Kaum ein Ort verkörpert die Härten der deutschen Teilung so eindrücklich wie der ehemalige Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße. Für Westbesucher das Tor in die DDR, für Ostdeutsche das letzte letzte Stückchen Freiheit vor der Abreise: Hier, in der gläsernen Halle am Nordende des Bahnhofs, flossen von 1962 bis 1989 unzählige Tränen. Ein Ort der Hoffnung, der Trauer und des endgültigen Abschieds – vielfach schlicht „Tränenpalast“ genannt.
Ein moderner Pavillon mit bedrückender Funktion
Schon beim Entwurf setzten die Planer auf Transparenz und Weite: freitragende Stahl-Glas-Fassaden, helle Tageslichträume, eine schlanke Stahlkonstruktion – eine „visuelle Leichtigkeit“, so beschreibt es das Deutsche Architekturmuseum. Tatsächlich jedoch war der Pavillon eine streng bewachte Schleuse zwischen zwei Welten. Volkspolizisten kontrollierten Pässe, Zollbeamte tasteten Wertsachen ab, während jenseits der Scheiben West-Berliner Polizisten auf ihre Kollegen warteten.
Abschied auf Zeit – und für immer
Für genehmigte Besuchsreisen bedeutete der Tränenpalast einen schmerzlichen Moment der Trennung: Verwandte und Freunde begleiteten ihre Gäste bis zur gläsernen Grenzkontrolle. Dann die Umarmung, der letzte Blick zurück – und die Angst davor, dass es ein ganzes Jahr dauern könnte, bis man sich wiedersieht. Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Meine Tante drückte mich, weinte – ich habe mich noch nie so verlassen gefühlt.“
Doch mit dem großen Auswanderungsschub in den 1970er- und 1980er-Jahren wurde der Abschied oft endgültig. Ausgereiste durften ihre Heimat nie wieder betreten, Gebliebenen blieb nur die Gewissheit, dass sie einander vielleicht nie wiederfinden würden. Die Bezeichnung „Palast der Tränen“ drückte dieses staatlich verordnete Schicksal aus: eine Abschiedshalle, in der Träume starben und Familien auseinandergerissen wurden.
Vom Grenzübergang zum Gedenkort
Nach 1990 verfiel die Halle zunächst, diente als Clublocation, war Tanzfläche und Partylocation. Erst 2011 griff die Stiftung Haus der Geschichte ein und eröffnete den „Tränenpalast“ als Dauerausstellung „Alltag der deutschen Teilung“. Heute können Besucher das original erhaltene Bauensemble begehen, Aktendokumente studieren und in multimedialen Inszenierungen die Geschichten der Abschiede nachempfinden.
Ein Mahnmal für die Gegenwart
Über 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wirkt der Tränenpalast noch immer nah und intensiv. Er erinnert uns daran, dass Grenzen nicht nur Linien auf Karten sind, sondern Räume, in denen Menschen um Freiheit, Liebe und Wiedersehenshoffnung ringen. Gerade in Zeiten wachsender Abschottung weltweit mahnt dieser Ort: wo Mauern gebaut werden, leiden Menschen. Und dort, wo sie fallen, fließt manchmal Tränensalz – vor Erleichterung, nach Jahren der Sehnsucht.
Der Tränenpalast bleibt ein Ort des Lernens und Gedenkens. Hier vergegenwärtigt sich, was Teilung anrichtet – und welche Kraft in der Hoffnung auf ein wieder vereintes Leben liegt. Besucher aus aller Welt verlassen die Halle oft mit nassen Augen, aber auch mit dem Gefühl, Zeugnis einer Zeit abgelegt zu haben, die Erinnerung verpflichtet.
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Was ließ sich in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit 10 Mark wirklich kaufen? Eine Spurensuche führt von den Lebensmittelkarten der 1950er Jahre über Rationierungen in den 1960ern bis hin zu den prall gefüllten Regalen der Kaufhallen in den 1980ern. Drei Stationen – Drebkau, Lauchhammer und Ost‑Berlin – erzählen von Alltagsstrategien, Planwirtschaft und dem schmalen Grat zwischen Bedürfnis und Verfügbarkeit.
Drebkau in den 1950ern: Rationierung als Alltag
In Drebkau, einer Kleinstadt in der Niederlausitz, prägten bis Mai 1958 Lebensmittelkarten den Einkauf. Zucker, Butter und Milch gehörten zu den Gütern, die nur in begrenzten Mengen abgegeben wurden. Wer mehr brauchte, musste auf den Freiverkauf hoffen – zu fast doppelt so hohen Preisen. Eine kleine Preisakte:
1 Kilogramm Zucker: 2,80 Mark
250 Gramm Butter: 5,00 Mark
100 Gramm Honig: 2,00 Mark
1 Ei: 0,45 Mark
Schon dieses Bündel kostete 10,25 Mark – und sprengte damit das knappe Wochenbudget vieler Haushalte. „Man musste jeden Pfennig zweimal umdrehen“, erinnert sich Zeitzeugin Ingrid Müller (Name geändert). „Einmal kein Eintrag auf der Karte, und es ging nichts mehr.“
Für Waren jenseits der Grundversorgung – Kosmetika, Waschmittel, Zeitschriften – reichten die 10 Mark eher. Doch sobald es um Fleisch, frisches Obst im Winter oder ein Radio ging (rund 600 Mark), waren selbst monatelange Ersparnisse rasch aufgebraucht.
Im örtlichen Konsum-Laden steckten die Bürger ihre Umsatzmarken in Sammelalben. Am Jahresende gab es einen Rabatt von bis zu 3 Prozent auf den Jahresumsatz – für viele die einzige Möglichkeit, etwas zurückzubekommen.
