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Gregor Gysi über die Volkskammer 1990 – Das engagierte Laienparlament

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Im Februar 2025 gab der ehemalige Abgeordnete Gregor Gysi in einem exklusiven Interview eindrucksvolle Einblicke in die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Volkskammer im Jahr 1990 – einer Zeit des politischen Umbruchs und tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen in der DDR. Gysi erinnert sich an ein Parlament, das – entgegen der oft im Westen gezeichneten Vorurteile – keineswegs nur ein Forum für symbolische Beschlüsse war, sondern vielmehr ein lebendiger Austausch unterschiedlicher Lebensgeschichten und Sichtweisen, in dem fachliche Kompetenz und engagierte Diskussion den Ton angaben.

Ein Laienparlament mit hohem Engagement
„Die Volkskammer war, das stimmt, was da im Westen immer gesagt wurde, ja tatsächlich ein Laienparlament“, beginnt Gysi seine Schilderungen. Trotz des Etiketts als Laienparlament, in dem fast keine Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker anzutreffen waren, zeichnet er ein Bild von intensiven Diskussionen und einem reger Austausch – ein Gegensatz zu den heutigen politischen Gremien, in denen der Alltag oft von parteipolitischen Strategien und kalkulierten Positionierungen bestimmt wird.

In jener bewegten Zeit waren es gerade die unterschiedlichen Hintergründe der Abgeordneten, die den politischen Diskurs prägten. Viele Mitglieder kamen aus der Zivilgesellschaft und brachten ihre individuellen Erfahrungen aus dem Alltag in die parlamentarischen Debatten ein. Dieser Querschnitt unterschiedlicher Biografien schuf ein Arbeitsumfeld, in dem man sich gegenseitig Fragen stellte, kritische Anmerkungen gab und gemeinsam an der Formulierung neuer Ideen und Anträge arbeitete. Gysi betont, dass dieser Austausch – getragen von Neugierde und der Bereitschaft, voneinander zu lernen – ein entscheidendes Merkmal der damaligen Volkskammer war.

Ein Anekdotenblick: Der Dialog mit der FDP
Ein besonders markantes Beispiel für den damaligen Umgang miteinander lieferte Gysi anhand einer Anekdote aus der Zusammenarbeit mit der FDP. Die FDP, so erzählt er, kam damals direkt auf ihn zu, um die Zulässigkeit ihrer Anträge zu hinterfragen:

„Die FDP kam zu mir mit ihren Anträgen und fragte, ob die so zulässig sind. Da habe ich gesagt, ich will aber den Antrag nicht. Und die sagt, ist ja egal, darum geht es ja nicht. Sie sollten bloß dafür sorgen, dass wir den Antrag richtig formulieren. Das habe ich dann auch gemacht.“

Dieses Ereignis illustriert eindrucksvoll, wie damals der Dialog zwischen den politischen Akteuren von gegenseitigem Respekt und der Bereitschaft zu Kooperation geprägt war. In einer Zeit, in der Fachwissen und Expertise auf der Tagesordnung standen, zeigte sich, dass auch parteiübergreifende Zusammenarbeit möglich war – etwas, das Gysi als in der heutigen politischen Landschaft kaum noch vorstellbar erachtet. Der direkte und unkomplizierte Austausch, der hier zum Tragen kam, hob das damalige politische Klima von den oftmals starren und parteipolitisch eingefärbten Diskussionen der Gegenwart ab.

Vielfalt der Biografien – Ein Spiegel der DDR-Gesellschaft
Ein zentrales Element in Gysis Erinnerungen ist die immense Vielfalt der Menschen, die in der Volkskammer vertreten waren. Diese Vielfalt spiegelte die unterschiedlichen Lebenswege und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger in der DDR wider. „So und dann eben die ganz unterschiedliche Biografie der Menschen in der DDR mit ganz unterschiedlichen Sichten. Also die Volkskammer war spannend“, erinnert Gysi. Gerade diese Mischung unterschiedlicher Perspektiven schuf ein Klima, in dem auch unkonventionelle Ideen und neue Sichtweisen Platz fanden.

