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Verpasste Chancen: Vacom sagt Großlöbichau ab – und Jena bleibt stumm

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Die Nachricht, dass die VACOM Vakuum Komponenten & Messtechnik GmbH seine Pläne, in Großlöbichau über 1.000 Arbeitsplätze zu schaffen, abgesagt hat, ist mehr als nur ein regionaler Rückschlag. Es ist ein Signal dafür, wie fragil die Standortpolitik in Thüringen derzeit ist – und eine Mahnung, dass Jena und die Landesregierung endlich aktiver werden müssen.

Großlöbichau, das de facto längst zum erweiterten Einflussbereich Jenas gehört, hätte von dieser Ansiedlung immens profitiert. Nicht nur durch die Schaffung moderner Arbeitsplätze, sondern auch durch die wirtschaftlichen Impulse, die ein internationaler Technologiekonzern mit sich bringt. Von Zulieferern über den Einzelhandel bis hin zur Wohnungswirtschaft: Die gesamte Region hätte gewinnen können.

Die Absage Wacoms wirft nun jedoch Fragen auf. Waren die Rahmenbedingungen vor Ort wirklich attraktiv genug? Hat man die Chancen einer solch großen Investition zu spät erkannt? Und vor allem: Warum hat sich die Stadt Jena in dieser Debatte so auffällig zurückgehalten?

Jena, als innovativer Wissenschafts- und Technologiestandort, hätte bei der Ansiedlung viel stärker die Hand reichen müssen. Die Nähe zur Friedrich-Schiller-Universität, die hervorragende Forschungsinfrastruktur und die jungen Talente, die die Stadt ausbildet, sind ein enormer Vorteil, den man hätte offensiv vermarkten können. Doch es scheint, als hätte man die Gemeindeverwaltung von Großlöbichau eher als Nachbarn denn als Partner betrachtet.

Auch auf Landesebene bleibt das neue Regierungsbündnis in Thüringen auffallend blass. Die Standortpolitik, insbesondere für hochspezialisierte Branchen, scheint zwischen Haushaltsdebatten und parteipolitischen Grabenkämpfen unterzugehen. Doch Investoren wie Wacom brauchen mehr als nur gute Absichten: Sie verlangen klare Rahmenbedingungen, schnelle Entscheidungswege und eine sichtbare Unterstützung durch die Politik.

Die Absage ist ein bitterer Verlust, doch sie muss ein Weckruf sein. Jena darf sich nicht auf seinen Lorbeeren als Technologiestandort ausruhen. Es muss aktiv auf umliegende Gemeinden wie Großlöbichau zugehen und gemeinsam mit ihnen eine Strategie entwickeln, um die Region attraktiver für Investoren zu machen. Von einem solchen Schulterschluss könnten beide Seiten profitieren – und nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger.

Die Verantwortung liegt nun bei allen: bei der Stadt Jena, bei der Gemeinde Großlöbichau und bei der Landesregierung. Sie müssen beweisen, dass sie die wirtschaftliche Zukunft der Region ernst nehmen. Denn eines ist sicher: Die nächste Chance wird kommen. Aber ob die Region dann besser vorbereitet ist, liegt ganz bei ihr.

„Schlussstrich“ unter Corona-Bußgelder? Thüringer Politik ringt um Lösung

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In Thüringen sind zahlreiche Bußgeldverfahren wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln nach wie vor nicht abgeschlossen. Ob die verhängten Strafen überhaupt noch bezahlt werden müssen, steht in vielen Fällen infrage. Maskenpflicht, Abstandsregeln und Ausgangssperren – diese und ähnliche Maßnahmen hatten während der Pandemie für umfangreiche Bußgeldverfahren gesorgt. Dabei sind die Unterschiede zwischen den Kommunen teils erheblich. Gleichzeitig wird im Landtag über mögliche Amnestien diskutiert, die einen Schlussstrich unter die Verfahren ziehen könnten.

Bußgelder in Millionenhöhe
Während der Pandemie verhängten die Thüringer Kommunen Bußgelder in Millionenhöhe. In Erfurt wurden beispielsweise 344.000 Euro an Strafen festgesetzt, in Gera 174.000 Euro und in Suhl 63.000 Euro, wie die jeweiligen Verwaltungen auf Anfrage mitteilten. Insgesamt summieren sich die Bußgelder aus 12 Kreisen und kreisfreien Städten, die Daten bereitstellten, auf mindestens eine Million Euro. In dieser Summe sind teilweise auch Gebühren enthalten.

Die Gesamtzahlen zeigen deutlich, wie intensiv die Kontrollen in den Kommunen durchgeführt wurden. Allein in Erfurt wurden etwa 4000 Verfahren eröffnet, in Gera waren es rund 1600. Im Vergleich dazu verzeichnete Jena, eine Stadt ähnlicher Größe, nur rund 600 Verfahren, was zu einer Gesamtsumme von 55.900 Euro an Bußgeldern führte.

Offene Verfahren: Uneinheitliches Bild
Trotz der bereits verhängten Bußgelder sind viele Verfahren weiterhin anhängig. Allein in der Landeshauptstadt Erfurt sind etwa 870 Bußgeldverfahren noch offen, wie eine Sprecherin der Verwaltung mitteilte. Im Saale-Orla-Kreis sind 137 Verfahren ungelöst, im Wartburgkreis 49. Deutlich niedriger fallen die Zahlen in Weimar und Nordhausen aus, wo nur zwei beziehungsweise sieben Verfahren noch offen sind.

Die Summen der Einwände variieren dabei erheblich. In manchen Fällen geht es um Bußgelder von mehreren Tausend Euro, in anderen um Beträge von lediglich 60 Euro. Einige Kommunen, wie der Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, verzeichneten nur rund 100 Verfahren und knapp 5000 Euro an Bußgeldern, während andere, wie der Landkreis Nordhausen, mit etwa 1300 Verfahren Bußgelder und Gebühren von 182.000 Euro eintrieben.

Diskussion um „Schlussstrich“ und Amnestie
Angesichts der noch offenen Verfahren wird in Thüringen über einen „Schlussstrich“ unter die Corona-Bußgelder debattiert. Im Koalitionsvertrag der angestrebten Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD ist ein entsprechender Vorschlag enthalten. Geplant ist, die Möglichkeit eines Amnestie-Gesetzes zu prüfen. Eine solche Regelung würde es ermöglichen, noch offene Verfahren pauschal einzustellen.