Lauchhammer in den 1960ern: Die ersten Freiräume
Mit dem steigenden Durchschnittslohn (1965: etwa 633 Mark brutto) entspannte sich die Versorgungslage nur partiell. In Lauchhammer, einer Industriestadt südlich von Dresden, blieb die Auswahl überschaubar, aber Rationierungen fielen zunehmend weg.
Ein typischer Wocheneinkauf für 9,96 Mark 1965:
5 kg Kartoffeln
1 kg Zucker
1 kg Roggenbrot
1 kg Äpfel
2 Liter Milch
100 g Vollmilchschokolade
Für den Freizeitgenuss reichte es ebenfalls: Eine Kugel Eis kostete 1,05 Mark, ein Getränke‑Rezeptbuch 1,50 Mark. Der Restaurantbesuch im Leipziger Auerbacher Keller avancierte zum sozialen Highlight: Für 9,30 Mark bekam man Cordon Bleu, Apfelsaft und Schokoladeneis – eine Erfahrung, die noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar war.
Dennoch blieben hochwertige Fleischsorten und Butter weiter knapp. Wer Kleidung für Jugendweihe oder festliche Anlässe brauchte, fuhr notgedrungen nach Ost‑Berlin, wo die Warteschlangen an den Konsum-Theken lang, aber die Regalreihen breiter waren.
Ost‑Berlin in den 1980ern: Kommodifizierung des Alltags
In den 1980ern hatte sich der durchschnittliche Bruttolohn auf rund 1 130 Mark verdoppelt, und die Kaufhallen ersetzten vielerorts die alten Konsum-Läden. Zwei typische 10‑Mark‑Einkäufe dokumentieren die neue Warenfülle:
Ein Deospray (11,60 Mark) oder ein Doppelkorn (17,60 Mark) lagen aber weiter in einer eigenen Preisliga. Große Anschaffungen wie Farbfernseher (ca. 4 900 Mark) blieben für die meisten unerreichbar – und wurden zum Symbol der Grenzen, die Planwirtschaft selbst in Zeiten steigender Löhne setzte.
Ein Ausflug auf die Aussichtsplattform des Fernsehturms kostete mit 3 Mark nur einen Bruchteil des Budgets. Hier, so die Erfahrung vieler Ost-Berliner, wurde der Blick weit — während die Einkäufe weiterhin nur einen begrenzten Ausschnitt des Plansortiments zeigten.
Mehr als nur Zahlen: Währung, Politik und Alltag
Die Währung selbst wandelte sich: Bis 1964 sprach man offiziell noch von „Deutscher Mark“, ehe zunächst die Mark der Deutschen Notenbank (MDN) und ab 1968 die „Mark der Deutschen Demokratischen Republik (M)“ eingeführt wurden. Neue Scheine und Münzen seit 1973 begleiteten den Wandel – doch hinter jeder Münze steckte ein System, das Verfügbarkeit oft über Preis stellte.
Für die Menschen bedeutete das: Wer Zeit hatte, sammelte Marken, stellte sich an, tauschte untereinander oder plante Einkäufe mit Nachbarn. Alltagsstrategien wurden zum Gemeinschaftserlebnis. Und obwohl 10 Mark nominell wenig wert waren, spiegeln sie doch in jeder Dekade die sozialen und wirtschaftlichen Bruchlinien der DDR wider.
10 Mark – ein kleiner Betrag, der große Geschichten erzählt. Von Warteschlangen und Rationierung in den 1950ern über vorsichtige Lockerungen in den 1960ern bis zu vollen Regalen und zugleich unerfüllbaren Luxuswünschen in den 1980ern. Die Planwirtschaft prägte nicht nur Preise, sondern auch das Miteinander und den Alltag einer ganzen Generation.
Dresden. Mit dem offiziellen Spatenstich beginnt in Dresden der Neubau eines der ambitioniertesten Gesundheitsprojekte Europas: Auf rund 18 000 m² entsteht das moderne Herzzentrum Dresden, das künftig als Leuchtturmprojekt für Kardiologie und Herzchirurgie fungieren soll.
Ein Hotspot für Herz‑Kreislauf‑Versorgung
Gerade für die ältere Bevölkerung Sachsens, die überdurchschnittlich häufig an Herz‑ und Kreislauferkrankungen leidet, ist das neue Zentrum „der Hotspot für eine Versorgung – und vor allem auch ein Ankerpunkt für telemedizinische Angebote“, betonte Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping. Die Hälfte der Investitionssumme von 300 Millionen Euro trägt der Freistaat. Für Köpping ist die Förderung mit 150 Millionen Euro „eines unserer größten Förderprojekte“, da Herz‑Kreislauf-Leiden zu den häufigsten Todesursachen zählen und Sachsen bei den Herz‑Kreislauf-bedingten Sterbefällen zuletzt auf dem drittletzten Platz aller Bundesländer rangierte.
Modernste Technik und überregionale Anbindung
Geplant sind hochmoderne Operationssäle, High‑Care-Pflegeplätze, Labore und eine umfassende telemedizinische Infrastruktur. „Wir bauen nicht nur für Dresden, sondern für die gesamte überregionale Versorgung“, erklärte der Projektleiter. Kooperationen mit kommunalen und privaten Partnern – etwa dem Sana-Klinikverbund und dem Universitätsklinikum – sollen eine nahtlose Versorgungskette bis in ländliche Gebiete garantieren.