Die unterschiedlichen Hintergründe führten zu einem intensiven inhaltlichen Austausch, der nicht selten auch in nächtlichen Sitzungen mündete – ein Bild, das den damaligen Elan und die Bereitschaft, über den Tellerrand hinauszublicken, eindrucksvoll illustriert. Trotz der oftmals widersprüchlichen Positionen gelang es den Abgeordneten, gemeinsam an einem Neuanfang zu arbeiten und den Grundstein für die spätere demokratische Entwicklung zu legen.

Eliten im Wandel: Die Rolle von Pfarrern und Rechtsanwälten
Ein weiterer spannender Aspekt, den Gysi in seinem Interview anspricht, betrifft den Wandel der politischen Eliten. Während man damals noch den Anspruch verfolgte, die alten Eliten abzulösen, zeigte sich bald, dass in einer Demokratie Eliten – also Personen mit besonderer Expertise und Führungskompetenz – grundsätzlich unentbehrlich sind. Doch wer konnte diese neue Elite verkörpern?

Gysi nennt zwei Gruppen, die in jener Zeit eine besondere Rolle spielten: Pfarrer und Rechtsanwälte. Diese Gruppen waren in der DDR, wenn auch nicht unmittelbar im Machtapparat verankert, dennoch als gut ausgebildete und respektierte Persönlichkeiten angesehen. Ihre Tätigkeit – die Juristen mit ihrer präzisen, sachlichen Argumentation und die Theologen mit ihrem philosophisch-reflektierten Blick auf ethische Fragen – verlieh der Volkskammer eine besondere Tiefe und Vielfalt.

„Die Eliten sollten noch ausgewechselt werden. Die alten Eliten sollten es doch nicht mehr sein. Du kannst aber auf Eliten auch nicht verzichten“, erläutert Gysi und weist darauf hin, dass der Ersatz der alten Führungskräfte nicht bedeutet habe, dass man auf die Expertise und das fachliche Know-how verzichten könne. Vielmehr habe man gezielt diejenigen gewählt, die zwar außerhalb des bisherigen Machtzentrums standen, aber durch ihre Bildung und ihren Hintergrund wertvolle Impulse in den politischen Diskurs einbringen konnten.

Die Kombination aus juristischer Präzision und theologischem Tiefgang sorgte für eine Balance, die es ermöglichte, sowohl rechtliche als auch ethische Fragestellungen angemessen zu diskutieren. Die Präsenz von Pfarrern und Rechtsanwälten verlieh dem Parlament somit nicht nur einen fachlichen, sondern auch einen moralischen und philosophischen Unterbau – eine Mischung, die in späteren Jahren vielfach als entscheidender Erfolgsfaktor für die demokratische Transformation gewertet wird.

Ein Blick in die Vergangenheit als Lehre für die Gegenwart
Gregor Gysis Rückblick auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Volkskammer 1990 ist zugleich eine Erinnerung an eine Zeit, in der politische Prozesse noch von direktem Austausch und authentischer Auseinandersetzung geprägt waren. Die Erzählungen aus jener Ära, in der auch noch in nächtlichen Sitzungen nach Lösungen gesucht wurde, lassen einen Kontrast zu den heutigen politischen Abläufen erkennen, die oft von strategischen Interessen und einem Mangel an direktem Dialog bestimmt sind.

Seine Schilderungen regen dazu an, über die Rolle von Fachwissen und persönlichem Engagement in der Politik nachzudenken. Wo heute vielfach auf Karrierepolitik gesetzt wird und parteipolitische Erwägungen dominieren, erinnert uns Gysi daran, dass der politische Diskurs früher auch von der Bereitschaft geprägt war, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen – unabhängig von parteipolitischen Erwägungen. Der direkte Kontakt, wie er in der Anekdote mit der FDP deutlich wird, zeugt von einer Offenheit und Flexibilität, die in der heutigen politischen Landschaft oft vermisst wird.

