Ulbrichts Traum vom Wirtschaftswunder – Als die DDR auf Technik als Heilmittel setzte

Ein Rückblick auf die technikeuphorische DDR der 1960er Jahre – zwischen Kybernetik, Lochkarten und sozialistischen Utopien.

Als der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin 1961 als erster Mensch ins All flog, war das nicht nur ein Meilenstein für die Raumfahrt. Für die DDR wurde dieser Moment zum Startschuss eines regelrechten Technikfiebers. Angetrieben vom sowjetischen Fortschritt und getrieben von der Idee, den Westen wirtschaftlich und technologisch zu überholen, entwarf Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats, seine Vision eines sozialistischen Wirtschaftswunders – mit Wissenschaft und Technik als Motoren einer besseren Zukunft.

Die technologische Offensive
„Überholen, ohne einzuholen“ – dieses paradoxe Mantra bestimmte fortan die wirtschaftliche Strategie der DDR. Mit dem „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung“ (NÖS), das 1963 vorgestellt wurde, wollte man die erstarrte Planwirtschaft modernisieren. Betriebe erhielten etwas mehr Eigenverantwortung, Leistung wurde durch Prämien belohnt, und erstmals durfte auch über Gewinne gesprochen werden – innerhalb sozialistischer Grenzen, versteht sich.

Kybernetik, zuvor als bourgeoise Spinnerei abgetan, wurde plötzlich als Wunderwaffe gefeiert. Sie sollte helfen, den Sozialismus effizient zu steuern – mit Hilfe von Rechenmaschinen, Lochkarten und Algorithmen. Der Computer „Robotron 300“ wurde zum Vorzeigeprojekt, neue Ausbildungsberufe wie „Facharbeiter für Datenverarbeitung“ etabliert. In den Büros surrten Rechenmaschinen, in Klassenzimmern träumten Schüler von Weltraumspaziergängen.

Technik als Zukunftsversprechen
Die technikverliebte Propaganda machte auch vor der Kultur nicht halt. Science-Fiction-Filme und -Literatur malten eine glorreiche Zukunft aus, in der Maschinen das Leben erleichtern und der Mensch, befreit von Not und Ausbeutung, seiner kreativen Arbeit nachgehen konnte. Technik war in der DDR kein bloßes Mittel – sie wurde zum Versprechen einer besseren, kommunistischen Welt.

Und tatsächlich: In den 60er Jahren verbesserten sich vielerorts die Lebensbedingungen. Die Regale in den Geschäften füllten sich, die Infrastruktur wuchs, Renten und Urlaubszeiten stiegen. Vorzeigestädte wie Eisenhüttenstadt sollten zeigen, dass der Sozialismus nicht nur funktionierte, sondern auch modern war.

Ein Traum mit Rissen
Doch die Euphorie hielt nicht lange. Trotz aller Reformversuche blieb das System unfrei – Preise wurden weiter zentral bestimmt, Betriebe litten unter Rohstoffmangel, insbesondere nach dem Rückgang sowjetischer Erdöllieferungen. Mit dem mysteriösen Tod des Reformarchitekten Erich Apel 1965 verlor das NÖS seinen wichtigsten Vordenker. Die Reformen stockten, und bald zeigte sich: Ein bisschen Markt im Sozialismus macht noch keinen Fortschritt.

Was folgte, war ein Rückzug. 1971 übernahm Erich Honecker die Führung, Ulbricht wurde abgesetzt, das NÖS abgeschafft. Statt technologischem Aufbruch setzte die neue Linie auf soziale Wohltaten, finanziert durch westliche Kredite – ein fragiles System mit Ablaufdatum.

Rückblick auf eine technikbesessene Utopie
Heute wirkt die technikeuphorische DDR der 60er Jahre wie ein Relikt aus einer alternativen Zukunft – ein Ort, an dem Planwirtschaft und Computer, Sozialismus und Science-Fiction, Maschinen und Marx Hand in Hand gehen sollten. Es war ein Traum von der Überlegenheit des Fortschritts, geboren aus Hoffnung, Ideologie und einer gehörigen Portion Größenwahn. Doch am Ende blieb davon nur ein Stapel Lochkarten, einige Science-Fiction-Romane – und die Erkenntnis, dass selbst die modernste Technik keinen Systemfehler aushebeln kann.

Tips, Hinweise oder Anregungen an Arne Petrich

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