Politisches Signal und regionale Vernetzung
Ministerpräsident Michael Kretschmer würdigte das Projekt als „große Chance“ für Sachsen. Er verwies auf die 30-jährige Erfolgsgeschichte des bestehenden Herzzentrums und betonte: „Moderne Medizin braucht moderne Strukturen. Mit unserem neuen Zentrum setzen wir ein starkes Signal für Spitzenmedizin im Freistaat.“ Gleichzeitig unterstrich er die Bedeutung regionaler Netzwerke. Wie bereits in Chemnitz, wo ein Maximalversorger mit 19 Häusern kooperiert, sollen spezialisierte Versorgungsangebote künftig allen Sachsen gleichermaßen zugutekommen.
Prävention im Fokus
Neben dem Neubau legt das Projekt ein besonderes Augenmerk auf Prävention. Herzprobleme ließen sich oft schon durch frühzeitiges Erkennen von Symptomen und eine gesunde Lebensweise vermeiden, so Köpping. „Warnzeichen ernst nehmen, zeitig zum Arzt gehen und auf ausgewogene Ernährung sowie Bewegung achten“, appellierte sie insbesondere an die Männer, bei denen noch Nachholbedarf bestehe.
Ausblick bis 2029
Der Fertigstellungstermin ist auf 2029 angesetzt. Dann wird Dresden nicht nur über eines der größten Herzzentren Europas verfügen, sondern auch einen wegweisenden Leuchtturm für eine flächendeckende, hochqualitative Herz‑Kreislauf-Versorgung im Freistaat senden.
Nach fast einem Jahrhundert Stille kehrt die Siemensbahn zurück in den Berliner S-Bahn-Takt. Die historische Strecke, 1929 von Siemens errichtet, um Siemensstadt an den innerstädtischen Schienenverkehr anzubinden, erlebt derzeit eine umfassende Wiederbelebung – und zwar nicht nur kulturell, sondern auch technologisch wegweisend.
Aufbruch in die Zukunft mit Blick in die Vergangenheit
Auf einer Länge von 4,5 Kilometern schlängelt sich die alte Siemensbahn von Siemensstadt über Wernerwerk bis zum Endbahnhof Gartenfeld. An vier Stationen – darunter die denkmalgeschützten Haltepunkte Siemensstadt und Wernerwerk – und entlang eines imposanten Stahlviadukts haben Ingenieurinnen und Ingenieure in den vergangenen zwei Jahren akribisch gearbeitet. Ziel: Erhalt der historischen Bausubstanz und gleichzeitiger barrierefreier Ausbau für den modernen S-Bahn-Betrieb.
„Ein echtes Leuchtturmprojekt für Berlin – hier trifft Industriedenkmal auf Cutting‑Edge‑Technologie“, erklärt Projektleiterin Dr. Claudia Kramer von der Ingenieurgemeinschaft Krebs & Kiefer.
Digitale Präzision per BIM
Im Zentrum der Baumaßnahmen steht Building Information Modeling (BIM): eine digitale Planungsmethodik, die weit über klassische 3D‑Modelle hinausgeht, indem sie semantische Informationen in jedes Bauelement integriert. Um den historischen Bestand millimetergenau abzubilden, setzten die Vermessungsteams von GI Consult Laserscan-Verfahren ein. Die erzeugten Punktwolken ergänzten sie durch Detailvermessungen mit Messschiebern – bis in feinste Ritzen und Fugen.
Level of Detail 300–400: Diese Detailtiefe erlaubte es Statik‑ und Denkmalpflegerteams, Entscheidungen auf einer belastbaren Datengrundlage zu treffen.
IFC‑Standard & BCF‑Schnittstelle: Durch die Nutzung offener Austauschformate wurde eine „Single Source of Truth“ geschaffen, die alle Projektbeteiligten – von Allplan- über Revit- bis Desite‑Nutzern – auf eine gemeinsame Datengrundlage bringt.
„BIM ist für uns keine Luxusoption, sondern essenziell, um frühzeitig Konflikte wie Kollisionen zwischen Gleisbett und Bahnsteigkante zu erkennen“, so BIM‑Koordinator Markus Hennecke von Sveco.
Praxisbeispiel Wernerwerk
An der denkmalgeschützten Bahnsteigkante des Wernerwerks zeigte sich der Mehrwert: Abweichungen in Länge, Abstand zum Gleis und Höhenlage wurden im digitalen Modell sichtbar, noch bevor der erste Spatenstich erfolgte. Die Folge: eine präzise Nachkorrektur der Pläne – mit deutlich geringerem Aufwand und Kosten.
„Solche Anpassungen wären ohne BIM erst beim realen Bau aufgefallen. Dann stünden wir vor echten Herausforderungen – und Mehrkosten in Millionenhöhe“, betont Hennecke.
Ein „Marathon“ für Beteiligte und Umwelt
Der offizielle Baustart datiert auf Herbst 2022; seitdem arbeiten Ingenieure, Denkmalpfleger und Ämter im Dauerlauf, um das Projekt rechtzeitig an den Start zu bringen. Dafür wurden lokale Nachunternehmer eingebunden, Planungsbüros kooperieren länderübergreifend, und die Berliner Senatsverwaltung steuert das Vorhaben als Teil des I 2030‑Programms zur Stärkung der Hauptstadtinfrastruktur.