Fazit: Ein Erbe, das weiterwirkt
Die Erinnerungen an die Volkskammer 1990, wie sie Gregor Gysi schildert, bieten nicht nur einen faszinierenden Einblick in eine vergangene Epoche, sondern auch eine wertvolle Lektion für die heutige Politik. Die Zeiten, in denen man sich noch auf die fachliche Kompetenz und den persönlichen Austausch verlassen konnte, mögen vergangen sein – doch die Prinzipien, die damals gelebt wurden, sollten nicht in Vergessenheit geraten.

Gysis‘ Bericht unterstreicht, dass Demokratie mehr ist als nur der Austausch von Parolen und politischen Strategien. Es geht um den Dialog, um das gegenseitige Hinterfragen und um das Einbeziehen unterschiedlicher Perspektiven – von Juristen, Theologen und all jenen, die ihre ganz persönlichen Lebenswege in die Politik eingebracht haben. Diese Vielfalt und der daraus resultierende Diskurs bilden das Fundament, auf dem demokratische Prozesse aufbauen können.

In einer Zeit, in der politische Entscheidungen oft in undurchsichtigen Prozessen getroffen werden und parteipolitische Interessen über den eigentlichen Dialog gestellt werden, ist es umso wichtiger, sich an jene Werte und Prinzipien zu erinnern, die die Volkskammer 1990 auszeichneten. Der Geist der Offenheit, die Bereitschaft, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, und der feste Glaube daran, dass unterschiedliche Lebensgeschichten zu einem reichhaltigen und konstruktiven Diskurs beitragen können, sind Lehren, die in der heutigen Zeit wieder verstärkt in den Vordergrund rücken sollten.

So bleibt Gregor Gysis‘ Interview nicht nur ein historisches Zeugnis, sondern auch ein Appell an die Politik von heute: Es lohnt sich, die Vielfalt zu nutzen und den direkten, unbürokratischen Austausch wieder in den Mittelpunkt der politischen Arbeit zu rücken – für eine lebendige Demokratie, die auf echten Werten basiert und in der der Mensch wieder im Mittelpunkt steht.

Das DDR-Heimsystem: Eine Geschichte von Leid und Missbrauch

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Das Heimsystem der DDR war ein weitreichendes und oft brutales Netzwerk von Einrichtungen, das tiefe Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen hat. Hunderttausende Kinder und Jugendliche verbrachten in diesen Heimen Teile ihrer Kindheit und Jugend. Die offizielle Zielsetzung dieser Einrichtungen war die Erziehung zu „allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten“. Doch hinter diesem Anspruch verbarg sich ein System, das die Individualität und die Bedürfnisse der Kinder oft ignorierte und stattdessen auf Zwang und Unterordnung setzte. Die Heimerziehung wurde zum Werkzeug des Staates, um gesellschaftliche Anpassung zu erzwingen – nicht selten um den Preis von Leid und Missbrauch.

Arten von Heimen und ihre Funktion
Die Heime der DDR waren in verschiedene Kategorien unterteilt, die spezifischen Zwecken dienten:

  • Normalkinderheime

Diese Einrichtungen machten etwa vier Fünftel aller DDR-Heime aus. Sie nahmen Kinder und Jugendliche auf, die als „normal erziehbar“ galten. Hier standen eine überwiegend strenge Erziehung und die Anpassung an sozialistische Werte im Mittelpunkt.

  • Spezialkinderheime

Diese Heime waren für sogenannte „schwer erziehbare“ Kinder und Jugendliche vorgesehen. Die Bedingungen waren oft besonders hart, und die Einrichtungen dienten weniger der Förderung als der „Brechung“ des individuellen Willens.

