Flucht in die Freiheit: Wie eine Familie der DDR mit einem Agrarflugzeug entkam

Gadebusch, 25. August 1973 – Ein gewöhnlicher Samstagabend verwandelte sich in der kleinen mecklenburgischen Stadt Gadebusch in eine Nacht des Nervenkitzels und der Verzweiflung, als der Flugzeugmechaniker Jürgen Glaser einen waghalsigen Plan in die Tat umsetzte: die Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit einem Agrarflugzeug vom Typ Z-37 „Čmelák“. Dieser spektakuläre Versuch, dem „Riesengefängnis“ der DDR zu entkommen, wie Glaser es rückblickend beschreibt, sollte das Leben seiner jungen Familie für immer verändern.

Ein Leben in Unzufriedenheit und Überwachung
Die Familie Glaser war erst im Frühjahr 1973 von Dresden nach Gadebusch gezogen, nur zehn Kilometer von der Grenze zur Bundesrepublik entfernt. Obwohl es der Familie finanziell besser ging als vielen anderen, empfanden sie sich als unglücklich und unzufrieden mit dem System der DDR. Die ständige Bevormundung, Bespitzelung und Propaganda belasteten sie schwer. Besonders das Gefühl des Eingesperrtseins und die ständigen Verbote – „dies geht nicht, jenes geht nicht“ – waren unerträglich. Die Verlockungen des Westens, die heimlich über Antennen unter dem Dach empfangen wurden, verstärkten diesen Wunsch nach Freiheit. Es gab nur wenige Möglichkeiten, aus dem Land zu fliehen: durch die Ostsee schwimmen, Tunnel graben oder Ballons bauen – „das ist nicht normal“, so die Überzeugung der Glasers.

Jürgen Glaser, ein gelernter KFZ-Mechaniker mit einer lebenslangen Faszination für die Fliegerei, hatte sich bei der Interflug, der staatlichen Fluggesellschaft, als Flugzeugmechaniker beworben und war angenommen worden. Obwohl er kein Parteimitglied war, was bevorzugt wurde, half ihm seine Ehe bei der Anstellung. Als Stationsmechaniker hätte er sogar die Möglichkeit gehabt, Pilot zu werden, was eine „ganz hohe, enorme“ Position in der DDR darstellte. Doch Glaser wollte weg.

Der waghalsige Plan und die Tücke der Technik
Der Agrarflugplatz Ganze, drei Kilometer von Gadebusch entfernt, war wie jeder Flugplatz in der DDR ein hochsensibler Sicherheitsbereich. Das Betreten war selbst Familienangehörigen der Piloten und Mechaniker verboten. Der Platz wurde „wie ein Maschinengewehr“ bewacht, und jeder Schritt wurde minutiös von Überwachern dokumentiert, die sich im Wald versteckten. Ein unvorbereitetes Abheben war schlichtweg unmöglich. Die Agrarflugzeuge selbst waren mit komplexen Sicherungen versehen: vier Schlüssel, die zwischen Mechaniker und Pilot aufgeteilt waren, und ein langer Sicherungsstab, der den Vergaser blockierte. Ein „Waffeleisen“ am Gashebel und Steuerungshebel der Luftschraube machte es einem Nicht-Piloten fast unmöglich, die Maschine zu fliegen.

Der Entschluss zur Flucht war impulsiv: „Wenn ich da noch länger drüber nachgedacht hätte, hätte ich es sein gelassen“, gesteht Glaser. Am Nachmittag des 25. August 1973, gegen 16 Uhr, wurde der Plan gefasst. Jürgen Glaser überlistete den Piloten, indem er unter dem Vorwand, das Flugzeug waschen zu müssen, den „Waffeleisen“-Schlüssel erbat. Der Chef des Flugplatzes, sein Vorgesetzter, der Pilot, wurde mit einer vorgeschobenen Arbeitspause nach Hause geschickt.

