Zwischen 1949 und 1989 kehrten rund 600 Spitzensportler der DDR den Rücken. Der Traum vom Olympiasieg oder sportlichem Erfolg stand für viele im Widerspruch zu den Zwängen und der Kontrolle des Leistungssportsystems in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Geschichten von Athleten wie der Hürdenläuferin Karin Balzer, dem Schwimmer Axel Mitbauer und dem Nordisch Kombinierten Klaus Tuchscherer zeugen von den persönlichen Opfern, dem Druck der Staatssicherheit und dem tiefen Wunsch, frei ihren Sport ausüben zu können.
Karin Balzer: Olympiasieg und der Schatten der Stasi
Karin Balzer galt ab Mitte der 50er Jahre als großes Talent. Früh war die junge Athletin aus Halle auf Wettkämpfen in Hamburg, Saarbrücken oder auch privat in West-Berlin unterwegs, als die Grenze noch offen war und Einkäufe im Westen möglich waren. Eine jähe Wendung nahm ihr Leben im Sommer 1958, als sie gegen ihren Willen und ohne Einbeziehung zu dem SC Dynamo Berlin delegiert werden sollte. Mit nur 20 Jahren entschied sie sich spontan, in den Westen zu gehen und reiste mit ihrem Trainer nach West-Berlin und weiter nach Frankfurt.
Die DDR-Sportführung wollte die vielversprechende Athletin jedoch nicht ziehen lassen. Die Staatssicherheit schaltete sich ein und zwang Karin Balzers Vater, das Paar in Ludwigshafen zur Rückkehr zu bewegen. Obwohl sie zunächst ablehnten, gaben sie dem massiven Druck auf die Familie schließlich nach; der Bruder verlor die Lehrstelle, die Eltern fanden keine Ruhe mehr. Sie entschieden sich, „die Menschen, die jetzt vielleicht darunter zu leiden haben“, nicht auch noch zu bestrafen und kehrten in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ zurück. Dort musste sich Karin Balzer zunächst in Leipzig bewähren und war ein Jahr gesperrt.
Trotz dieser Erfahrung entwickelte sie sich zu einer selbstständigen Athletin. Anfang der 60er wurde sie die neue Nummer 1 im Hürdensprint der DDR. Bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio feierte sie ihren größten Erfolg und holte über 80 Meter Hürden Gold – die letzte gesamtdeutsche Olympiamedaille. Im Osten wurde dies als erster Olympiasieg für die DDR-Leichtathletik gefeiert. Ihre Republikflucht und Rückkehr wurden verschwiegen. Den Schatten der Staatssicherheit wurde sie nie los. Sie lernte, niemals zu zeigen, was wirklich in ihr vorgeht und lief die ganzen Jahre mit einer „gewissen Maske“, weil sie wusste, dass die Stasi sie im Nacken hatte. Ihre Popularität nutzte sie einmal, um eine bessere Wohnung zu erzwingen – eine „Schocktherapie“, die funktionierte. 1976 weigerte sie sich, Dopingmittel zu verabreichen und erhielt Berufsverbot im Leistungssport. Trotz aller Problematik und dem angenommenen „Ostmentalität“ wurde Flucht für sie später kein Thema mehr.
Axel Mitbauer: Der Fluchtschwimmer und der Traum von Freiheit
Axel Mitbauer, Jahrgang 1950 aus Leipzig, wurde ebenfalls als Schwimmtalent entdeckt und träumte vom Olympiasieg. Er war besessen vom Schwimmen, es war sein „Zuhause“. Bereits mit 14 war er gut genug für Olympia 1964, wurde aber als zu jung übergangen. Erlebnisse wie diese und vor allem der Bau der Mauer 1961, der die Besuche bei der Verwandtschaft im Westen beendete, schufen Distanz zum System. Axel Mitbauer wollte raus, um frei seinen Sport betreiben zu können – frei von allen Zwängen und politischem Druck.
Sein Olympiatraum zerplatzte 1968 erneut, als er kurz vor den Spielen in Mexiko in Ost-Berlin verhaftet und in die Stasi-Zentrale verschleppt wurde. Er landete in Einzelhaft und war sieben Wochen lang verschwunden. Die Stasi hatte durch Zufall Briefe mit Mitbauers Fluchtgedanken abgefangen. Obwohl ihm die geplante Republikflucht nicht nachgewiesen werden konnte, wurde er für die verbotene Kontaktaufnahme mit dem „Klassenfeind“ bestraft – er erhielt lebenslanges Startverbot. Sein Leben in der DDR war damit „zerstört“.