Für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes wären jedoch Stimmen der AfD oder der Linken im Landtag notwendig, da die Koalition keine eigene Mehrheit hat. Während die Linke bereits ablehnend auf den Vorschlag reagierte, liegt der AfD-Fraktion ein eigener Gesetzentwurf vor. Dieser sieht nicht nur eine Amnestie vor, sondern auch Entschädigungszahlungen für Personen, die Bußgelder für Corona-Regelverstöße zahlen mussten. Der Entwurf wird derzeit im Justizausschuss beraten.

Unterschiede zwischen den Kommunen
Die teils erheblichen Unterschiede zwischen den Kommunen bei der Anzahl der eingeleiteten Verfahren werfen Fragen auf. Während in Erfurt und Gera Tausende Verfahren registriert wurden, waren es in anderen Kommunen, wie Jena oder Saalfeld-Rudolstadt, nur wenige Hundert. Mögliche Erklärungen könnten Unterschiede in den Kontrollstrategien oder in der Umsetzung der Corona-Regeln sein.

So verzeichnete Jena, trotz einer ähnlichen Größe wie Gera, nur rund 600 Verfahren, die zu einer vergleichsweise niedrigen Gesamtsumme an Bußgeldern führten. Dies könnte auf eine zurückhaltendere Handhabung von Kontrollen oder eine höhere Akzeptanz der Regeln durch die Bevölkerung hindeuten.

Politische und rechtliche Herausforderungen
Die Debatte um die offenen Bußgelder zeigt auch die Herausforderungen, vor denen Kommunen und Landespolitik stehen. Einerseits wollen viele Verwaltungen die Verfahren abschließen und die verhängten Bußgelder eintreiben. Andererseits stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Strafen, insbesondere im Hinblick auf die veränderte Bewertung der Corona-Maßnahmen in der Nachbetrachtung.

Einige Betroffene argumentieren, dass die Regelungen unverhältnismäßig gewesen seien und die Bußgelder daher nicht rechtmäßig sind. Zudem erschwert die hohe Anzahl an Einsprüchen die Bearbeitung der Verfahren erheblich. In einigen Fällen könnten sich Verfahren über Jahre hinziehen, was sowohl für die Betroffenen als auch für die Verwaltungen zusätzliche Belastungen bedeutet.

Ausblick: Wird es eine Lösung geben?
Die Frage, wie mit den noch offenen Verfahren umgegangen werden soll, bleibt in Thüringen vorerst offen. Eine Amnestie könnte einen schnellen Abschluss der Verfahren ermöglichen, doch die politische Zustimmung dazu ist unsicher. Gleichzeitig könnte die Ungleichheit bei der Umsetzung der Maßnahmen in den verschiedenen Kommunen den Druck auf eine landesweit einheitliche Lösung erhöhen.

Ob es tatsächlich zu einem „Schlussstrich“ kommt oder ob die Bußgelder weiterhin individuell geprüft werden, wird maßgeblich davon abhängen, wie der Landtag die Thematik bewertet. Klar ist jedoch, dass die Diskussion über die Corona-Bußgelder auch eine symbolische Dimension hat: Sie steht für den Umgang mit den politischen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie und die Frage, wie mit möglichen Ungerechtigkeiten umgegangen werden soll.

Koalitionsgespräche in Thüringen: CDU, BSW und SPD auf Konfrontationskurs

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In Thüringen gestaltet sich die Bildung der sogenannten Brombeer-Koalition, bestehend aus CDU, BSW und SPD, weiterhin schwierig. Ein zentraler Streitpunkt bleibt die Verteilung und der Zuschnitt der Ministerien. Bislang konnten sich die Parteispitzen nicht auf eine finale Ressortaufteilung einigen. Für Samstag plant die CDU jedoch, den Koalitionsvertrag auf einem kleinen Parteitag absegnen zu lassen.

Einigung über Ministerienzahl, aber nicht über Ressortverteilung
Im vorläufigen Koalitionsvertrag ist lediglich festgelegt, wie viele Ministerien jede Partei erhalten soll – eine Verteilung basierend auf dem Wahlergebnis. Demnach wird die CDU vier Ministerien übernehmen, darunter auch das Amt des Regierungschefs, das CDU-Landeschef Mario Voigt einnehmen soll. Das BSW (Bündnis Solidarisches Thüringen) soll drei Ministerien bekommen, während der SPD zwei Ressorts zugesprochen werden sollen. Details zu den einzelnen Zuständigkeiten bleiben jedoch offen.

Besonders das Wirtschaftsministerium sorgt für Diskussionen, da alle drei Parteien dieses Ressort als zentral für ihre politischen Ziele betrachten. Insider berichten, dass die Verhandlungen über die Ressortaufteilung in kleinem Kreis stattfinden. Beteiligt sind Mario Voigt (CDU), Katja Wolf und Steffen Schütz (BSW), sowie SPD-Chef Georg Maier. Trotz intensiver Gespräche ist bislang keine Einigung in Sicht.

SPD pocht auf weitere Ministerien
Die Sozialdemokraten möchten ihre Position in der zukünftigen Regierung stärken und haben Ansprüche auf zusätzliche Ressorts angemeldet. Laut Lutz Liebscher, dem Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion, ist das Sozialministerium nahezu gesetzt. Doch die SPD strebt auch die Kontrolle über das Bildungsministerium an. Dies erklärte Liebscher auf einer Regionalkonferenz zur Vorstellung des möglichen Koalitionsvertrags in Meiningen.

Das Bildungsministerium würde der SPD nicht nur Sichtbarkeit auf Landesebene verleihen, sondern auch zu ihrem Image als kompetente Kraft in den Bereichen Bildung und Soziales beitragen. Diese Ressorts gelten traditionell als Schwerpunkte der SPD und genießen in der Bevölkerung hohes Vertrauen. Zudem argumentierte Liebscher, dass viele Menschen einen persönlichen Bezug zu diesen Themen haben, sei es durch eigene Kinder oder durch den Freundeskreis.

Interne Diskussionen innerhalb der SPD
Während die Stimmung auf den Regionalkonferenzen der SPD tendenziell positiv gegenüber der Brombeer-Koalition ausfällt, gibt es auch kritische Stimmen. Insbesondere die Jusos und der linke Parteiflügel stehen einem Eintritt in die Regierung skeptisch gegenüber. Sie befürchten, dass die SPD in einem Bündnis mit CDU und BSW ihre Kernanliegen nicht ausreichend durchsetzen kann. Eine finale Entscheidung fällt jedoch erst nach Abschluss der laufenden Mitgliederbefragung, deren Ergebnis am Montag, dem 9. Dezember, bekannt gegeben wird.