Neben dem technischen Prestige winkt ein handfester Umweltnutzen: Die Reaktivierung nutzt vorhandene Schienenkapazitäten, verlagert Pendlerströme zurück auf die Schiene und verringert den Autoverkehr in Siemensstadt und Umgebung. Ein Beitrag zur Mobilitätswende, der auch an Klima- und Flächenverbrauchszielen anschließt. Für die Projektpartner ist die Siemensbahn mehr als eine Bauaufgabe – sie ist eine Blaupause für künftige Sanierungen denkmalgeschützter Bahnanlagen in Deutschland:
„Dieses Projekt ist unsere neue Best‑Practice‑Methode. Hier lernen unsere Teams, wie moderne Infrastrukturentwicklung funktioniert: digital, kollaborativ, ressourcenschonend“, resümiert Dr. Kramer.
Wenn im kommenden Jahr die ersten S‑Bahnzüge über das historische Viadukt rollen, wird Berlin nicht nur ein Stück Industriegeschichte wiederbeleben, sondern auch demonstrieren, wie digitale Spitzentechnologie und Denkmalschutz Hand in Hand gehen können. Die Siemensbahn erwacht neu – und weist zugleich den Weg in ein vernetztes, nachhaltiges Bahnzeitalter.
Zwickau, einst Wiege des deutschen Automobilbaus, prägte ab 1956 im ehemaligen Horch-Werk als VEB Sachsenring den Trabant – das Kultauto der DDR. Als „Antwort auf Isolation und Rohstoffknappheit“ setzten die Ingenieure auf eine bewährte Gemischtbauweise und entwickelten die weltweit einzige Großserie mit Kunststoffkarosserie: Duroplast, gefertigt aus Baumwollabfällen aus der UdSSR und heimischem Phenolharz aus Braunkohle, ersetzte Stahl.
Im Werk arbeiteten zuletzt rund 12.000 Beschäftigte – darunter Gastarbeiter aus Vietnam, Kuba und Mosambik – in zwei Schichten, um bis zu 580 Fahrzeuge täglich herzustellen. Jede Rohkarosse wurde mit stolzen 4.620 Schweißpunkten verbunden, mehr als doppelt so viele wie im Westen. Die Duroplast-Teile entstanden in aufwendigen Heißpressen bei 188 °C, die Baumwollfasern und Harz in achtminütiger Taktung formten.
Der luftgekühlte Zweitaktmotor (600 cm³, 26 PS) lief in Chemnitz vom Band und bestand – ungewöhnlich – eine vierminütige Prüfstandserprobung samt subjektiver Geräuschkontrolle. Die Endmontage in Zwickau auf einem einzigen Fließband begrenzte die Jahreskapazität auf 150.000 Exemplare. Die individuell angepassten Türen, das Aufkleben und Verschrauben der Plastikhaut sowie das halbautomatisierte Lackieren in fünf Farbvarianten verliehen jedem Trabant seinen eigenen Charakter. Besonderheit: der über dem Motor platzierte Tank, der ohne Benzinpumpe auskam, und die „Autohochzeit“ – das Verschrauben von Antriebsblock und Vorderachse mit nur vier Schrauben.
Trotz der täglichen Fertigungszahl mussten Interessenten im Schnitt 15 Jahre auf ihr Fahrzeug warten. Zwischen 1958 und dem 30. April 1991 verließen 3.098.000 Trabant das Band – das Ende einer Ära, bevor wenige Kilometer entfernt VW die Automobiltradition im sächsischen Mosel fortsetzte.
In der DDR stand Arbeit im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Das System garantierte jedem Bürger einen Arbeitsplatz, zugleich war Arbeiten rechtliche Pflicht. Mit der Wiedervereinigung endete dieses Modell abrupt – Anlass, Rückblick zu halten.
Arbeitspflicht und garantierte Anstellung
Das Recht auf Arbeit war in der Verfassung verankert, die Arbeitsverweigerung galt als „asozial“ und konnte mit Geldstrafe oder Haft geahndet werden. Nach Abschluss einer Berufsausbildung oder eines Studiums erhielt jede und jeder eine feste Planstelle. Arbeitslosigkeit war offiziell nicht vorgesehen und für die meisten Beschäftigten kein Begriff.
Eingeschränkte Berufs- und Studienwahl
Die freie Entscheidung für Ausbildung und Studium war an Voraussetzungen geknüpft: Neben Leistungen in Schule und Berufsschule spielten politische Zuverlässigkeit und Engagement in Massenorganisationen eine Rolle. Gute Schulnoten allein reichten nicht aus, um auf die Erweiterte Oberschule oder an die Hochschule zu gelangen. Dadurch war der Zugang zu bestimmten Berufen und akademischen Laufbahnen für manche Jugendlichen beschränkt.
Betrieb als sozialer Mikrokosmos
Betriebe übernahmen in großer Breite soziale Aufgaben: Werkspolikliniken versorgten Gesundheitsfragen, Betriebskindergärten entlasteten Familien, und Betriebssportgemeinschaften organisierten Freizeit und Wettkämpfe. In Brigaden organisierten sich die Kolleginnen und Kollegen, um Produktionsziele gemeinsam zu erreichen und soziale Bindungen zu stärken.
Arbeitsbedingungen und Produktivität
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag 1989 bei rund 43,5 Stunden – im Vergleich zur 40‑Stunden‑Woche, für die westdeutsche Gewerkschaften eintraten. Planwirtschaftliche Vorgaben trafen auf Materialengpässe und zum Teil veraltete Maschinen, was zu Leerlaufzeiten und geringer Produktivität führte. Häufig waren mehr Beschäftigte in einem Betrieb als zur Erfüllung der Planvorgaben nötig, ein Phänomen, das als „arbeitslos am Arbeitsplatz“ beschrieben wurde.