  • Jugendwerkhöfe

Diese speziellen Einrichtungen waren für Jugendliche gedacht, die als besonders aufsässig oder „systemfeindlich“ galten. Der bekannteste und gefürchtetste war der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Hier wurden Jugendliche unter extremen Bedingungen erzogen, die oft an Haftbedingungen grenzten.

Gründe für die Einweisung
Die Gründe für die Einweisung in ein Heim waren vielfältig, oft jedoch willkürlich. Zu den häufigsten gehörten:

  • Verhaltensauffälligkeiten: Schon geringfügige Vergehen wie Schulschwänzen, „schlechter Umgang“ oder kleine Regelverstöße konnten genügen.
  • Familiäre Umstände: Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen oder Familien, die als „nicht systemkonform“ galten, wurden oft ohne genaue Prüfung in Heime eingewiesen.
  • Politische Gründe: Kritische oder religiöse Überzeugungen der Eltern oder der Kinder selbst konnten zu einer Einweisung führen.
  • Willkür: Viele Entscheidungen basierten auf persönlichen Einschätzungen der Jugendhilfe oder Schulleitungen, ohne dass die Betroffenen eine Möglichkeit hatten, sich zu wehren.

Der Alltag in den Heimen: Drill, Strafen und Missbrauch
Das Leben in den DDR-Heimen war von einem strengen Tagesablauf geprägt. Ehemalige Heimkinder berichten von vielfältigen Formen der Gewalt, die sowohl körperlicher als auch psychischer Natur waren:

  • Militärischer Drill: Die Kinder mussten in Reih und Glied antreten, Meldung machen und sich militärisch disziplinieren lassen.
  • Zwangsarbeit: Viele Kinder und Jugendliche wurden zur Arbeit in umliegenden Betrieben gezwungen, oft unter schwierigen Bedingungen.
  • Körperliche Gewalt: Schläge und andere Formen der körperlichen Bestrafung waren weit verbreitet.
  • Psychische Gewalt: Erniedrigungen, Isolation und ständige Beschimpfungen prägten den Alltag.
  • Demütigende Aufnahmerituale: In einigen Heimen mussten Kinder entwürdigende Rituale durchlaufen, wie das berüchtigte „Reinigungsritual“, bei dem sie unter entblößenden und demütigenden Bedingungen „gereinigt“ wurden.
  • Isolation und Dunkelzellen: Besonders in den Spezialheimen wurden Kinder zur Strafe in Dunkelzellen eingesperrt, manchmal über Tage hinweg.
  • Sexueller Missbrauch: In einigen Fällen kam es zu sexuellem Missbrauch durch Erzieher oder andere Heiminsassen. Solche Vorfälle wurden oft vertuscht.

Die Auswirkungen der Heimerziehung
Die traumatischen Erlebnisse in den Heimen hinterließen bei den Betroffenen tiefgreifende Spuren. Viele leiden bis heute unter:

  • Verlust des Selbstwertgefühls: Die ständigen Erniedrigungen und Bestrafungen zerstörten das Selbstbewusstsein vieler Heimkinder.
  • Angst und Misstrauen: Die erlebte Gewalt und Willkür führten zu dauerhaften Angstzuständen und einem tiefen Misstrauen gegenüber anderen Menschen.
  • Psychische Probleme: Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen sind bei vielen Betroffenen verbreitet.
  • Soziale Schwierigkeiten: Beziehungen und berufliche Karrieren wurden häufig von den traumatischen Erfahrungen in den Heimen beeinträchtigt.
  • Traumata und Erinnerungslücken: Viele Betroffene berichten von Schlafstörungen und Erinnerungslücken, die auf die erlebten Traumata zurückzuführen sind.
  • Die Aufarbeitung der Vergangenheit

Erst in den letzten Jahrzehnten begann eine systematische Aufarbeitung der Geschehnisse. Verschiedene Maßnahmen wurden ergriffen, um den Betroffenen Gerechtigkeit und Gehör zu verschaffen:

