Berlin – Für viele ist die DDR ein Synonym für Enge und Beschränkung. Doch Chris Lopatta, 1963 in Berlin geboren und in der Schillingstraße nahe dem Alexanderplatz aufgewachsen, blickt auf seine Jugendzeit in der Deutschen Demokratischen Republik mit einer ungewöhnlichen Nostalgie zurück. „Ich hatte die schönste Jugend in der DDR und ich glaube, ich hätte keine schönere Jugend haben können“, betont er. Obwohl die Grenzen gesetzt waren und Reisen nach Frankreich oder Spanien nicht möglich waren, ermöglichte das „Eingesperrtsein“ paradoxerweise eine tiefere Verbundenheit untereinander, die zu engeren Freundschaften führte.
Union Berlin: Mehr als nur Fußball
Lopattas Jugend war untrennbar mit dem 1. FC Union Berlin verbunden. Seine Leidenschaft für den Fußball begann, als ihn Schulkameraden, die er als „Mutti-Kind“ ohne fußballbegeisterten Vater kennenlernte, zu einem anderen Verein in Prenzlauer Berg mitnahmen. Dort wurde oft „scheiß Union“ gerufen, was den naiven 12-Jährigen neugierig machte. Er beschloss, sich das „selbst anzugucken“. Seine erste Begegnung mit Union in Köpenick war prägend: Das Stadion war ausverkauft, es regnete in Strömen, und von der Waldseite aus blickte er auf eine rote-weiße Fahnen- und Schalwand. „Boah, ist das geil – 1000-mal besser als bei dem anderen Verein, bei dem Polizei- und Stasiverein“, erinnert sich Lopatta an seinen ersten Eindruck der Saison 1976/77. Von da an gab es für ihn nur noch Union.
Die Stadien waren damals viel kleiner und unglaublich voll. Lopatta beschreibt Zustände, die heute aus Sicherheitsgründen „gar nicht mehr erlaubt“ wären, wo man die Arme kaum heben oder senken konnte, so dicht standen die Zuschauer. Ein Torjubel verwandelte die Menge in ein einziges „Durcheinander“. In den 70er Jahren war Union primär ein „Jungs- und Männer Ding“, mit schätzungsweise 80 bis 90 Prozent männlichen Fans zwischen 13 und 30 Jahren. Mädchen waren selten, es sei denn, sie wurden von Freunden oder Brüdern mitgenommen.
Die Union-Fans entwickelten einen eigenen, unverwechselbaren Stil, der sie von anderen abgrenzte. „Bei Union waren die coolen Typen“: langhaarig, in Telemannjacken (Lederjacken mit zwei Taschen), Jeans und vor allem dem Shellparka – einem „absoluten Muss“. Diese US-amerikanischen Armeekejacken waren schwer zu bekommen und teuer, oft für viel Geld gehandelt. Ergänzt wurde der Look durch Jeansanzüge, Wildlederschuhe („Tremper“) und im Sommer die „berühmten Jesus-Latschen“. Als symbolisches Erkennungszeichen trugen die jungen Union-Fans eine Union-Nadel am Revers oder an der Tasche – „so ein bisschen das Parteiabzeichen der Berliner Jugend“, eine Abgrenzung zum offiziellen Bonbon-Parteiabzeichen der SED-Mitglieder.
Protest im Stadion und harte Rivalitäten
Obwohl Union kein Verein von Dissidenten war, strahlte das Fan-Sein eine gewisse „Art von Protest“ aus. „Nicht jeder Unionfan ist Staatsfeind, aber jeder Staatsfeind ist Unionfan“, soll ein Chefredakteur des „Eulenspiegels“ gesagt haben, um die allgemeine Wahrnehmung widerzuspiegeln, dass Unioner automatisch „ein bisschen gegen das System“ waren.