Übergang nach der Wiedervereinigung
Am 1. März 1990 nahm die Treuhandanstalt ihre Arbeit auf und meldete über 8.000 volkseigene Betriebe sowie 20.000 Kombinate zur Privatisierung an. Viele Unternehmen, darunter bekannte Marken wie der Kamerabetrieb in Dresden, konnten nicht saniert werden und stellten binnen kurzer Zeit den Betrieb ein. Dies führte zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit im Osten, die für viele Beschäftigte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und emotionale Einschnitte bedeutete.
Die DDR-Arbeitswelt war durch verbindliche Beschäftigung, kollektive Strukturen und ein umfassendes Betriebssystem geprägt. Gleichzeitig schränkten zentrale Planung und politische Vorgaben individuelle Freiheiten ein und wirkten sich auf Effizienz und Produktivität aus. Der Bruch mit dem System nach 1990 leitet bis heute Diskussionen über Arbeitssicherheit, Marktwirtschaft und soziale Verantwortung ein.
Nach monatelanger Unsicherheit kehrt am Spreewerk in Lübben wieder Aufbruchstimmung ein: Das traditionsreiche Munitionsunternehmen, das im vergangenen Jahr kurz vor dem Aus stand, plant die Wiederaufnahme der Munitionsteileproduktion. Für die rund 60 verbliebenen Beschäftigten am Standort ist dies längst überfällig – nicht nur wegen der geplanten Expansion auf über 200 Arbeitsplätze in den kommenden zwei Jahren, sondern auch wegen der kurzen Wege nach Hause und des positiven Arbeitsumfelds, das sie in Lübben schätzen.
Historische Wurzeln und schwere Zwischenfälle
Das Spreewerk blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Nach dem Ende des Kalten Krieges diente der Standort vor allem der Entsorgung alter Munition – eine Aufgabe, die durch zwei folgenschwere Explosionen zum Tod von insgesamt fünf Mitarbeitern führte und den Betrieb schwer belastete. In der Folge musste das Werk mehrfach die Besitzer wechseln, bis schließlich ein neuer Betreiber das Gelände übernahm und die Genehmigungsverfahren für Produktion und Vernichtung erfolgreich konsolidierte.
Infrastruktur und Technik auf dem Prüfstand
Der jetzige Betreiber will die vorhandene Infrastruktur reaktivieren und dafür rund 60 Millionen Euro investieren. Geplant ist zunächst die Herstellung einzelner Munitionsteile – fertige Geschosse sollen dabei nicht aus Lübben kommen. Selbst der einstige Verbrennungsofen soll künftig Produktionsabfälle sicher vernichten. Dank der jahrelangen Expertise in der Delaborierung gilt die Genehmigungslage als besonders gut, sodass die technische Neuausrichtung zügig beginnen kann.
Befürworter und Kritiker im Dialog
Unter den Beschäftigten herrscht Erleichterung: Die Risiken der neuen Produktion werden als geringer eingeschätzt als die Gefahren bei der alten Entsorgungstätigkeit. „Wir fühlen uns gut geschützt“, sagt eine Mitarbeiterin, „Delaborierung war deutlich gefährlicher.“ Doch nicht alle in Lübben teilen diese Einschätzung. Eine von 1 600 Anwohnern unterzeichnete Petition protestiert gegen die Rückkehr der Rüstungsindustrie in die Region. Kritiker mahnen, dass Frieden nicht allein mit Waffen gesichert werden könne. Gleichzeitig zeigt sich in der Stadtverordnetenversammlung große Mehrheit für das Projekt – nicht zuletzt wegen der angekündigten Investitionen und der versprochenen Arbeitsplätze.
Zwischen ökonomischer Notwendigkeit und ethischer Debatte
Die Debatte um das Spreewerk spiegelt die Zerrissenheit wider, in der sich viele Industriestandorte heute befinden: Einerseits sichert die Munitionsproduktion dringend benötigte Arbeitsplätze und stärkt die Verteidigungsfähigkeit von Staaten wie der Ukraine; andererseits bleibt die Frage, inwieweit lokale Gemeinschaften moralische Bedenken gegenüber der Waffenproduktion überwinden können. In Lübben jedenfalls richten sich nun alle Blicke nach vorn – in der Hoffnung, dass Technik, Sicherheit und soziale Verantwortung künftig Hand in Hand gehen.
Die Oberlausitz ist eine historische Region im Osten Deutschlands und zum Teil in Polen, bekannt für ihre vielfältige Landschaft, reiche Geschichte und kulturelle Vielfalt. Sie erstreckt sich von der Spree im Norden bis zu den Ausläufern des Iser- und Riesengebirges im Süden. Die Region umfasst Teile von Sachsen und Brandenburg in Deutschland sowie Niederschlesien in Polen.
Die sechs Städte der Oberlausitz – Bautzen, Görlitz, Kamenz, Lauban, Löbau und Zittau – schlossen 1346 ein Bündnis zum gemeinsamen Schutz der Handelswege. Zu jener Zeit war der Landfrieden in der Region oft in Gefahr. Die Oberlausitz weckte Begehrlichkeiten bei den Fürsten der umliegenden Gebiete, wichtige Verbindungen wie die Via Regia wurden von Wegelagerern heimgesucht. Der Sechsstädtebund bekam den Segen des späteren Kaisers Karl IV. und unter seiner Ägide erlebten die Städte eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Prächtige Rat- und Bürgerhäuser, stolze Kirchen und wehrhafte Befestigungsanlagen künden von jener Zeit und schaffen ein einzigartiges Flair, das pulsierendes Leben der Gegenwart mit dem Atem großer Geschichte verbindet.