  • Gedenkstätten: Ehemalige Heime wie der Jugendwerkhof Torgau wurden in Gedenkstätten umgewandelt.
  • Selbsthilfegruppen: Viele ehemalige Heimkinder haben Gruppen gegründet, um ihre Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig zu unterstützen.
  • Zeitzeugengespräche: Betroffene wie Dietmar Rummel oder Alexander Müller berichten öffentlich über ihre Erlebnisse.
  • Rehabilitierung und Entschädigung: Einige Betroffene wurden offiziell rehabilitiert und haben finanzielle Entschädigungen durch den Heimerziehungsfonds der Bundesregierung erhalten.

Forschung: Wissenschaftler wie Ingolf Notzke untersuchen das DDR-Heimsystem und seine Auswirkungen auf die Betroffenen.

Besondere Fallbeispiele
Die Schicksale einzelner Betroffener verdeutlichen das Ausmaß des Leids:

  • Corinna Thalheim: Mit 16 Jahren wurde sie in den Jugendwerkhof Wittenberg eingewiesen und später nach Torgau verlegt. Dort erlitt sie sexuellen Missbrauch und engagiert sich heute ehrenamtlich für ehemalige Heimkinder.
  • Dietmar Rummel: Er verbrachte zehn Jahre im Kinderheim Anna Schumann in Großdolben und berichtet in einem Buch über die traumatischen Erfahrungen von Drill und Zwangsarbeit.
  • Marianne Castrati: Sie erlebte Demütigungen und Zwangsarbeit in einem Mädchenwohnheim in Halberstadt. Heute kämpft sie für die Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder.
  • Alexander Müller: Aufgrund des Protests seiner Mutter gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann wurde er in mehrere Heime eingewiesen und mehrfach in Torgau inhaftiert

Das DDR-Heimsystem bleibt ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte. Die grausamen Bedingungen und die Traumata, die viele Betroffene bis heute begleiten, verdeutlichen die Notwendigkeit einer umfassenden Aufarbeitung. Die Geschichten der ehemaligen Heimkinder sind eine Mahnung, wie wichtig der Schutz der Schwächsten in einer Gesellschaft ist. Eine offene Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit kann dazu beitragen, dass solche Gräueltaten nicht wieder geschehen und dass den Opfern endlich die Anerkennung und Unterstützung zuteilwird, die sie verdienen.

Mobil sein in der DDR – Die mageren Möglichkeiten der Fortbewegung

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„Der Osten auf vier Rädern“ – so könnte man die Mobilität in der DDR beschreiben. In einer Zeit, in der der Westen oft als Symbol für Freiheit und Wohlstand galt, mussten die Menschen im Osten kreative Wege finden, um sich fortzubewegen und ihre Ziele zu erreichen.

Autos waren ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten. Lange Wartezeiten für Neuwagen und hohe Preise auf dem Schwarzmarkt machten sie für die meisten unerschwinglich. Wer dennoch ein Auto besaß, hegte und pflegte es liebevoll – es war nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Stück Freiheit und Unabhängigkeit.

Für die meisten Menschen waren öffentliche Verkehrsmittel die einzige Option. Straßenbahnen, Busse und Bahnen waren oft überfüllt, aber auch ein Ort der Begegnung und des Austauschs. In den Warteschlangen und während der Fahrten teilten die Menschen ihre Geschichten, Träume und Hoffnungen miteinander.

Das Fahrrad war ein weiteres wichtiges Fortbewegungsmittel. Es war nicht nur praktisch, sondern auch eine Quelle der Freiheit. Mit dem Fahrrad konnte man die Stadtgrenzen überwinden und sich auf Entdeckungsreise begeben, sei es in der Natur oder in den kleinen versteckten Ecken der Stadt.

Die DDR-Regierung investierte in den Ausbau des Straßennetzes und der öffentlichen Verkehrsmittel, aber es gab auch Einschränkungen. Reisen in den Westen waren stark reglementiert, und für internationale Reisen benötigte man spezielle Genehmigungen.