Entscheidungsprozesse bei CDU und BSW
Auch bei den anderen potenziellen Koalitionspartnern stehen wichtige Entscheidungen an. Die CDU plant für Samstag, den 30. November, einen kleinen Parteitag, bei dem die Delegierten des Landesausschusses über den Koalitionsvertrag abstimmen sollen. Der Landesausschuss setzt sich aus 44 stimmberechtigten Mitgliedern zusammen, darunter Vertreter der Kreisverbände, der Landesvorsitzende und seine Stellvertreter, der Generalsekretär, Ehrenvorsitzende sowie die Führungsspitze der Landtagsfraktion.

Das BSW hingegen wird erst am 7. Dezember seine Mitglieder auf einem Parteitag über den Vertrag abstimmen lassen. Die Ergebnisse dieser parteiinternen Abstimmungen sind entscheidend für das Zustandekommen der Koalition. Insbesondere die Meinungsbildung im BSW könnte noch zu Überraschungen führen, da die Partei aus unterschiedlichen politischen Lagern besteht.

Herausforderungen der Ressortaufteilung
Die Zuteilung der Ministerien ist nicht nur eine Frage der Machtverteilung, sondern auch der strategischen Ausrichtung der zukünftigen Regierung. Das Wirtschaftsministerium gilt als Schlüsselressort, da es großen Einfluss auf die wirtschaftspolitische Richtung Thüringens hat. Hier prallen die Interessen der Parteien besonders deutlich aufeinander. Während die CDU als stärkste Kraft das Wirtschaftsministerium beansprucht, könnte auch das BSW durch seinen Fokus auf regionale Entwicklung und soziale Gerechtigkeit Argumente für eine Übernahme anführen.

Ein weiterer Streitpunkt könnte das Innenministerium sein, das traditionell als sicherheitspolitisches Kernressort gilt. Auch hier dürften Diskussionen darüber entbrennen, welche Partei die notwendige Kompetenz und Akzeptanz in der Bevölkerung mitbringt, um dieses Amt zu übernehmen.

Wie geht es weiter?
Der Zeitplan für die Koalitionsgespräche ist eng gesteckt. Sollte es bis Anfang Dezember keine Einigung geben, drohen Verzögerungen bei der Regierungsbildung. Dies könnte nicht nur das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Brombeer-Koalition belasten, sondern auch das politische Klima in Thüringen weiter anspannen.

Für die beteiligten Parteien ist die Bildung einer handlungsfähigen Regierung von entscheidender Bedeutung. Insbesondere die SPD steht unter Druck, da sie mit nur zwei Ressorts in der Koalition ihre politische Identität behaupten muss. Gleichzeitig muss sie die Bedenken der Parteibasis ernst nehmen und für einen Kompromiss werben, der sowohl ihre Kernanliegen berücksichtigt als auch eine stabile Zusammenarbeit mit CDU und BSW ermöglicht.

Ob die Brombeer-Koalition tatsächlich Realität wird, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass die Verhandlungen über die Ministerien noch einige Spannungen und möglicherweise auch Überraschungen bereithalten.

Öffentlicher Raum für alle: Ein gesellschaftlicher Appell

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Warum deutsche Städte Anti-Obdachlosen-Straßen bauen

Defensive Architektur, auch bekannt als feindliches Design, ist ein Konzept, das zunehmend in Städten weltweit zu beobachten ist. Es beschreibt die gezielte Gestaltung des öffentlichen Raums, um bestimmte Nutzungen zu verhindern, unerwünschtes Verhalten zu unterbinden und spezifische Personengruppen auszuschließen. Die Maßnahmen reichen von Sitzgelegenheiten, die unbequem gestaltet sind, über Stacheln unter Brücken bis hin zu Metallgittern, die die Kälte von unten durchlassen. Diese Architektur ist darauf ausgelegt, Aufenthaltszeiten zu minimieren und langfristige Nutzungen, wie beispielsweise das Schlafen von obdachlosen Menschen, zu unterbinden. Während ihre Befürworter auf die Verbesserung von Sicherheit und Sauberkeit verweisen, werfen Kritiker der defensiven Architektur vor, dass sie soziale Ungleichheit verstärkt und marginalisierte Gruppen verdrängt, ohne die eigentlichen Probleme zu lösen.

Ein typisches Beispiel für defensive Architektur sind Sitzbänke, die durch Unterbrechungen oder Armlehnen das Liegen unmöglich machen. Besonders in der kalten Jahreszeit zeigt sich, wie problematisch diese Maßnahmen für obdachlose Menschen sein können. Die metallischen Sitzflächen, die oft mit Gittern versehen sind, leiten die Kälte direkt an den Körper weiter und machen es fast unmöglich, länger an einem Ort zu verweilen. Doch auch andere Gruppen sind betroffen: Ältere Menschen oder Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen finden solche Bänke oft unbequem und können diese kaum nutzen. So wird nicht nur Obdachlosen, sondern auch anderen Teilen der Bevölkerung der Zugang zu öffentlichen Sitzmöglichkeiten erschwert. Das hat zur Folge, dass viele Menschen in einer Stadt, die eigentlich ein Ort des Zusammenkommens sein sollte, keinen Raum mehr für Erholung oder Verweilen finden.

In Städten wie Stuttgart wird das Ausmaß dieser Entwicklungen besonders deutlich. Hier gibt es ganze Straßenabschnitte, in denen defensive Architektur allgegenwärtig ist. Von Sitzplätzen, die so gestaltet sind, dass sie nur kurzzeitig genutzt werden können, bis hin zu Haltestellen ohne Bänke – die Maßnahmen sind vielfältig. Ein häufiges Argument für solche Gestaltungen ist die Angst vor Müllhinterlassungen, Vandalismus oder unangenehmen Situationen, die von bestimmten Personengruppen ausgehen könnten. Beispielsweise wurden auf der Stuttgarter Königstraße Sitzgelegenheiten abgebaut, nachdem sich Passanten über pöbelnde Obdachlose beschwert hatten. Doch diese Maßnahmen führen nicht zur Lösung der Ursachen, sondern lediglich zur Verdrängung der Betroffenen an andere Orte. Kritiker sprechen daher von institutionalisierter Verdrängung – einer Art systematischer Ausgrenzung, die Menschen aus dem öffentlichen Raum entfernt und sie damit noch weiter ins soziale Abseits drängt.

Der Hintergrund, warum viele obdachlose Menschen sich in Innenstädten aufhalten, ist leicht nachvollziehbar: Diese Orte bieten die besten Möglichkeiten, um durch Betteln Geld für die grundlegenden Bedürfnisse zu sammeln. In vielen Städten fehlen zudem ausreichend kostenlose Toiletten oder andere Infrastruktur, die es obdachlosen Menschen ermöglichen würde, sich außerhalb der zentralen Ballungsräume aufzuhalten. Doch diese Realität steht oft im Widerspruch zu den Interessen von Gewerbetreibenden und Passanten, die sich von der Präsenz obdachloser Menschen gestört fühlen. Defensive Architektur wird somit häufig eingesetzt, um die Innenstadt attraktiver für Kundschaft zu machen, selbst wenn dies auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft geschieht.