Die Städte der Oberlausitz sind reich an historischen Bauwerken und kulturellen Schätzen. Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, beeindruckt mit ihrer gut erhaltenen Altstadt und zahlreichen Renaissance- und Barockgebäuden. Bautzen, die inoffizielle Hauptstadt der Oberlausitz, ist bekannt für ihre mittelalterliche Altstadt, die Türme und die sorbische Kultur.
Weitere sehenswerte Orte sind Zittau mit seinen historischen Kirchen und dem berühmten Zittauer Fastentuch, Kamenz mit dem Lessing-Museum und das Schloss Krobnitz, das eine eindrucksvolle Residenz aus dem 18. Jahrhundert darstellt. Die Region ist auch bekannt für ihre traditionellen Umgebindehäuser, eine einzigartige Kombination aus Fachwerk-, Block- und Massivbauweise, die besonders in ländlichen Gebieten zu finden sind.
Besonders prägend in der Oberlausitz sind die malerischen Flusstäler, sanften Hügel und dichten Wälder, wie das Zittauer Gebirge und das Biosphärenreservat Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft. Die Region hat eine bewegte Geschichte und beherbergt die sorbische Minderheit, die eine eigene Sprache und Kultur pflegt. Wirtschaftlich ist die Oberlausitz heute diversifiziert, mit einem wachsenden Tourismus, der Naturliebhaber und Kulturinteressierte anzieht.
Ein leiser Windhauch streicht über das Wasser, das sich hier wie ein silberner Faden durch urwüchsige Auen schlängelt. Wer im Spreewald ankommt, lässt die Hektik der Stadt hinter sich: Das Gefälle von lediglich 15 Zentimetern pro Kilometer bremst nicht nur die Fließe, sondern schlägt auch dem Puls der Neuankömmlinge einen sanften Takt vor. Lautlos gleiten Holzkähne vorbei, und über allem scheint die Zeit sich zu dehnen.
Wasser, das verbindet und nährt
Mit einer Gesamtlänge von über 1 500 Kilometern bildet das Netz aus Fließen und kleinen Kanälen das Rückgrat der Kulturlandschaft Spreewald. Hier leben nicht nur Einheimische, deren Wurzeln teils Jahrhunderte alt sind, sondern auch Menschen, die dem Wasser wegen hierherzogen – vom Stadtmenschen bis zum Kiwi, der auf stilles Gemüt umschult. Denn wer einmal erlebt hat, wie der Morgennebel wie ein zarter Schleier über der Oberfläche tanzt, versteht, dass jegliche Eile vergeblich ist.
Handwerk zwischen Tradition und Innovation
In Schlepzig reift der Roggen-Whisky „Stork Club“ heran: Die Spreewood Distillers setzen auf deutschen Roggen und verleihen ihren Fässern dadurch Aromen von Kokosnuss, Toffee und Kaffee. „Drei Jahre Geduld sind Pflicht“, sagt Mitbegründerin Jana Krause, „doch das entschleunigt uns mehr, als jeder Yoga-Kurs es könnte.“
Nur wenige Kilometer entfernt hält Franziska Ast in Raddusch eine andere Tradition lebendig: Ihre südamerikanischen Alpakas liefern Wolle, aus der sie ein eigenes Modelabel etablieren möchte. Die Tiere, seit jeher Begleiter durch karge Andenlandschaften, wecken hier das Bedürfnis nach Ursprünglichkeit. „Die Nähe zu den Alpakas lässt Menschen zur Ruhe kommen“, beobachtet Ast. Spaziergänge mit den Tieren haben sich bereits als therapeutisches Angebot für gestresste Großstädter bewährt.
Mühlenklang und Schleusengesang
In Sagritz mahlt die Kanow-Mühle seit dem 13. Jahrhundert – heute nicht mehr Getreide, sondern Öle aus Lein, Schwarzkümmel und Hanf. Leinöl, frisch gepresst, bleibt nur wenige Wochen haltbar. Ein Qualitätsmerkmal, das die Nachfrage hochhält.
An 53 historischen Schleusen, allen voran die Waldschlösschen-Schleuse in Burg, trifft man Alfred Gleich, den wohl einzigen Profi unter den Schleusensingern. Mit seinem „Walzer vom Kahn“ und Geschichten von Teufelswerk im Spreewald – einer Legende, in der ein wütender Ochsenkarren das Auenlabyrinth formte – zieht er Besucher in seinen Bann.
Wandel und Bewahrung im UNESCO‑Biosphärenreservat
Seit 1991 zählt der Spreewald zum UNESCO‑Schutz. Doch Hochwasser, Versauerung und Verschlammung bedrohen das fragile Gleichgewicht. Forscher des Leibniz‑Instituts in Berlin messen regelmäßig Wasserqualität und Fischbestände: „Junge Fische deuten auf Erholung hin, aber die Sedimentation macht vielen Arten zu schaffen“, erklärt Gewässerökologin Dr. Martina Hofmann.
Gleichzeitig entstehen neue Naturoasen auf ehemaligen Bergbauflächen. Der Schlabendorfer See, seit Ende der 1990er Jahre eigentum der Heinz‑Sielmann‑Stiftung, ist ein Beispiel dafür, wie aktive Renaturierung Kohlewüsten in blühende Lebensräume verwandelt.
Von Mückenplagen und Monddämmerungen
Unter den Erlenwäldern, die Menschen vorzugsweise in Rabatten pflanzten, gehört Förster Lutz Balke zu den Hütern des Grüns. Seine größte Herausforderung sind nicht nur umgestürzte Bäume oder die Sorge um seltene Pilzarten, sondern auch die jährlichen Mückenplagen. „Die fressen einen förmlich auf“, scherzt er, während er die verschlungenen Wege freischneidet.
