Das Kommunalwahlergebnis vom Mai 2024 verdeutlichte in Jena eine stark zersplitterte Parteienlandschaft. Nicht nur in den verschiedenen Ortsteilen der Stadt, sondern besonders im Jenaer Stadtrat wurde sichtbar, wie breit die Interessen auseinandergehen und wie groß der Mangel an einer eindeutigen Mehrheitsbildung ist. Angesichts dieser schwierigen Ausgangslage und der zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in Jena sahen sich die Fraktionen von CDU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und FDP dazu veranlasst, ein neues Modell der Zusammenarbeit zu erproben. Sie einigten sich auf das Konzept einer sogenannten „Verantwortungsgemeinschaft“, welches vor allem als pragmatische Lösung der aktuellen Lage dienen soll. Doch diese Vereinbarung wirft auch Fragen auf: Welche inhaltlichen Zugeständnisse und Kompromisse sind für die Beteiligten notwendig, und wird diese Verantwortungsgemeinschaft den großen Herausforderungen tatsächlich gerecht?
Das neue Modell der „Verantwortungsgemeinschaft für Jena“ verfolgt zwei übergeordnete Ziele: Einerseits geht es darum, zentrale Themen für die kommenden fünf Jahre strategisch festzulegen. Andererseits sollen die Fraktionen durch die Wahl von Dezernentinnen und Dezernenten mit besonderer Kompetenz sicherstellen, dass politisch wichtige Schwerpunkte ausreichend berücksichtigt werden. Allerdings bleibt es fraglich, ob diese Vereinbarung tatsächlich tiefgehende Veränderungen ermöglicht oder ob sie vor allem auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner basiert, der die wesentlichen Konflikte eher überspielt als löst. Denn die Verantwortungsgemeinschaft ist explizit keine formelle Koalition, sondern eine Art lockerer Zusammenschluss, der auf freiwilliger Zusammenarbeit und Selbstverpflichtung beruht. Jede Fraktion behält dabei ihre Eigenständigkeit und kann eigene Beschlüsse einbringen. Dies könnte zum Vorteil gereichen, um eigenständige Positionen zu wahren, könnte jedoch auch zu Widersprüchen und Konflikten führen, wenn wichtige Themen divergierend bewertet werden.
Guntram Wothly, CDU-Fraktionsvorsitzender, hebt die Bedeutung der Vereinbarung hervor, die es der CDU ermögliche, klare Schwerpunkte zu setzen. Als Beispiele nennt er das Parkhaus am Inselplatz, die Verwirklichung der Osttangente und die Schaffung von mehr Wohnraum. Doch bereits hier wird deutlich, dass die genannten Projekte teils umstritten sind. Beispielsweise ist der Bau der Osttangente ein Vorhaben, das auf Widerstand stößt, sowohl innerhalb der Stadtgesellschaft als auch in Teilen des Stadtrats. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die CDU, die in dieser Gemeinschaft die Verantwortung für Finanzen, Sicherheit und Bürgerservice mit Bürgermeister Benjamin Koppe übernimmt, ihre Positionen tatsächlich durchsetzen kann und wie stabil diese Kooperation in finanzpolitischen Fragen sein wird. Die komplexe Haushaltslage der Stadt wird wohl eine der größten Bewährungsproben für die Vereinbarung sein, und die Frage steht im Raum, ob eine verlässliche und nachhaltige Finanzpolitik tatsächlich umgesetzt werden kann.
Auch Dr. Matias Mieth von Bündnis 90/Die Grünen betont die Dringlichkeit, stabile Grundlagen für die Zukunft Jenas zu schaffen. Er sieht die Verantwortungsgemeinschaft nicht als klassische Koalition, sondern als eine flexible Kooperation, die auf die spezifischen Herausforderungen der Stadt reagiert. Die Grünen legen ihre Schwerpunkte auf Inklusion, Integration und Klimaschutz und setzen auf die grüne Dezernentin Kathleen Lützkendorf für Soziales, Gesundheit, Zuwanderung und Klima. Hier sollen Vorhaben wie der Straßenbahnausbau ins Himmelreich, der Klimaaktionsplan und ein umfassendes Radverkehrskonzept umgesetzt werden. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass auch hier erhebliche Investitionen nötig wären, die angesichts begrenzter Haushaltsmittel kaum kurzfristig umgesetzt werden können. Die Frage bleibt, ob die Grünen bereit sind, im Zweifel bei anderen Projekten Abstriche zu machen, um ihre klimapolitischen Ambitionen tatsächlich durchzusetzen, oder ob der Klimaaktionsplan in seiner Umsetzung letztlich geschwächt wird.