Trotz aller Herausforderungen war die Mobilität in der DDR ein Ausdruck von Beharrlichkeit, Gemeinschaftssinn und Lebensfreude. Die Menschen fanden Wege, sich fortzubewegen und sich miteinander zu verbinden, und trotz aller Grenzen und Barrieren waren sie stets mobil – auf der Suche nach Freiheit, Abenteuer und neuen Horizonten.

Karneval und DDR-Nostalgie: Humor im Generationen-Dialog

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In einem humorvollen Sketch wird der Spagat zwischen ausgelassenem Karneval und der nüchternen Realität der DDR-Zeit meisterhaft in Szene gesetzt. Dabei verschmelzen traditionelle ostdeutsche Lebensgefühle mit der bunt-exzentrischen Welt des Karnevals – ein Zusammenspiel, das nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken anregt.

Der Sketch basiert auf einem lockeren Dialog, in dem die typische ostdeutsche Elternfigur (Mutti) in ihrer pragmatischen und manchmal unnachgiebigen Art auftritt. Während die Karnevalskultur für ihre bunten, ausgelassenen Rituale bekannt ist, vermittelt der Dialog eine gewisse nüchterne Betriebsmentalität. Elemente wie „Luftschlangen“ und eine „Büttenrede“ stehen exemplarisch für den Karneval, werden jedoch im Kontext einer Vergangenheit präsentiert, in der Schichtarbeit und Betriebsdisziplin den Alltag prägten. Dieses Zusammenspiel schafft ein amüsantes Spannungsfeld zwischen Tradition und moderner Lebensfreude.

Der Humor des Beitrags entsteht vor allem durch das Spiel mit den Erwartungen. Während der Karneval normalerweise für ausgelassene Feststimmung und humorvolle Übertreibungen steht, sorgt die nüchterne Kommentierung der DDR-Elternfiguren für einen unerwarteten, fast schon satirischen Kontrast. Sprachlich brilliert der Sketch durch pointierte Redewendungen und situative Wortspiele, die sowohl den typischen ostdeutschen Sprachgebrauch als auch die überzogene Komik des Karnevals auf humorvolle Weise beleuchten.

Der Beitrag lädt den Zuschauer ein, in Erinnerungen an eine vergangene Zeit zu schwelgen, ohne dabei den Blick für das Absurde zu verlieren. Die humorvolle Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, inklusive Anspielungen auf Schichtarbeit und Betriebskultur, wird in einen zeitgenössischen Kontext gestellt. So entsteht eine Brücke zwischen den Generationen, die nicht nur nostalgische Gefühle weckt, sondern auch aktuelle gesellschaftliche Dynamiken reflektiert. Die überspitzte Darstellung der alten und neuen Lebenswelten bietet dabei eine charmante Möglichkeit, über die Veränderungen der Zeiten zu schmunzeln.

Der Sketch „Karneval, aber mit ostdeutschen Eltern“ ist mehr als nur eine humoristische Parodie: Er fungiert als Spiegel, der vergangene und heutige Lebenswelten in einem humorvollen Dialog vereint. Mit einer gelungenen Mischung aus Nostalgie, Ironie und Situationskomik gelingt es dem Beitrag, sowohl die Eigenheiten der DDR als auch die traditionsreiche Karnevalskultur auf erfrischende und unterhaltsame Weise zu präsentieren.

Minol Pirol und der Farbkampf: Die Kult-Tankstelle der DDR im Wandel

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Der Minol Pirol war das beliebte Maskottchen der VEB Minol, einer Tankstellenkette, die 1956 in der ehemaligen DDR gegründet wurde. Die VEB Minol war in den 50er und 60er Jahren eine feste Größe im Tankstellengeschäft, bekannt für ihre charakteristischen Farben Rot und Gelb, die das Erscheinungsbild ihrer Tankstellen prägten. Doch diese Farbkombination sollte in den 1990er Jahren zu einem Streit führen, der das Design der Marke grundlegend veränderte.

