Historiker Ilko Sascha Kowalczuk zeigt sich zutiefst besorgt über den Zustand der Demokratie und Freiheit in Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland. In einem Gespräch mit dem „heute-journal“ erläutert der Autor seine Thesen, die weit über gängige Erklärungsansätze hinausgehen und die aktuelle Zustimmung zu autoritären und antisystemischen Parteien wie der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) beleuchten.
Autoritäre Träume und historische Mythen
Kowalczuk zufolge ist die hohe Zustimmungsrate zu Parteien mit autoritären Tendenzen im Osten nicht allein durch die Traumata der Wiedervereinigung zu erklären. Vielmehr sieht er eine tiefere Verankerung staatsautoritärer Vorstellungen, die seit 1990 nie wirklich abgerissen seien. Ein zentraler Punkt seiner Analyse ist die Behauptung, dass sowohl die AfD als auch das BSW eine autoritäre Staatsverfassung anstreben. Er zieht Parallelen zur „blutrünstigen Diktatur des Wladimir Putin in Moskau“, die offenbar der staatlichen Vorstellung beider Parteien entspreche und im Osten auf fruchtbaren Boden falle.
Dieser Hang zum starken Staat mag verwundern, wenn man bedenkt, dass die Menschen in Ostdeutschland jahrzehntelang in einem autoritären System lebten. Doch Kowalczuk räumt mit einem weit verbreiteten Mythos auf: Viele Menschen hätten die DDR, insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren, gar nicht mehr als Diktatur wahrgenommen. Auch die Erzählung, die Ostdeutschen hätten die kommunistische Diktatur überwunden, sei ein Mythos. Tatsächlich sei es eine Minderheit gewesen, die den Umsturz und die Freiheitsrevolution vorangetrieben habe. Die breite Masse habe abgewartet und sich erst später auf die Seite der Sieger geschlagen – nicht aus einem Durst nach Freiheit, sondern oft mehr aus einer Sehnsucht nach Konsumgütern wie Persil und Mercedes.
Der „Ost-Ost-Konflikt“ und westliche Gleichgültigkeit
Die Debatte um die ostdeutsche Identität und die Ursachen aktueller politischer Entwicklungen ist laut Kowalczuk kein neues Phänomen. Eine „Ost-Ost-Debatte“ habe es seit 1990 immer gegeben, sei aber im Westen oft nicht wahrgenommen worden, da das Interesse an Ostdeutschland im gesamtdeutschen Kontext „relativ bescheiden ausfiel“. Diese interne ostdeutsche Diskussion sei im Kern eine Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Feinden der repräsentativen Demokratie.
Kowalczuk adressiert auch die Kritik vieler Ostdeutscher an der westlichen Dominanz nach der Wiedervereinigung. Während der Westen „einfach so weitermachen“ konnte, sei im Osten quasi alles zusammengebrochen. Soziale Ungerechtigkeiten infolge der Wiedervereinigung sind unbestreitbar, jedoch, so Kowalczuk, rechtfertige dies keineswegs die Wahl von „Faschisten und Kommunisten“. Er verweist auf den ostdeutschen Schriftsteller Dirk Oschmann, dessen Buch zwar einen neuen Ton anschlage, inhaltlich aber bereits in Werken anderer Autoren wie Steffen Mau oder ihm selbst analysiert worden sei.
Die „Transformationsüberforderung“ und die Sehnsucht nach gestern
Das aktuelle Phänomen in Ostdeutschland beschreibt Kowalczuk als einen doppelten Prozess: Eine „Transformationsmüdigkeit“ aus den 1990er und 2000er Jahren werde nun von einer neuen Transformation überlagert – der digitalen Revolution. Diese Überlagerung führe zu einer „Transformationsüberforderung“, bei der Menschen, die die Zukunft nicht einschätzen können, dazu neigen, sich in die Vergangenheit zurückzusehnen.
Dieses Gefühl der Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit sei das zentrale Versprechen von Populisten weltweit. Ob AfD und BSW in Deutschland, Donald Trump in den USA oder Marine Le Pen in Frankreich – sie alle versprechen, die Menschen in eine goldene Vergangenheit zurückzuführen, indem sie eine imaginierte glorreiche Ära herbeizitieren, um so die Zukunft zu gestalten. Die demokratischen Herausforderungen in Deutschland, insbesondere im Osten, bleiben damit ein komplexes und vielschichtiges Feld.