Eine weitere Form defensiver Architektur ist das gezielte Design von Fassaden oder anderen baulichen Elementen. Ein Beispiel hierfür sind Betonvorsprünge, die potenziell als Sitzgelegenheit dienen könnten, aber durch zusätzliche Stahlwinkel oder scharfe Kanten unbenutzbar gemacht werden. Solche Maßnahmen werden oft von Privatakteuren wie Hausverwaltungen initiiert, die damit ihre Gebäude vor unerwünschter Nutzung schützen wollen. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum immer mehr, was dazu führt, dass der öffentliche Raum zunehmend isolierend wirkt, statt ein Ort des Miteinanders zu sein.

Maximilian Sinn, Architekturstudent und Betreiber der Instagram-Seite „Hostile Germany“, dokumentiert zahlreiche solcher Beispiele defensiver Architektur in Deutschland. Er weist darauf hin, dass diese Gestaltungen nicht nur das Verhalten im öffentlichen Raum beeinflussen, sondern auch die Wahrnehmung der Betroffenen. Besonders obdachlose Menschen nehmen die Maßnahmen oft als persönliche Ausgrenzung wahr. Sie sehen in diesen Designs eine bewusste Botschaft: „Du bist hier nicht willkommen.“ Diese Ausgrenzung verstärkt das Gefühl, von der Gesellschaft vergessen zu sein. Für viele Obdachlose sind öffentliche Plätze die einzigen Orte, an denen sie sich aufhalten können. Werden diese durch feindliche Architektur unzugänglich gemacht, bleibt ihnen oft nur, sich in weniger sichtbare und häufig gefährlichere Bereiche zurückzuziehen. Das hat nicht nur psychologische Auswirkungen, sondern kann in extremen Fällen auch lebensgefährlich sein.

Die Argumente, die für defensive Architektur angeführt werden, klingen auf den ersten Blick plausibel: Sie soll die Sicherheit erhöhen, Vandalismus vorbeugen und den öffentlichen Raum sauber halten. Doch bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass diese Maßnahmen in erster Linie Symptome anstatt Ursachen adressieren. Statt Probleme wie Obdachlosigkeit, Armut oder fehlende Sozialarbeit anzugehen, werden die Betroffenen lediglich aus dem Blickfeld der Gesellschaft verdrängt. Dabei gibt es zahlreiche Alternativen, wie beispielsweise verstärkte Sozialarbeit, die nicht nur günstiger, sondern auch nachhaltiger sein könnte. Experten betonen, dass eine stärkere Kommunikation und ein respektvoller Umgang mit marginalisierten Gruppen oft mehr bewirken können als jede architektonische Maßnahme.

Städte wie Stuttgart haben zumindest erkannt, dass defensive Architektur nicht die Lösung für alle Probleme sein kann. In einer Stellungnahme erklärte die Stadt, dass sie derzeit an einem Leitfaden für einladende Stadtmöblierung arbeite, der den öffentlichen Raum für alle zugänglich machen soll. Ziel sei es, eine Balance zwischen Aufenthaltsqualität und Sicherheitsbedürfnissen zu schaffen, ohne bestimmte Gruppen auszuschließen. Doch die Umsetzung solcher Konzepte steht vor zahlreichen Herausforderungen, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Interessen von Stadtverwaltung, Gewerbetreibenden und der allgemeinen Bevölkerung.

Defensive Architektur ist ein Thema, das weit über die Gestaltung von Bänken oder Fassaden hinausgeht. Sie zeigt, wie Designentscheidungen den Alltag von Menschen beeinflussen und welche sozialen und moralischen Fragen damit verbunden sind. Während einige Maßnahmen sicherlich sinnvoll sein können, um Sicherheit und Sauberkeit zu gewährleisten, sollten sie niemals auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft umgesetzt werden. Städte sollten Orte des Zusammenkommens und der Begegnung sein, nicht der Ausgrenzung. Letztlich bleibt die Frage, ob wir als Gesellschaft wirklich menschenfreundlicher werden können, wenn unsere Städte immer feindlicher gestaltet werden. Die Lösung liegt nicht in der Architektur allein, sondern in einem gemeinsamen Verständnis für die Bedürfnisse aller Stadtbewohner. Nur so können wir sicherstellen, dass öffentliche Räume tatsächlich für alle zugänglich und lebenswert bleiben.

Millionen-Schulden: Streit um Schuldenbremse in Thüringen

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Das sogenannte Brombeer-Bündnis aus CDU, Bündnis Solidarische Mitte (BSW) und SPD in Thüringen plant eine Lockerung der Schuldenbremse, um den Landeshaushalt zu entlasten und finanzielle Spielräume zu schaffen. Doch diese Initiative stößt auf Kritik – insbesondere von der Präsidentin des Thüringer Rechnungshofs, Kirsten Butzke, die die Pläne als einen „Irrweg“ bezeichnet.

Geplante Änderungen: Tilgungszeitraum auf bis zu 30 Jahre verlängern
Der Vorschlag im Koalitionsvertrag sieht vor, den Zeitraum für die Rückzahlung von Notlagenkrediten, die während Krisen aufgenommen wurden, auf bis zu 30 Jahre auszudehnen. Ursprünglich waren fünf Jahre für die Tilgung vorgesehen, dieser Zeitraum wurde jedoch bereits auf acht und später auf 15 Jahre verlängert. Ab dem Haushaltsjahr 2025 soll laut Koalition der neue Tilgungszeitraum von 30 Jahren gelten.

Die Argumentation: Durch die Verlängerung sollen einerseits Zukunftsausgaben ermöglicht, andererseits die Haushaltslage stabilisiert werden. Doch die vom Rechnungshof vorgelegten Zahlen legen nahe, dass der Nutzen begrenzt ist.

Rechnungshof warnt vor langfristigen Kosten
Laut einer Analyse des Rechnungshofs bringt die Verlängerung der Tilgungsdauer von 15 auf 30 Jahre nur geringe jährliche Einsparungen:

  • Bei einer Tilgungsdauer von acht Jahren lag die jährliche Rückzahlung bei 158 Millionen Euro.
  • Für 15 Jahre reduzierte sich der Betrag auf rund 73 Millionen Euro.
  • Bei 30 Jahren Tilgungszeitraum sinkt die jährliche Belastung auf etwa 32 Millionen Euro.