Als die Shell in den neuen Bundesländern Fuß fasste, wurde eine ähnliche Farbgebung für ihre Tankstellen verwendet. Dies führte zu einer rechtlichen Auseinandersetzung zwischen Shell und Minol, da Shell die Ähnlichkeit als unzulässig ansah. Die Streitigkeiten endeten damit, dass Minol im Jahr 1993 gezwungen wurde, ihr Design zu ändern. Das charakteristische Rot-Gelb wich einem neuen lila Farbschema, das die Tankstellen ab diesem Zeitpunkt prägte.

In den frühen Jahren der Tankstellen waren Preisänderungen eine Seltenheit. Die Preise wurden am „Preisturm“ angezeigt, und ein Liter Vergaserkraftstoff VK88 kostete konstant 1 Mark 50 Pfennig. Diese Stabilität ermöglichte es, die Preise auf gedruckten Listen zu veröffentlichen, da sich kaum etwas änderte.

Ein weiteres Merkmal der Minol-Tankstellen war ihre Öffnungszeiten: Sie waren nachts und am Wochenende geschlossen. In den 50er und 60er Jahren war dies eine übliche Praxis, da viele Tankstellen außerhalb der regulären Geschäftszeiten nicht geöffnet waren.

Ein besonders faszinierendes Element der Minol-Tankstellen waren die Nachttankautomaten. Um diese zu nutzen, musste man einen Schlüssel für 7 Mark 50 erwerben, mit dem man eine Box öffnen konnte. In der Box befand sich ein 5-Liter-Kanister am Stahlseil, mit dem man das Auto betanken konnte. Der Schlüssel konnte nur am Montagmorgen von einem Mitarbeiter geöffnet werden, um das Geld zu entnehmen. Für größere Kanister waren entsprechend mehr Schlüssel erforderlich: Ein 10-Liter-Kanister benötigte zwei Schlüssel, ein 20-Liter-Kanister sogar sechs Schlüssel, was einem Preis von 30 Mark entsprach. Besonders für Frauen war der Umgang mit den schweren 20-Liter-Kanistern oft problematisch, und ein Ausgießer war nötig, um das Benzin in den Tank des Autos zu füllen.

Die Minol hatte auch eine eigene Publikation, den „Minolratgeber“. In der Ausgabe von 1963 wurde der erste Nachttankautomat vorgestellt, und Fräulein Renate erklärte die Technik dieser innovativen Einrichtung.

Ein weiteres Serviceangebot der Minol war die Abgabe von alten Zündkerzen. Defekte Kerzen konnten gegen 90 Pfennig eingetauscht werden, während eine neue, regenerierte Zündkerze 2,50 Mark kostete. Die regenerierten Kerzen sahen äußerlich wie neue Kerzen aus und reflektierten den hohen Wert, den Minol auf Nachhaltigkeit legte.

Eine interessante Anekdote aus dieser Zeit ist, dass die Shell, nachdem sie in den neuen Bundesländern Fuß gefasst hatte, tatsächlich Kontakt zu Minol aufnahm und sie bat, ihre Farben zu ändern. Diese Anfrage führte dazu, dass Minol im Jahr 1993 ihr Design auf ein lila Farbschema umstellte. Der Wechsel wurde mit einer großen Tombola gefeiert, bei der der Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher, damals noch bei Benetton, als Werbeträger für Minol auftrat.

Die Minol-Tankstellen hatten auch einen einzigartigen Zapfprozess für Öl. An speziellen Öltankstellen konnten Kunden verschiedene Ölsorten in Flaschen abfüllen. Um den Automaten zu nutzen, musste ein 80-Pfennig-Schein eingeworfen werden. Da es kein Wechselgeld gab, erhielt man für jeden Schein eine Flasche Öl und 20 Pfennig Rückgeld. Es kam jedoch vor, dass manche Menschen versuchten, die Automaten zu manipulieren, das Bargeld zu stehlen und das Öl zurückzulassen.

