Marx Befreien – Gysis Vision: Freiheit, Demokratie und der Wandel des Kapitalismus

Gregor Gysi spricht bei Phoenix anlässlich des 200. Geburtstags von Karl Marx über dessen Erbe und seine Bedeutung für die Gegenwart. Dabei betont er dessen Rolle als Vordenker von Freiheit, Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit. Er spricht über die Zukunft des Kapitalismus und den notwendigen Übergang zu einem demokratischen Sozialismus.

In diesem Gespräch kommt Gysi zu dem Schluss, dass Karl Marx nicht als Symbol eines gescheiterten Staatssozialismus betrachtet werden darf, sondern als großer Denker, dessen Schriften und Analysen auch heute von enormer Aktualität sind. Er betont, dass Marx in erster Linie ein Kämpfer für die Befreiung und Emanzipation der Menschen war und keineswegs den autoritären Diktaturen, die sich später auf seine Werke beriefen, zugeschrieben werden kann. Marx’ umfassende Kritik am Kapitalismus – wie sie insbesondere in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ zum Ausdruck kommt – zeigt, dass er die grundlegenden Widersprüche dieses Wirtschaftssystems bereits im 19. Jahrhundert erfasst hat. Gysi sieht in diesen Analysen eine Bestätigung der These, dass der Kapitalismus zwar wirtschaftlich effizient sein mag und in bestimmten Bereichen Innovationen und Fortschritt hervorbringt, jedoch zugleich zu immer größerer sozialer Ungerechtigkeit, wachsender Armut und ökologischen Problemen führt.

Ein weiterer wesentlicher Punkt in Gysis Ausführungen ist der Missbrauch von Marx’ Ideen durch verschiedene autoritäre Regime. Er kritisiert, dass der Staatssozialismus in der DDR, der Sowjetunion und in China Karl Marx’ Denken verfälscht habe, indem er seine Theorien instrumentalisierte und dabei die eigentlichen Ziele – Freiheit, Demokratie und die Emanzipation des Individuums – völlig aus den Augen verlor. Gysi fordert daher eine Neubewertung von Marx’ Erbe, die ihn von diesen historischen Fehlinterpretationen befreit. Er plädiert für ein Umdenken: Statt Marx als Symbol eines gescheiterten Systems zu betrachten, sollten wir ihn als Vordenker einer gerechten Gesellschaft würdigen, der den Kapitalismus in all seinen Widersprüchen präzise analysierte.

Besonders markant sind Gysis Hinweise auf die gescheiterten Versuche, einen demokratischen Sozialismus zu etablieren. Er nennt dabei drei zentrale Beispiele: die Pariser Kommune, den Prager Frühling unter Alexander Dubček und den demokratischen Ansatz unter Präsident Allende in Chile. Allen gemein war, dass diese Initiativen letztlich militärisch zerschlagen wurden – ein Umstand, der nach Gysis Ansicht nicht an der Idee des demokratischen Sozialismus selbst liegt, sondern an den äußeren, repressiven Eingriffen. Demnach bleibt der demokratische Sozialismus bislang ein noch nicht vollständig realisiertes Projekt, das aber als Alternativmodell zum bestehenden Kapitalismus in den Mittelpunkt rücken sollte.

Gysi weist zudem darauf hin, dass der Kapitalismus, so beeindruckend er in puncto Effizienz und technologischem Fortschritt sein mag, langfristig an seine Grenzen stößt. Die Konzentration von Reichtum in immer weniger Händen, die Zunahme sozialer Ungerechtigkeit und die Unfähigkeit, ökologische Herausforderungen wie den Klimawandel zu meistern, seien Symptome eines Systems, das nicht mehr zukunftsfähig sei. Trotz der Krisen, die den Kapitalismus immer wieder erschüttern, hält er ihn nicht für das Ende der Geschichte. Vielmehr sieht Gysi in der kontinuierlichen Weiterentwicklung und im Streben nach sozialer Gerechtigkeit einen wichtigen Hebel, um die fundamentalen Missstände des aktuellen Systems zu überwinden.