Der Flug ins Ungewisse
Mit einer kleinen Stofftasche, die nur Ersatzunterwäsche, Socken und ein Stofftier für den dreijährigen Sohn Carsten sowie die Personalausweise enthielt, bestieg die Familie Glaser das Agrarflugzeug. Die Angst war immens: die Sorge, abgefangen zu werden, nicht starten zu können, und die Angst um das eigene Leben und das des Kindes. Die Familie saß im hinteren Teil des Flugzeugs, getrennt durch den Düngemittelbehälter. Jürgen Glaser konnte sich mit seiner Frau Heidi nicht mehr verständigen.

Der Start war eine Katastrophe. Jürgen Glaser war kein Pilot und hatte nur wenige Wochen als Mechaniker auf dem Flugplatz gearbeitet. Das Flughandbuch hatte er aus Neugier besorgt, nicht zur Fluchtvorbereitung. Das Flugzeug hob mit zu niedriger Geschwindigkeit „langsam aber sicher“ ab. „Das war unser großes Glück“, so Glaser, denn sonst wären sie sofort abgestürzt. Er flog direkt auf zwei Bäume und die „Zehwanlage“ zu, ein Warnsystem mit roter Lampe und Klingel, das bei zu langsamer Geschwindigkeit auslöste. Aus purer Angst rührte er den Steuerknüppel nicht an, und das Flugzeug schraubte sich wie von selbst hoch, knapp über die Bäume hinweg.

Die ersten 5 bis 10 Minuten flogen sie in nur 200 bis 300 Metern Höhe. Dann stieg Glaser auf 600 Meter, da er wusste, dass die Grenze parallel verlief und sie sich bereits im 7-Kilometer-Sperrgebiet befanden. „Ich wusste, dass es nicht möglich war, mich auf die Schnelle so zu erwischen“, erinnert er sich. Rund 30 Minuten flogen sie die Grenze entlang, mit guter Sicht und klarem Wetter, bis er im Norden den Flugplatz Lübeck-Blankensee erkannte. In diesen 30 Minuten war er „der stolzeste Mensch der ganzen Welt“ und genoss jeden Moment als „Flugkapitän“.

Landung unter Anleitung
Das Glücksgefühl hielt jedoch nicht lange an. Die Landung erwies sich als die größte Herausforderung. Jürgen Glaser beschreibt seine Anflüge auf Blankensee als „falsch“: falsche Höhe, falsche Richtung, wahrscheinlich sogar falsche Geschwindigkeit. Er drehte drei Runden über dem Flugplatz, während 15 Leute unten zuschauten, als sähen sie einen Segelflieger. Ein Seilwindenbediener rief ihm zu: „Junge, komm runter!“.
Glücklicherweise befand sich der Fluglehrer Friedrich Hamesfah auf dem Flugplatz. Er erkannte sofort, dass der Pilot der Z-37 in Schwierigkeiten war und nicht landen konnte. Hamesfah stieg mit einer Cessna auf, fing Glasers Flugzeug ein und lotste ihn zur Landebahn. Das Manöver war kritisch, da eine Kommunikation über Funk nicht möglich war.

Das Leben danach
Die Flucht hatte weitreichende Folgen. Der Pilot, der Jürgen Glaser den Schlüssel gegeben hatte, wurde fliegerisch gesperrt. Heidi Glaser erlitt als Folge der Flucht jahrelang Angstzustände in engen Räumen. Jürgen Glaser selbst litt noch Jahre später unter Nachtalbträumen, in denen er vor eine Mauer gestellt und erschossen wurde. Die Ehe der Glasers hielt nach der Flucht noch sieben Jahre, dann trennten sie sich. Sohn Carsten, damals drei Jahre alt, erinnert sich heute nicht mehr an die Flucht. Jürgen Glaser lebt heute mit seiner zweiten Frau auf Teneriffa und betreibt ein Reiseunternehmen.

Die Flucht der Familie Glaser bleibt ein eindringliches Beispiel für den verzweifelten Wunsch nach Freiheit und die Risikobereitschaft, die Menschen eingingen, um dem Gefühl des Eingesperrtseins in der DDR zu entkommen. Es war ein Sprung ins Ungewisse, angetrieben von einer inneren Notwendigkeit, der zeigt, dass selbst ein unscheinbares Agrarflugzeug zum Symbol der Hoffnung werden kann, wenn die Tür zum Käfig sich öffnet.

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