Die SPD sieht in der Verantwortungsgemeinschaft eine Möglichkeit, den Erfolg Jenas fortzusetzen, wie Katja Glybowskaja, die Fraktionsvorsitzende, darstellt. Sie betont, dass die SPD die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an eine lösungsorientierte Politik ernst nimmt und in zentralen Bereichen wie Wirtschaft, Wohnen und Mobilität Antworten liefern will. Doch die Frage bleibt, ob die SPD in einer eher lockeren Gemeinschaft wirklich in der Lage ist, ihre sozialen Schwerpunkte durchzusetzen oder ob sie hier angesichts der zahlreichen Kompromisse nur wenig Spielraum hat. Mit Johannes Schleußner als Dezernenten für Kultur, Bildung, Jugend und Sport hat die SPD die Verantwortung in Bereichen, die für die soziale Teilhabe von großer Bedeutung sind, insbesondere in der Kultur- und Bildungsförderung. Doch ohne klare Mehrheiten könnte die SPD Schwierigkeiten haben, ihre sozialpolitischen Anliegen gegen finanzielle oder ideologische Widerstände durchzusetzen. Das Konzept der „Verantwortungsgemeinschaft“ gibt hier keine Gewähr dafür, dass die SPD tatsächlich ihre Versprechen für soziale Gerechtigkeit und Inklusion einlösen kann.
Für die FDP betont ihr Fraktionsvorsitzender Alexis Taeger, dass die Verantwortungsgemeinschaft eine dringend notwendige Verlässlichkeit schaffen soll, um Planungssicherheit für die Bürger und die Wirtschaft zu gewährleisten. Die Liberalen setzen auf die Ausweisung neuer Wohn- und Gewerbeflächen, die Weiterführung des Osttangentenprojekts und die Vermeidung von Steuererhöhungen durch die Einführung aufkommensneutraler Hebesätze zur Steuerreform 2025. Doch auch hier gibt es berechtigte Zweifel daran, ob das Zusammenspiel mit den anderen Fraktionen ohne Komplikationen verlaufen wird. Die FDP stellt mit Dirk Lange einen parteilosen Stadtentwicklungsdezernenten, der als Experte für Stadtentwicklung gilt und den Wachstumskurs der Stadt anführen soll. Es bleibt jedoch offen, inwieweit die anderen Fraktionen bereit sind, sich den wirtschaftsliberalen Vorstellungen der FDP anzuschließen, insbesondere wenn diese auf Kosten sozialer oder umweltpolitischer Projekte gehen sollten.
Diese neue „Verantwortungsgemeinschaft für Jena“ scheint also mehr als ein pragmatisches Bündnis zu sein, das die aktuelle politische Fragmentierung abfedern soll, ohne eine echte Mehrheit bilden zu können. Doch gerade darin liegt auch die größte Schwäche dieses Modells: Die Partnerschaft basiert auf einer lockeren Verpflichtung zur Zusammenarbeit, ohne dass es klare und verbindliche Mechanismen gibt, wie im Falle von Konflikten entschieden wird. Die Frage, wie die Verantwortungsgemeinschaft bei größeren Meinungsverschiedenheiten zusammenhalten kann, wird entscheidend sein. Zudem bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Modell auf Dauer stabil ist, oder ob es bei zunehmenden Differenzen in den politischen Ansichten und Zielsetzungen zerbrechen könnte.
Letztlich ist die Verantwortungsgemeinschaft ein Experiment, das die Zukunft von Jena entscheidend prägen könnte. Doch ob diese Zusammenarbeit wirklich den Anforderungen gerecht wird, die Jenas Bürgerinnen und Bürger an eine stabile, verlässliche und zukunftsorientierte Kommunalpolitik stellen, bleibt abzuwarten.
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