Seit Jahrzehnten tobt unter Historikern und Publizisten eine leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Frage, ob die Sowjetunion unter Josef Stalin tatsächlich einen Angriff auf Deutschland geplant habe – und ob Adolf Hitler im Juni 1941 nicht etwa vorsorglich vorgreifen musste. Die sogenannte «Präventivkriegsthese» ist dabei zum Prüfstein geworden, an dem sich verschiedene Positionen scheiden.
Ursprung der Präventivkriegsthese
In den 1980er-Jahren brachte der deutschnationale Historiker Joachim Hoffmann die Hypothese ins Gespräch, Hitler habe seinen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 primär aus Furcht vor einem unmittelbar bevorstehenden sowjetischen Angriffskrieg lanciert. Parallel dazu sorgte der russische Ex-Offizier und Publizist Wiktor Suworow (Pseudonym für Wladimir Resun) mit seinem Buch Der Eisbrecher für Aufsehen. Suworow behauptet, Stalin habe bis zum Sommer 1941 Truppen an der Westgrenze zusammengezogen, um einen Großangriff auf Deutschland zu starten.
Kritiker fordern harte Beweise
Die Gegenseite bemängelt vor allem: Es fehlen konkrete Dokumente. Bis heute ist kein Plan in sowjetischen Archiven aufgetaucht, der einen bevorstehenden Angriffskrieg gegen Deutschland zweifelsfrei belegt.
„Die Rote Armee befand sich nach dem Winterkrieg gegen Finnland in einer tiefgreifenden Reorganisation – und war personell wie materiell angeschlagen“, erläutert Prof. Dr. Klaus Richter, Militärhistoriker an der Universität Potsdam. „Die stalinistischen Säuberungen hatten den Generalstab dezimiert, von einem schlagkräftigen Offensivheer konnte 1941 noch keine Rede sein.“
Ideologie versus Pragmatismus
Tatsache ist: Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 sicherte beiden Seiten strategische Vorteile. Deutschland erhielt dringend benötigte Rohstoffe, während Stalin Zeit gewann, die Industrie und das Militär auszubauen. Noch am Morgen des 22. Juni rollten sowjetische Güterzüge mit Getreide in deutsche Hafenstädte ein – ein Bild, das wenig auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hindeutet.
Dr. Maria Petrowa, Osteuropa-Expertin an der Freien Universität Berlin, betont:
„Stalin verfolgte eine pragmatische Außenpolitik. Der Bündnisnutzen aus dem Handel mit Hitler-Deutschland war enorm. Ein unverzichtbarer Baustein seiner Strategie war die Fortsetzung dieser wirtschaftlichen Kooperation.“
Was sagen die Quellen?
Mangel an «Kriegsspiel»-Protokollen: Anders als in den westlichen Militärakademien sind keine sowjetischen Planspiele dokumentiert, die eine Offensive gegen Deutschland simulierten.
Widersprüchliche Truppenkonzentrationen: Zwar verlegte die Rote Armee große Verbände an die westlichen Grenzabschnitte, doch zeugten diese eher von der Furcht eines deutschen Erstschlags denn von einem bevorstehenden Gegenangriff.
Zwischen Ideologie und Mythos
Die Präventivkriegsthese bleibt im Kern ein ideologisches Konstrukt: Für Rechte und Revisionisten bietet sie eine willkommene Rechtfertigung für Hitlers Angriff, während russische Nationalisten gern den Mythos vom edlen Verteidiger propagieren. Die wissenschaftliche Mehrheitsmeinung indes lehnt beide Einseitigkeiten ab.
Konkrete sowjetische Angriffspläne gegen Deutschland – sie sind bislang nicht nachgewiesen und gelten in der Fachwelt als unwahrscheinlich. Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wird heute als Ausdruck seiner expansiven Ideologie und seines rassenideologischen Vernichtungswillens gesehen, nicht als präventive Notwehr. Die Debatte um die Präventivkriegsthese aber bleibt ein Lehrstück dafür, wie Geschichte politisch instrumentalisiert wird – und wie wichtig es ist, Quellen und Motivlagen stets kritisch zu prüfen.