Die Rivalität zum BFC Dynamo war dabei besonders ausgeprägt. Der BFC wurde als „Milkes Stolpertruppe“ oder „Zirkus Milke“ bezeichnet, da Erich Mielke, der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), als dessen größter Fan galt und angeblich dafür sorgte, dass die besten Spieler zum BFC delegiert wurden. Schiedsrichterentscheidungen zugunsten des BFC waren ebenfalls ein häufiges Ärgernis, was sich in Gesängen wie „Korruption, Korruption, alles schiebt gegen Union“ ausdrückte. Die Wut auf den BFC war enorm, und es gab harte, heute undenkbare Gesänge wie „Zyklon B für den BFC“ oder „Rara Rasputin, Scheißdynamo Ostberlin“.
Trotz der Mauer gab es auch eine starke Verbundenheit zum West-Berliner Verein Hertha BSC. Viele Ost-Berliner Union-Fans hatten Hertha als „westdeutsche Lieblingsmannschaft“, und nach der Wende sah man sogar Union-Fahnen im Olympiastadion neben Hertha-Fahnen. Diese Verbundenheit hat sich nach der Wende jedoch stark verändert.
Freizeit im Osten: Keine Einzelhaft
Chris Lopatta beschreibt eine Jugend voller Aktivitäten und sozialer Interaktionen. Trotz des Mangels an Reisefreiheit im Westen wurde viel innerhalb des Ostblocks gereist, zum Beispiel per Anhalter nach Bulgarien. Lopatta selbst erinnert sich an einen Solo-Urlaub an der Ostsee, wo er nach drei Tagen von seinem Schulkameraden verlassen wurde, und er dann in vier Wochen in „20 verschiedenen Zelten“ übernachtete.
Das soziale Leben war lebendig und organisiert: Es gab feste Treffpunkte an bestimmten Wochentagen, etwa mittwochs in der Gaststätte Plänterwald (PW) in Berlin oder sonntags im „Kleinen Spreewald“ in Schöneiche. „Man hatte richtig Stress in Berlin – Freizeitstress“, scherzt Lopatta. Dieses begrenzte, aber feste Angebot sorgte dafür, dass man sich nicht verabreden musste, sondern einfach wusste, wo man Freunde traf. Die Kommunikation erfolgte oft noch ohne Telefon, über Notizen an der Wohnungstür oder „Papierrollen“.
Neben Fußball gab es auch eine blühende „Blueser“-Szene und Konzerte von Bands wie „Freigang“, die teilweise verboten waren und auf Dörfern stattfanden. Lopatta selbst war nicht tief in dieser Szene verwurzelt, da seine Wochenenden Union gewidmet waren, entdeckte aber kurz vor der Wende noch einige dieser Konzerte, wie das in Warnemünde.
Bemerkenswert ist Lopattas persönliche Haltung: Er rauchte und trank nie Alkohol, was ihn unter Fußballfans besonders machte. „Brauchst nicht, trinkst nicht, Unionfan?“ wurde ihm einmal im Zug misstrauisch gefragt.
Zufriedenheit und Heimatliebe
Lopatta hatte „überhaupt kein Problem in der DDR zu leben“ und wollte auch nie ausreisen, im Gegensatz zu vielen, die Ausreiseanträge stellten. Er wusste, dass das System „doof ist“, aber der Protest äußerte sich im Stadion, nicht in bürgerrechtlichem Engagement.
Als 1989 immer mehr Freunde über Ungarn und Prag flohen, dachte er zum ersten Mal darüber nach, die DDR verlassen zu müssen. Doch dann fiel die Mauer, und „dann waren schon wieder alle da“. Obwohl er West-Berlin kurz vor der Wende als „Paradies“ kennenlernen durfte und die „alten Kreuzberger“ verstehen kann, die ihre Mauer „wiederhaben“ wollten, entschied er sich, zurück in den Osten zu gehen, als Westdeutsche ihn zum Bleiben drängten. Seine Begründung: „Im Osten gibt’s Scheiße, aber mit der kann ich umgehen. Im Westen gibt’s Scheiße, mit der müsste ich erst lernen umzugehen“. Eine Einstellung, die seine einzigartige, tiefe Verbundenheit mit seiner Heimat und seiner Jugend in der DDR verdeutlicht.