Dies schafft zwar etwa 40 Millionen Euro zusätzliche Mittel pro Jahr, doch langfristig entstehen dadurch deutlich höhere Kosten. Die zusätzlichen Zinszahlungen bis zum Ende des Tilgungszeitraums summieren sich auf 85 Millionen Euro.

„Am Ende verschiebt man die Schuldenlast auf nachfolgende Generationen“, warnt Butzke. Gleichzeitig bleibe die jährliche Entlastung mit 0,3 Prozent des Landeshaushaltsvolumens marginal – sie werde keine substanziellen Probleme lösen.

Rücklagen und Krisenfestigkeit
Der Rechnungshof sieht auch die aktuelle Rücklagenpolitik kritisch. Obwohl Rücklagen eine gewisse Risikovorsorge ermöglichen, sollte ihre Nutzung als Ausgleich für Defizite in der Haushaltsplanung nicht überstrapaziert werden. Butzke betont: „Ein Staat ist nur langfristig handlungsfähig, wenn er seine Ausgaben aus den laufenden Einnahmen bestreiten kann.“

Die Corona-Krise habe zu einer Entkopplung der Ausgaben von den Einnahmen geführt. Der derzeitige Haushaltsentwurf für 2025 sieht ein Volumen von 13,75 Milliarden Euro vor, was einem Anstieg um etwa 250 Millionen Euro im Vergleich zu 2024 entspricht. Allerdings sollen die Rücklagen des Landes und die Gelder aus den Corona- und Energiehilfefonds nahezu vollständig aufgebraucht werden, um die Ausgaben zu decken.

Schuldenbremse in Thüringen: Flexibler als in anderen Bundesländern
Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern, wo die Schuldenbremse in der Verfassung verankert ist und nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden kann, ist sie in Thüringen lediglich in der Landeshaushaltsordnung festgelegt. Dies ermöglicht Änderungen mit einfacher Mehrheit, was die politische Umsetzung erleichtert.

Kritische Stimmen und Herausforderungen für die Zukunft
Die Präsidentin des Rechnungshofs plädiert für eine Rückkehr zu soliden Haushaltsgrundsätzen. Sie fordert eine Reduzierung der Ausgaben und einen nachhaltigen Umgang mit öffentlichen Geldern. Besonders wichtig sei es, Rücklagen nicht zur Überbrückung von Defiziten zu nutzen, sondern für echte Notlagen vorzuhalten.

Das geplante Vorgehen des Brombeer-Bündnisses wirft Fragen auf: Können langfristig höhere Zinsbelastungen und die Verlagerung der Schulden auf kommende Generationen gerechtfertigt werden, um kurzfristig finanzielle Spielräume zu schaffen? Gleichzeitig steht Thüringen vor der Herausforderung, sich auch für künftige Krisen zu rüsten und dennoch handlungsfähig zu bleiben.

Ein Balanceakt zwischen Entlastung und Belastung
Die Diskussion um die Schuldenbremse zeigt, wie schwierig es ist, zwischen kurzfristigen Entlastungen und langfristiger Stabilität zu wählen. Während das Brombeer-Bündnis die Haushaltslage entlasten will, mahnt der Rechnungshof zur Vorsicht. Der nächste Landeshaushalt wird zeigen, ob und wie die geplanten Änderungen tatsächlich umgesetzt werden – und welche Auswirkungen sie auf Thüringens finanzielle Zukunft haben werden.

Freitagsbotschaft von Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche

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Mobilitätsbeirat, Frauenhaus, Stadtwerke, Amtsblatt, Dualingo-Schule

In seiner wöchentlichen Freitagsbotschaft wandte sich Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche diesmal bereits am Donnerstag an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Der Grund: ein vollgepackter Terminkalender für den folgenden Tag. In seiner aktuellen Ansprache ging der Oberbürgermeister auf zentrale Themen aus der jüngsten Stadtratssitzung sowie ein besonderes Ereignis ein, das die Stadtgemeinschaft bereichert hat.

Mobilitätsbeirat: Neuer Ansatz für eine ausgewogene Verkehrsplanung
Einer der Kernpunkte der Stadtratssitzung war die Einrichtung eines Mobilitätsbeirats, der künftig die bisherigen Gremien für Radverkehr und Kfz-Verkehr ablösen soll. Laut Nitzsche geht es dabei jedoch nicht um die Abschaffung der alten Beiräte, sondern um deren Integration in ein übergeordnetes System.

Innerhalb des neuen Mobilitätsbeirats sollen spezielle Arbeitsgruppen eingerichtet werden, in denen die jeweiligen Interessen der Verkehrsteilnehmer weiterhin diskutiert und gebündelt werden können. Der Beirat wird diese Diskussionen aufgreifen und Vorschläge erarbeiten, die anschließend dem Stadtentwicklungsausschuss vorgelegt werden.

„Wir schaffen eine Plattform, die effizienter arbeitet und gleichzeitig allen Interessengruppen Raum bietet“, betonte Nitzsche in seiner Botschaft. Ziel sei es, den Ausschuss zu entlasten und Prozesse transparenter sowie handlungsorientierter zu gestalten.

Frauenhaus: Übergangsfinanzierung als gemeinsames Signal
Ein weiterer Tagesordnungspunkt war die Finanzierung des Frauenhauses in Jena. Frauenhäuser sind essenziell für den Schutz von Frauen und Kindern, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Ab 2024 wird der Freistaat Thüringen die Finanzierung dieser Einrichtungen übernehmen, doch bis zur endgültigen Regelung stehen die Mittel vorerst nicht zur Verfügung.

Die Stadtverwaltung hat gemeinsam mit dem Stadtrat eine Übergangslösung beschlossen: Die Stadt Jena wird ein Darlehen bereitstellen, um den Betrieb des Frauenhauses zu sichern. Sobald die Landesmittel freigegeben werden, erhält die Stadt ihr Darlehen zurück.

„Dieses einstimmige Votum zeigt, wie wichtig uns der Schutz besonders gefährdeter Gruppen ist“, erklärte Nitzsche. Die Stadt trage damit aktiv Verantwortung und setze ein starkes Signal für Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Stadtrat.

Stadtwerke Jena: Finanzielle Unterstützung sichert wichtige Strukturen
Ein Thema, das die Bürgerinnen und Bürger Jenas stark beschäftigt, ist die finanzielle Situation der Stadtwerke. Jahrzehntelang waren die Stadtwerke ein wichtiger Geldgeber für die Stadt, doch steigende Kosten im Nahverkehr und bei den Bädern führen nun zu einem Umdenken.

„Es handelt sich hier nicht um eine Rettungsmaßnahme, sondern um eine notwendige Unterstützung“, so Nitzsche. Während Bereiche wie Energie und Wohnen weiterhin Gewinne erwirtschaften, belasten Defizite im Nahverkehr und bei den Bädern das Gesamtunternehmen.