Wenn im Winter die Fließe zufrieren, erlebt der Spreewald eine fast gespenstische Stille. Dann gehören Eisangler, Schlittschuhläufer und Trachtenumzüge – wie der wendische Zapust – für kurze Zeit ganz den Dorfbewohnern.
Zwischen Tradition und Zukunft
Ob Trachtenumzug in Stradow oder die Ernte der Erlensamen im Januar – im Spreewald schlägt das Herz einer lebendigen Kulturlandschaft, die ständig zwischen Bewahrung und Wandel oszilliert. Hier, zwischen Moos und Mühle, Fließ und Fastnacht, flüstert die Zeit ihre leisen Geschichten. Wer zuhört, versteht: Langsamkeit ist keine Rückständigkeit, sondern eine Kunst. Und der Spreewald ihr bedeutendster Lehrmeister.
Als Stefan Träger im Jahr 2017 in seine Heimatstadt Jena zurückkehrte, um den Vorstandsvorsitz der JENOPTIK AG zu übernehmen, war das bundesweit eine Nachricht. Denn Träger ist einer der wenigen Ostdeutschen, denen es gelungen ist, direkt an die Spitze eines börsennotierten Konzerns zu klettern. Dabei begann sein Werdegang nach dem Abitur – anders als bei vielen westdeutschen Führungskräften – nicht mit einem privilegierten Studium, sondern als Hilfsarbeiter bei Carl Zeiss in Saalfeld. Seinen Weg ins Spitzenmanagement verdankt er einer Kombination aus fachlicher Qualifikation, Auslandserfahrung und dem festen Willen, als Ostdeutscher „Bodenhaftung zu behalten“ und „nicht abzuheben“. Für Träger ist sein Aufstieg ein Beleg dafür, wie wertvoll Transformations- und Umbruchserfahrungen aus der DDR und der Nachwendezeit sein können. Gleichzeitig verdeutlicht sein Beispiel, wie selten solche Karrieren aus dem ostdeutschen Raum in die Chefetagen führen.
Statistische Realität: Unterrepräsentanz in fast allen Bereichen
Aktuelle Zahlen des Elitenmonitors belegen, dass Ostdeutsche in wirtschaftlichen Spitzenpositionen selbst 35 Jahre nach der Wiedervereinigung deutlich unterrepräsentiert sind. Für 2024 liegt ihr Anteil in Führungsrollen großer Unternehmen bei gerade einmal 4 Prozent, obwohl Ostdeutsche etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 lag dieser Wert noch bei 5,1 Prozent, 2022 bei 5,0 Prozent – ein tendenzieller Rückgang, obwohl die Politik und Wirtschaft immer wieder auf „Ost-West-Angleichung“ pochen.
In der Justiz sieht es ähnlich aus. Dort entfielen 2024 lediglich 2,7 Prozent aller Spitzenposten auf Personen mit ostdeutschem Hintergrund. Zwar ist dies ein leichter Anstieg gegenüber den 1,4 Prozent in den Jahren 2018 und 2022, doch macht die Zahl deutlich, dass Ostdeutsche häufig nicht einmal in Gerichtsinstanzen vertreten sind. Einige Branchen sind noch erschreckender: Im Militär beispielsweise liegt der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen nach wie vor bei 0,0 Prozent. Lediglich in den Medien gibt es mit 10,3 Prozent einen moderaten Zuwachs, nachdem man 2018 noch bei 8,4 Prozent lag.
Im politischen Sektor dagegen hält der Elitenmonitor fest, dass Ostdeutsche inzwischen annähernd ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend repräsentiert sind. Im Kabinett von Kanzler Merz zählen mit drei ostdeutschen Ministern – darunter Carsten Schneider, kürzlich berufener Bundesumweltminister – sogar mehr Ostdeutsche zur Bundesregierung, als ihr Bevölkerungsanteil vermuten lassen würde.
Warum der Osten im Abseits steht
„Da sind insbesondere die vertikalen Netzwerke interessant“, erläutert Politikprofessorin Astrid Lorenz von der Universität Leipzig, Mitautorin des Elitenmonitors. Mit vertikalen Netzwerken meint sie Kontaktlinien zu einflussreichen Personen – sogenannte „Sponsoren“ –, die Karrieren nicht nur beobachten, sondern aktiv fördern. Solche Förderstrukturen waren in der DDR kaum ausgebildet. „Ostdeutsche müssen sehr oft weggehen, in den Westen, um überhaupt für Aufstiegschancen infrage zu kommen. Aber das bricht die Verbindung zu Heimat und lokalen Netzwerken ab.“
Ein wesentlicher Grund dafür, dass nur wenige Ostdeutsche in großen Konzernen den Aufstieg schaffen, ist ganz profan: Die meisten DAX- und MDAX-Unternehmen haben ihren Hauptsitz im Westen. Wer im Ruhrgebiet oder in Stuttgart arbeitet, kann sich leichter für Führungsrollen empfehlen, weil dort die Unternehmenszentralen angesiedelt sind. Ostdeutsche, die in Jena, Leipzig oder Dresden bleiben, haben seltener eine „Bühne“, auf der sie sichtbar werden. „Wir brauchen hier in Ostdeutschland Unternehmen, die hier auch ihren Hauptsitz haben. Wir entscheiden hier – und davon haben wir zu wenig“, betont Stefan Träger.