Ein weiterer Aspekt, der in dem Gespräch deutlich wird, ist die Notwendigkeit, die historischen und ideologischen Fehlinterpretationen von Karl Marx zu korrigieren. Gysi kritisiert etwa, dass in Deutschland Marx’ Name und Werk nach wie vor nicht in dem Maße gewürdigt werden wie in anderen Ländern. So gäbe es in Frankreich mehrere Universitäten, die nach Marx benannt sind – in Deutschland hingegen fehle diese Anerkennung. Dies symbolisiere für ihn einen tiefgreifenden ideologischen Bruch, der dringend behoben werden müsse, um Marx’ Erbe in einem angemessenen und würdigen Licht erscheinen zu lassen.

Besonders amüsant findet Gysi auch die häufigen falschen Zitate und Auslegungen von Marx’ Schriften. Ein Beispiel ist das allseits bekannte Zitat „Religion ist Opium des Volkes“, das häufig falsch wiedergegeben wird. Gysi macht deutlich, dass Marx hier einen feinen, aber bedeutsamen Unterschied machte: Während in der originalen Formulierung von einer oktruierten Religion als Opium des Volkes gesprochen wird, betont er gleichzeitig die Vorstellung, dass das Volk sich diese Religion in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft freiwillig aneignet. Diese Differenz verdeutlicht, wie wichtig eine präzise und kontextgerechte Auseinandersetzung mit Marx’ Schriften ist, um sein Gedankengut nicht in ideologische Schablonen zu pressen.

Im Gespräch wird auch die Frage thematisiert, wie es möglich ist, dass autoritäre Regime wie China sich auf Karl Marx berufen, obwohl sie in ihrer Praxis nicht den von Marx propagierten Werten von Freiheit und Demokratie gerecht werden. Gysi berichtet von einem persönlichen Austausch in China, in dem er den Versuch unternahm, auf den Widerspruch hinzuweisen, dass Marx selbst nie einen diktatorischen Überbau vorgesehen habe. Vielmehr sei ihm stets ein demokratischer und freier Gesellschaftsvertrag zugrunde gelegen – ein Gedanke, der sich in der Praxis autoritärer Staaten jedoch häufig nicht wiederfinde.

Zusammenfassend ruft Gregor Gysi dazu auf, das Erbe Karl Marx’ neu zu denken. Es gelte, ihn von den ideologischen Fesseln und Missbräuchen des Staatssozialismus zu befreien und ihn als visionären Denker zu würdigen, der die tiefgreifenden Widersprüche des Kapitalismus erkannt hat. Für Gysi liegt die Zukunft nicht in der Abschaffung des Kapitalismus an sich, sondern in der Überwindung jener Elemente, die zu sozialer Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Krieg führen. Er fordert einen demokratischen Sozialismus, der die positiven Aspekte des Kapitalismus – etwa Innovationskraft und wirtschaftliche Effizienz – mit den fundamentalen Werten von Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit verbindet.

Dieser fortwährende Kampf für eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft ist für Gysi nicht nur politisch notwendig, sondern auch ein moralischer Imperativ. Es geht darum, den Weg zu ebnen für eine Zukunft, in der die Freiheit des Einzelnen untrennbar mit dem Wohlergehen der Gemeinschaft verbunden ist – ein Ziel, das auch wenn es als utopisch erscheinen mag, immer wieder durch konkrete Fortschritte und gesellschaftliche Veränderungen erreichbar wird. So fordert er uns alle auf, nicht tatenlos zu verharren, sondern aktiv an der Gestaltung einer besseren Zukunft mitzuwirken – im Bewusstsein, dass der Weg dorthin über die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die kontinuierliche Weiterentwicklung unserer gesellschaftlichen Modelle führt.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
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