Die Stadt hat beschlossen, den Stadtwerken finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihre Stabilität und damit die Versorgungssicherheit der Bürger zu gewährleisten. Nitzsche betonte, dass dies ein unverzichtbarer Schritt sei, um die langfristige Leistungsfähigkeit der städtischen Strukturen zu sichern.

Amtsblatt: Transparenz als Schlüssel zur Bürgernähe
Ein weiteres zentrales Thema war die Weiterentwicklung des städtischen Amtsblatts. Ziel ist es, nicht nur Beschlüsse zu dokumentieren, sondern diese auch umfassend zu erklären und ihre Auswirkungen aufzuzeigen.

In einer Zeit, in der traditionelle Medien an Reichweite verlieren und soziale Netzwerke häufig als Quelle für Desinformation dienen, sieht die Stadtverwaltung die Notwendigkeit, den Bürgerinnen und Bürgern valide Informationen direkt zugänglich zu machen.

„Wir wollen Transparenz schaffen und das Vertrauen in die lokale Politik stärken, ohne dabei mit der Presse in Konkurrenz zu treten“, erklärte Nitzsche. Das Amtsblatt soll als verbindliche und leicht verständliche Informationsquelle dienen.

Schüleraustausch: Interkulturelles Lernen in Jena
Zum Abschluss seiner Botschaft hob Nitzsche ein besonders erfreuliches Ereignis hervor: den Besuch einer Schülergruppe aus Frankreich und Spanien an der bilingualen Duolingo-Schule in Jena. Im Rahmen des Erasmus-Programms hatten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, interkulturelle Kompetenzen zu entwickeln, Sprachkenntnisse zu vertiefen und neue Freundschaften zu schließen.

Das Programm umfasste sportliche und kulturelle Aktivitäten, darunter Besuche im Planetarium und der Imaginata sowie eine Wanderung auf den Jenzig. Für 2025 ist ein Gegenbesuch in Spanien geplant, der den Austausch fortsetzen wird.

„Solche Projekte zeigen, wie wichtig kulturelle Begegnungen für das gegenseitige Verständnis und die persönliche Entwicklung sind“, so Nitzsche.

In seiner Freitagsbotschaft zeigte sich Oberbürgermeister Nitzsche zuversichtlich, dass die Stadt Jena weiterhin gemeinsam an den Herausforderungen arbeiten und neue Wege gehen wird. „Jena beweist einmal mehr, wie engagiert Politik und Gesellschaft zusammenarbeiten können. Lassen Sie uns diesen Weg fortsetzen.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich in ein arbeitsreiches Wochenende, nicht ohne den Bürgerinnen und Bürgern noch einen guten Start in die neue Woche zu wünschen.

NABU: Thüringen muss bei einigen Schutzgebieten dringend nachbessern.

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Ein Fünftel unserer Landfläche sind Schutzgebiete. Jetzt zeigt eine NABU-Studie: Thüringen muss bei einigen Schutzgebieten dringend nachbessern.

Deutschland, einst ein Paradies für die Vielfalt der Natur, sieht sich heute einer stillen Krise gegenüber: Seine Schutzgebiete, wichtige Refugien für bedrohte Arten und Lebensräume, drohen zu versagen. Vor dem Hintergrund der Weltnaturkonferenz COP16 in Cali wirft eine neue Studie im Auftrag des NABU zu den organisatorischen Rahmenbedingungen in deutschen Schutzgebieten erstmals Licht auf die alarmierende Realität: Vielen dieser Rückzugsorte fehlt es an den Grundlagen für den wirksamen Schutz. Es gibt häufig keine klare Zielsetzung, keine ausreichende rechtliche Sicherung, keine Maßnahmenpläne und kein kontinuierliches Monitoring. Sie sind teilweise vernachlässigt und von ihrem eigentlichen Schutzstatus weit entfernt. Deutschland ist damit auf keinem guten Weg, seine Verpflichtung aus dem Biodiversitätsabkommen von Montreal zu erfüllen und bis 2030 30 Prozent seiner Landesfläche effektiv zu schützen.

Die Schutzgebietsmeldungen in Thüringen umfassen etwa 20 Prozent der Landesfläche. Handlungsbedarf besteht vor allem bei den Naturschutzgebieten. „Laut der NABU-Studie sind Schutz- und Pflegemaßnahmen derzeit nur vereinzelt in den Verordnungen der Naturschutzgebiete festgeschrieben und die Maßnahmen nicht ausreichend auf den Erhalt oder die Verbesserung von Arten und Lebensräumen ausgerichtet. Zudem sollten in Thüringen mehr Naturschutzgebiete ausgewiesen werden“, sagt Marcus Orlamünder, Naturschutzreferent des NABU Thüringen. „Dringender Handlungsbedarf besteht auch in den Vogelschutzgebieten, in denen kaum Nutzungseinschränkungen und Maßnahmen vorgesehen sind.“

Naturschutzgebiete dürfen laut des NABU Thüringen nicht zu Flächen verkommen, die nur auf dem Papier geschützt sind, sondern müssen der Artenkrise effektiv entgegenwirken. „Vor allem braucht es mehr Personal in den Behörden damit Verordnungen verbessert und Maßnahmen umgesetzt werden können. Gleiches gilt für eine dauerhafte Betreuung und Überwachung der Schutzgebiete. Hier sind klare Zuständigkeiten zu regeln, Ranger*innen einzusetzen und auch ein gezieltes Monitoring zu verankern, damit die Entwicklung in den Gebieten regelmäßig evaluiert und nach Naturschutzaspekten besser gesteuert werden kann“, so Orlamünder.

FFH-Gebiete werden in der NABU-Studie nach den untersuchten organisatorischen Kriterien hingegen als „geeignet“ eingestuft. Zu den fünf betrachteten Kriterien zählen: 1. definierte Schutzziele, 2. rechtliche Gebietssicherung, 3. das Vorhandensein von Maßnahmenplänen, 4. strukturelle Voraussetzungen für die Umsetzung von Maßnahmen, 5. Voraussetzungen für wissenschaftlich fundiertes Monitoring.

Defizite wurden bei den FFH-Gebieten im Wald festgestellt. Insbesondere bei den FFH-Gebieten im Wald sind eine Überarbeitung und Konkretisierung der Managementpläne erforderlich. Die teilweise starken forstlichen Nutzungen, sind mit den Schutzzielen hier nicht zu vereinbaren.