Eng damit verknüpft ist das Problem der fehlenden Vorbilder. Carsten Schneider, ehemaliger Ostbeauftragter der Bundesregierung, mahnt: „Eine tatsächliche Angleichung der Vertretung Ostdeutscher in Spitzenpositionen wird sich nicht von allein einstellen. Ohne bewusstes Gegensteuern, ohne Sensibilisierung, dass man Menschen mit ostdeutschem Hintergrund fördert, wird sich nichts ändern.“ Wer in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland aufwuchs, erlebte den massenhaften Weggang junger Talente im Zuge der Deindustrialisierung. Viele, die Talent und Ambitionen hatten, entschieden sich, in westdeutsche Großstädte oder gar ins Ausland zu ziehen. Dadurch fehlt bis heute der Aufbau stabiler Bindungen zu lokalen Unternehmen und Institutionen.
Gesellschaftliche Folgen: Das Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein
Doch was bedeutet diese Unterrepräsentanz für die gesellschaftliche Stimmung im Osten? Professorin Lorenz warnt: „Wenn man, was man nicht tun sollte, aus der Vergangenheit ableiten würde, wie die Zukunft funktionieren wird, würde man prognostizieren, dass eine echte Angleichung erst Ende dieses Jahrhunderts erreicht ist.“ Sie rechnet jedoch damit, dass ein steigendes Bewusstsein für das Problem den Prozess verkürzen könnte.
Der Elitenmonitor zeigt, dass sich dieses Ungleichgewicht nicht nur in nackten Zahlen ausdrückt, sondern auch in einem Gefühl der Ausgrenzung mündet. Astrid Lorenz: „Es trägt dazu bei, dass viele im Osten ein Gefühl der Distanz zur Politik empfinden, weil sie niemanden kennen, der dort besonders wichtig wäre. Das triggert in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.“ Carsten Schneider fügt hinzu: „Es macht mich wütend, wenn manche von oben herab auf meine Heimat gucken und über die Leute sprechen – von Leuten, die nie in ihrem Leben etwas ausstehen mussten.“
Bereits 2019 berichtete die Umschau über die einzige ostdeutsche Richterin am Bundessozialgericht, Judith Neumann aus Magdeburg, deren Berufung nach Kassel eine Seltenheit geblieben ist. Noch seltener sind Ostdeutsche im Militär: Offiziere oder Generäle mit ostdeutschem Hintergrund sind in den höchsten Rängen schlicht nicht zu finden.
Erste Ansätze zur Veränderung
Trotz dieser desaströsen Zahlen gibt es Ansätze, das Ungleichgewicht zu beheben:
Ausbau lokaler Industrien
Stefan Träger plädiert dafür, dass sich mehr bedeutende Industrieunternehmen entscheiden, ihren Hauptsitz im Osten anzusiedeln oder zumindest entscheidende Abteilungen und Führungsebenen hier zu etablieren. Nur so würden in Ostdeutschland „Karriereschienen“ entstehen, die jungen Fachkräften Aufstiegschancen vor Ort bieten.
Gezielte Förderprogramme
Politik und Wirtschaft sollten Mentoring- und Sponsoring-Programme aufsetzen, die ostdeutsche Talente von früh an mit Führungspersönlichkeiten vernetzen. So könnten vertikale Netzwerke mittelfristig aufgebaut werden.
Sichtbarkeit von Vorbildern erhöhen
Die Medien könnten dazu beitragen, erfolgreiche Ostdeutsche in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur stärker in den Fokus zu rücken. Ein prominentes Beispiel wie Robert Schneider, ehemaliger „Fokus“-Chefredakteur und heute Chef der BILD-Zeitung, zeigt den Weg: „Wer sich nicht zeigt, wird nicht gesehen“, sagt Schneider.
Regionale Stärkung der Bildungslandschaft
Universitäten und Forschungseinrichtungen im Osten sollten enger mit Wirtschaftspartnern zusammenarbeiten, um Studierende frühzeitig für regionale Unternehmen zu begeistern und sie auf Führungsrollen vorzubereiten – ganz im Sinne eines „Brain-Drains stoppen“-Ansatzes.
Ausblick: Langsamer, aber nicht aussichtsloser Weg
Dass Politik – anders als Wirtschaft, Justiz und Militär – Ostdeutsche inzwischen angemessen in Spitzenämtern berücksichtigt, ist ein Hoffnungsschimmer. 20 Prozent der Bundestagsabgeordneten stammen heute aus dem Osten; damit sind sie in etwa gleich stark vertreten wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Doch gerade dieser Unterschied zwischen politischer und wirtschaftlicher Repräsentanz macht eines deutlich: Die Lösung liegt nicht allein im Gesetzgeber, sondern in der unternehmerischen und gesellschaftlichen Selbstverpflichtung.
Wirtschafts- und Bildungsexperten sind sich einig: Solange große Konzerne ihre Entscheidungszentralen im Westen belassen und maßgebliche Netzwerke weiterhin auf alte Seilschaften setzen, bleibt der Osten in puncto Elitenbildung abgehängt. Doch erste Unternehmen wie JENOPTIK setzen ein Zeichen, indem sie ortsgebundene Führungskultur fördern. Bleiben solche Vorreiter die Ausnahme, wird sich an der statistischen Misere wenig ändern.
Stefan Träger bleibt deshalb vorsichtig optimistisch: „Ich glaube nicht, dass es bis Ende dieses Jahrhunderts dauert. Das Bewusstsein für das Thema ist gestiegen. Wir brauchen Sichtbarkeit, Mut und vor allem Standorte, an denen entschieden wird.“ Ob Politik und Wirtschaft diese Signale in den nächsten Jahren aufnehmen, wird der Schlüssel sein, damit Ostdeutsche nicht länger den Eindruck haben, nur als Arbeitskräfte willkommen zu sein – während die Chefetagen dem Westen vorbehalten bleiben.