Axel Mitbauer beschäftigte nur noch eine Frage: Wie kann er das Land verlassen? Inspiriert von der Idee, die Ostseeküste als Startpunkt zu nutzen, entwickelte er den lebensgefährlichen Plan, die DDR schwimmend durch die Ostsee zu verlassen. Er rechnete mit 20 km, es waren dann rund 22 km. Mehr als 5000 Menschen hatten versucht, über die Ostsee zu fliehen, aber die meisten landeten im Gefängnis oder bezahlten mit dem Leben. Mitbauer bereitete sich umfassend vor, nutzte die Sterne zur Orientierung und schwamm in der kalten Ostsee, nur mit Badehose, Flossen und Vaseline. Nach stundenlangem Kampf mit der Kälte rettete er sich auf eine Boje und wurde am nächsten Morgen von einem Fährschiff aufgenommen. Er ging als der „Fluchtschwimmer“ in die deutsch-deutsche Geschichte ein. Mitbauer glaubt, dass man zu größeren Leistungen fähig ist, wenn man frei handeln kann, als wenn man gezwungen wird. Er hat seine Flucht nie bereut, auch wenn er im Westen nicht wieder an seine sportlichen Erfolge anknüpfen konnte und eine Verletzung ihn auch um die Chance auf Olympia 1972 brachte. Er sieht es als Sieg, „von einem totalen System in ein freiheitliches System wechseln zu können“.
Klaus Tuchscherer: Verrateter Medaillentraum und erzwungene Ausreise
Klaus Tuchscherer träumte als Skispringer von einer olympischen Medaille. Er kam auf die Sportschule und wuchs in das System hinein, zunächst ohne es kritisch zu betrachten. Doch bald entstand ein Gefühl, dass ihm etwas fehlte – Menschlichkeit, Abwechslung, andere Interessen. Der intensive Tagesablauf aus Training und Schule ließ dafür keinen Raum. Er fühlte sich im „Räderwerk der Medaillenmacher“ nicht wohl, hatte viele Fragen, traute sich aber nicht, diese zu stellen. Für ihn war es ein Problem, dass im System die Unterordnung verlangt wurde und seine Selbstbestimmung oder geistige Freiheit genommen wurde.
1976 kämpfte sich Klaus Tuchscherer an die nationale Spitze der Nordisch Kombinierten heran und qualifizierte sich für die Olympischen Winterspiele in Innsbruck. Nach dem Springen lag er auf Medaillenkurs auf Platz 3. Doch dann der Schock: Die DDR-Mannschaftsleitung ordnete ihn in der schlechtesten, der ersten Startgruppe an. Er traute sich nicht zu fragen, warum, da der Cheftrainer „militant“ war und kein Widerspruch geduldet wurde. Als erster Läufer hatte er keine Chance, seinen Platz im 15 km Rennen zu verteidigen, da die Loipe mit jedem Läufer schneller wurde. Am Ende wurde er Fünfter und fühlte sich um seine Medaille betrogen.
Der Entschluss, in Österreich zu bleiben, kam in den nächsten Stunden „ganz entschlossen“. Er plante seine Flucht und nutzte den Trubel am letzten Tag der Spiele, um sich von seiner österreichischen Freundin abholen zu lassen. Zwei Tage später spürte ihn die Staatssicherheit auf und versuchte mit psychologischen Mitteln, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Ein „nächster psychologischer Griff“ war, seinen verzweifelten, gebrochenen Vater ans Telefon zu „warten oder zwangen“. Der Vater brach am Telefon zusammen und bat ihn zurückzukommen, was Tuchscherer große Sorgen bereitete. Nach seiner Flucht musste die DDR beweisen, dass sie Menschenrechte einräumt. Klaus Tuchscherer wurde vor die Wahl gestellt: entweder zurückkehren oder offiziell nach Österreich ausreisen, eine Entscheidung zwischen den Eltern und der Freundin. Er entschied sich nach einer Frist von drei Wochen für die Ausreise. Seine Flucht hat er nie bereut. Er lebte später in Innsbruck und startete als Skispringer für Österreich.
Die Schicksale von Karin Balzer, Axel Mitbauer und Klaus Tuchscherer zeigen exemplarisch, wie das rigide DDR-Sportsystem, das auf Medaillen und Kontrolle ausgerichtet war, die persönlichen Freiheitsbestrebungen und das Wohl der Athleten unterordnete und viele vor die schwere Entscheidung stellte, ihre Heimat für ein selbstbestimmtes Leben aufzugeben.