Jamel: Ein Dorf, ein Kampf – Wie ein kleines Festival große Zeichen setzt

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Die Ärzte, Die Toten Hosen, Herbert Grönemeyer: Wie dieses Festival gegen Rechtsextremismus kämpft

Das 38-Seelen-Dorf Jamel, gelegen im Norden Mecklenburg-Vorpommerns, ist mehr als nur eine ländliche Idylle. Es gilt als Synonym für rechtsextreme Strukturen in Deutschland. In den letzten Jahren zogen gezielt Neonazis in das Dorf, machten es zur Hochburg ihres Gedankenguts und prägen das Leben dort mit offenen Parolen, Symbolen und Einschüchterung. Doch mitten in dieser als verloren geltenden Umgebung stehen zwei Menschen auf: das Künstler-Ehepaar Birgit und Horst Lohmeyer.

Seit ihrer Ankunft im Jahr 2004 kämpfen die Lohmeyers gegen eine Übermacht aus Rechtsextremismus und Hetze. Ihre Antwort: „Jamel rockt den Förster“, ein Musikfestival, das jährlich für Demokratie, Vielfalt und Solidarität eintritt. Unterstützt von bekannten Bands und Künstlern hat das Festival mittlerweile eine Strahlkraft erreicht, die weit über die Landesgrenzen hinausgeht. Doch der Weg dorthin war alles andere als einfach.

Das Leben im Schatten der Bedrohung
„Wir wollten ein ruhiges Leben auf dem Land führen und die Natur genießen“, erzählen die Lohmeyers. Was sie vor ihrer Ankunft nicht wussten: Jamel war bereits Ziel einer rechten Besiedlungsstrategie. Neonazis zogen systematisch in das Dorf, machten ihre Ideologie öffentlich sichtbar und übten Druck auf Andersdenkende aus.

Die Lohmeyers blieben trotz Drohungen und Isolation. Doch der Angriff auf ihre Scheune im Jahr 2015 markierte einen Wendepunkt. Der Brand, mutmaßlich von Unbekannten gelegt, zerstörte nicht nur einen Teil ihres Besitzes, sondern offenbarte die Gewaltbereitschaft, der sie tagtäglich ausgesetzt sind.

Musik als Widerstand: „Jamel rockt den Förster“
Trotz der Bedrohung gaben die Lohmeyers nicht auf. Sie riefen das Festival „Jamel rockt den Förster“ ins Leben, ein Signal gegen Rechtsextremismus. Was klein begann, entwickelte sich zu einem bedeutenden Symbol des Widerstands. Bereits in den ersten Jahren standen namhafte Bands wie Die Toten Hosen auf der Bühne. Ihnen folgten Künstler wie Kraftklub, Samy Deluxe, Die Ärzte, Herbert Grönemeyer, Die Fantastischen Vier und viele mehr.

„Wenn wir hier auftreten, dann nicht nur, um Musik zu machen, sondern um ein Zeichen zu setzen“, sagt Smudo von den Fantastischen Vier. Seine Worte fassen die Haltung vieler Beteiligter zusammen: Das Festival ist weit mehr als Unterhaltung – es ist ein Manifest für Demokratie.

Solidarität trifft auf Anfeindung
Der Einsatz für eine offene Gesellschaft bleibt jedoch nicht ohne Reaktionen. Neben den rechtsextremen Bewohnern des Dorfes werden die Lohmeyers und ihre Unterstützer immer wieder Ziel von Hass und Drohungen. Der Brandanschlag auf ihre Scheune ist nur einer von vielen Vorfällen. Doch die Solidarität von Künstlern und Besuchern gibt ihnen Kraft.

„Wir wollen den Menschen hier zeigen, dass sie nicht alleine sind“, erklärt ein Mitglied der Band Beatsteaks. Jährlich kommen Hunderte nach Jamel, um mit den Lohmeyers zu feiern, aber auch, um Flagge zu zeigen. Die Künstler verzichten auf Gagen und unterstützen das Festival, um eine klare Botschaft zu senden: Rechtsextremismus hat keinen Platz in unserer Gesellschaft.

Die Bedeutung von Jamel rockt den Förster
Das Festival ist längst ein Symbol geworden – für Widerstand, Gemeinschaft und die Kraft von Kultur. In einem Dorf, in dem Rechtsextreme versuchen, die Oberhand zu behalten, beweisen die Lohmeyers, dass Demokratie und Vielfalt nicht kampflos aufgegeben werden.

„Es geht nicht nur um die Musik“, betont Birgit Lohmeyer. „Es geht darum, den Menschen hier zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Wir wollen Mut machen, den Mund aufzumachen und sich für eine offene Gesellschaft einzusetzen.“

Ein Kampf, der bleibt
Jamel ist ein Mikrokosmos, der die Herausforderungen Deutschlands im Umgang mit Rechtsextremismus spiegelt. Das Festival ist ein Beispiel dafür, wie Kultur als Werkzeug des Widerstands genutzt werden kann. Doch der Kampf der Lohmeyers ist noch nicht gewonnen.

Die Neonazis in Jamel versuchen weiterhin, das Dorf zu dominieren. Dennoch ist klar: Mit jedem Jahr, in dem „Jamel rockt den Förster“ stattfindet, wächst die Hoffnung auf Veränderung. Es zeigt, dass auch in der dunkelsten Umgebung ein Funke Solidarität eine Flamme der Hoffnung entzünden kann.

Das Dorf Jamel mag klein sein, aber der Mut und die Entschlossenheit der Lohmeyers haben es zu einem Symbol des Widerstands gegen Rechtsextremismus gemacht. Und dieser Kampf geht weiter – für Jamel, für Mecklenburg-Vorpommern und für eine demokratische Gesellschaft.

35 Jahre Friedliche Revolution in Jena – Film und Gespräch am 3.12.2024

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35 Jahre Friedliche Revolution in Jena. Skizzen eines Aufbruchs – Film und Gespräch am 3. Dezember 2024 in der Rathausdiele

Friedliche Revolution und Mauerfall jähren sich in diesem Jahr bereits zum 35. Mal. Was hat die Zäsur 1989/90 mit unserer Gegenwart zu tun und welche Bedeutung erwächst daraus für die demokratische Gesellschaft heute? Was ist vom Aufbruch im Herbst ´89 geblieben?

In einer filmischen Dokumentation der Geschichtswerkstatt Jena sprechen acht Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über ihre persönlichen Erlebnisse und Eindrücke. Sie berichten unter anderem über die Stimmung Ende der 1980er Jahre, die sich ankündigenden Veränderungen in der DDR, die friedlichen Proteste und Demonstrationen, die zum Ende der Diktatur führten.

Mit dem durch zahlreiche Fotos angereicherten Videoporträt werden die Ereignisse vor 35 Jahren in Jena neu beleuchtet und zugleich der geschichtliche Bogen in die Gegenwart geschlagen.

