April 1945
Die Stadt Weimar wird von Einheiten der 80th Infantry Division besetzt. Erste Kontakte zu dem vom Internationalen Lagerkomitee geführten Lager.
13. April 1945
11:30 Uhr: Lt. Colonel Edmund A. Ball von der 80th Infantry Division übernimmt die Leitung des Lagers, eine Kompanie des 317th Infantry Regiments den Schutz. Ball trifft sich mit den 21 Vertretern des Internationalen Lagerkomitees, lässt sich informieren und legt die nächsten Schritte fest. Im Anschluss an einen Gedenkappell für Franklin D. Roosevelt, der tags zuvor gestorben war, geben die Häftlinge ihre Waffen ab.
16. April 1945
14 Uhr: Auf Befehl General George S. Pattons, der Buchenwald am Vortag inspiziert hat, müssen 1.000 Weimarer Bürger das Konzentrationslager besichtigen. Im Hof des Krematoriums konfrontierten die US-Soldaten die Weimarer Bürger mit den dort vorgefundenen Leichen. Das Bild zu dieser Szene erschien als erstes veröffentlichtes Foto aus Buchenwald am 18. April 1945 in der Londoner Times. Major Lorenz C. Schmuhl wird kommandierender Offizier des Lagers.
Mit der Kamera dokumentiert der Signal-Corps-Fotograf Walter Chichersky den Weg der Weimarer Bürger von Weimar bis zu den Öfen des Krematoriums von Buchenwald. Nicht nur viele internationale Korrespondenten besuchen das Lager und halten die dortigen Verhältnisse in Wort und Bild fest. Auch die Zahl der Delegationen des Internationalen Roten Kreuzes, des amerikanischen Kongresses, des britischen Parlaments, amerikanischer Verleger sowie von Einzelpersonen des öffentlichen Lebens reißt bis Ende April nicht ab.
19. April 1945
Bei einem Gedenkappell für die Ermordeten des Konzentrationslagers Buchenwald wird ein Gelöbnis der Überlebenden verlesen, der Schwur von Buchenwald:
„WIR STELLEN DEN KAMPF ERST EIN, WENN AUCH DER LETZTE SCHULDIGE VOR DEN RICHTERN DER VÖLKER STEHT! DIE VERNICHTUNG DES NAZISMUS MIT SEINEN WURZELN IST UNSERE LOSUNG. DER AUFBAU EINER NEUEN WELT DES FRIEDENS UND DER FREIHEIT IST UNSER ZIEL.”
Mehr als 400 Insassen sind seit der Befreiung gestorben. Weitere Informationen gibt es auf den Internetseiten der Gedenkstätte Buchwald.