Nach dem 40-minütigen Filmimpuls schließt sich eine Diskussionsrunde mit beteiligten Zeitzeugen und dem Publikum an. Die gemeinsame Veranstaltung der Stadt Jena und der Geschichtswerkstatt Jena am 3. Dezember 2024 beginnt um 18.30 Uhr in der Rathausdiele (historisches Rathaus am Markt). Der Eintritt ist frei.

Jenaer Stadtrat gibt grünes Licht für Wohngebietserweiterung in Wenigenjena

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Stadtrat beschließt Planungen für Wohngebiet an der Karl-Liebknecht-Straße | Erweiterung der ‚Erlenhöfe‘: Der Entwurf für den Bebauungsplan liegt Anfang 2025 öffentlich aus

Der Jenaer Stadtrat hat in seiner gestrigen Sitzung den Weg für die Erweiterung des Wohnquartiers „Erlenhöfe“ nördlich der Karl-Liebknecht-Straße freigemacht. Dieses Projekt markiert einen wichtigen Schritt für die Stadtentwicklung und wird nicht nur dringend benötigten Wohnraum schaffen, sondern auch das Erscheinungsbild des östlichen Stadteingangs von Wenigenjena neu gestalten. Mit dem Beschluss des überarbeiteten Bebauungsplans zeigt Jena, wie modernes Wohnen, Umweltschutz und städtische Ästhetik in Einklang gebracht werden können.

Überarbeiteter Bebauungsplan: Nachhaltigkeit im Fokus
Der nun beschlossene Planentwurf sieht eine umfassende Neugestaltung des Areals vor. Geplant sind mehrere Wohngebäude mit unterschiedlichen Wohntypologien, die sowohl Platz für Familien als auch für Singles und Senioren bieten. Neben neuen Wohnungen legt das Konzept einen besonderen Schwerpunkt auf großzügige Grünflächen und nachhaltige Mobilität. Ein großer Teil der notwendigen Stellplätze wird in Tiefgaragen verlagert, um oberirdisch Raum für Begrünung und Gemeinschaftsbereiche zu schaffen.

„Unser Ziel ist eine nachhaltige Quartiersentwicklung, die ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten schafft“, betonte Bürgermeister und Dezernent für Stadtentwicklung Christian Gerlitz. Damit reagiert die Stadt auf den steigenden Bedarf an Wohnraum und gleichzeitig auf die Notwendigkeit, städtische Freiräume und Natur zu bewahren.

Ein reguläres Verfahren für den Naturschutz
Eine entscheidende Änderung im Planungsprozess betrifft das Verfahren selbst: Anstatt wie ursprünglich geplant ein beschleunigtes Verfahren zu nutzen, wurde auf ein reguläres Verfahren umgestellt. Diese Anpassung erfolgte aufgrund eines aktuellen Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, das eine sorgfältige Prüfung aller Umweltauswirkungen fordert. Die Entscheidung unterstreicht Jenas Anspruch, Naturschutz und Stadtentwicklung miteinander zu verbinden.

Das Bebauungsgebiet grenzt an empfindliche ökologische Bereiche. Daher umfasst der Plan umfangreiche Umweltprüfungen, darunter eine Bewertung der Lärmemissionen, Maßnahmen zur Förderung der Biodiversität und Vorschläge zur Kompensation von Eingriffen in die Natur.

Förderung umweltfreundlicher Mobilität
Ein weiteres Highlight des Projekts ist die Förderung von Fuß- und Radverkehr. Neue, gut vernetzte Wege sollen die Erlenhöfe direkt mit den umliegenden Vierteln verbinden. Ziel ist es, eine stadtteilübergreifende Mobilität zu schaffen, die den Autoverkehr reduziert und gleichzeitig die Lebensqualität erhöht.

Die Integration des Wohnquartiers in die bestehende Verkehrsinfrastruktur wird durch den Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr ergänzt. Geplant sind außerdem zusätzliche Fahrradabstellplätze und Ladestationen für E-Bikes sowie Elektroautos.

Bürgerbeteiligung als zentrales Element
Von Beginn an hat die Stadt großen Wert auf eine umfassende Bürgerbeteiligung gelegt. Bereits im Sommer 2023 fand eine erste Phase der öffentlichen Mitwirkung statt, in der der Vorentwurf des Bebauungsplans öffentlich ausgelegt wurde. Insgesamt 41 Fachbehörden, Institutionen und zahlreiche Bürgerinnen und Bürger brachten Anregungen ein, die maßgeblich in die Überarbeitung eingeflossen sind.

„Die Bürgerinnen und Bürger haben mit ihren Hinweisen eine wertvolle Grundlage für die Weiterentwicklung des Plans geschaffen“, erklärte Gerlitz.

Die nächste Phase der Bürgerbeteiligung ist für den Zeitraum von Mitte Januar bis Mitte Februar 2025 angesetzt. Interessierte können den aktuellen Planentwurf sowohl online einsehen als auch an einem öffentlichen Ort studieren. Dort werden zusätzliche Informationen zu den Themen Umweltschutz, Lärmminderung und Mobilität bereitgestellt. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, weitere Anmerkungen einzubringen. Details zu den Einsichtnahmemöglichkeiten und Fristen wird die Stadt rechtzeitig bekannt geben.

Ein lebenswertes Wohnumfeld gestalten
Mit der Erweiterung des Quartiers „Erlenhöfe“ verfolgt Jena das Ziel, ein modernes, lebendiges und umweltfreundliches Stadtviertel zu schaffen, das den Bedürfnissen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gerecht wird. Gleichzeitig setzt das Projekt ein Zeichen für die Verbindung von Tradition und Fortschritt, denn die Gestaltung des östlichen Stadteingangs soll Wenigenjena als Wohn- und Lebensraum attraktiver machen.

„Mit diesem Beschluss setzt Jena ein starkes Zeichen für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung! Wir freuen uns auf die kommenden Schritte und darauf, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern ein lebenswertes Wohnumfeld zu schaffen“, so Bürgermeister Gerlitz abschließend.

Bis zur endgültigen Fertigstellung des Bebauungsplans sind noch einige Schritte notwendig. Neben der Bürgerbeteiligung im Jahr 2025 wird die Stadt weiterhin eng mit Fachplanern, Umweltgutachtern und Verkehrsingenieuren zusammenarbeiten, um ein stimmiges Gesamtkonzept zu gewährleisten. Die ersten Bauarbeiten könnten frühestens 2026 beginnen.

Das Projekt „Erlenhöfe“ zeigt, wie Stadtplanung in Jena gestaltet wird: nachhaltig, bürgernah und mit einem Blick auf die Bedürfnisse zukünftiger Generationen.