Die VEB Minol war nicht nur eine Tankstellenkette, sondern ein Teil der Alltagskultur der DDR, deren Geschichte und besondere Merkmale noch heute Erinnerungen wecken und Einblicke in die Vergangenheit der Tankstellenbranche geben.

Angriffe auf die Gedenkkultur: Warum Erinnerung heute mehr denn wehrhaft sein muss

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In einer Zeit, in der Rechtsextremismus in Europa erstarkt, Verschwörungsmythen blühen und die Grenzen des Sagbaren verschoben werden, stehen Orte der Erinnerung an die NS-Verbrechen im Zentrum eines gesellschaftlichen Kampfes. Gedenkstätten wie Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau sind längst nicht mehr nur Friedhöfe der Vergangenheit – sie sind zu Foren der Demokratiebildung geworden, die gegen Geschichtsrevisionismus und Hass mobilisieren. Doch dieser Auftrag wird zunehmend gefährdet: durch physische Angriffe, digitale Hetze und eine politische Kultur, die extremistische Narrative duldet.

Gedenkstätten als Bollwerk gegen das Vergessen
Die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 markiert einen Schlüsselmoment der Erinnerungskultur. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, beschreibt die damalige Situation als „Befreiung von innen und außen“: Während die SS floh, übernahmen politische Häftlinge die Kontrolle, kurz bevor US-Truppen eintrafen. Doch dieser historische Fakt wurde in der DDR zum Mythos der „Selbstbefreiung“ verklärt – ein Beispiel dafür, wie Erinnerung instrumentalisiert werden kann.

Heute dienen Gedenkstätten einer anderen Aufgabe: Sie sind Archive des Grauens, die Beweise gegen Leugnung und Verharmlosung sichern. In Buchenwalds Archiv lagern über eine Million Dokumente – Todeslisten, SS-Berichte, Häftlingsbriefe. „Jedes dieser Papiere widerlegt die Behauptung, der Holocaust sei eine Erfindung“, betont Wagner. Doch diese Beweiskraft wird angegriffen. Neonazis sägten in Weimar 50 Gedenkbäume ab, die für ermordete Häftlinge gepflanzt wurden. „Das ist ein symbolischer Mord – als würde man die Opfer ein zweites Mal töten“, so Wagner.

Die neue Welle des Rechtsterrorismus: Von Drohbriefen bis zur AfD
Die Angriffe auf die Gedenkkultur sind vielfältig:

Physische Gewalt: Hakenkreuze auf Gedenktafeln, zerstörte Ausstellungen, Brandsätze.

Digitale Hetze: Nach einer Kampagne der AfD gegen die Gedenkstätte Buchenwald erhielt Wagner Morddrohungen – darunter ein manipuliertes Foto, das ihn am Galgen zeigt.

Politische Unterwanderung: Die AfD verbreitet geschichtsrevisionistische Narrative, um ihre Agenda zu legitimieren. Björn Höcke spricht vom „Denkmal der Schande“ in Berlin, AfD-Abgeordnete wie Hans-Thomas Tillschneider relativieren die NS-Verbrechen als „Vogelschiss“.

Besonders perfide ist die Strategie, Alliiertenverbrechen mit dem Holocaust gleichzusetzen. Der Mythos der „Rheinwiesenlager“ – eine angebliche Million ermordeter deutscher Kriegsgefangener 1945 – wird gezielt gestreut, um eine Täter-Opfer-Umkehr zu inszenieren. „Solche Mythen sind kein Zufall“, sagt Wagner. „Sie sollen die deutsche Schuld relativieren und die Erinnerungskultur diskreditieren.“

Die Mitte als Komplizin? Wie Politik und Medien extremistische Narrative normalisieren
Doch der Rechtsextremismus gedeiht nicht im luftleeren Raum. Wagner kritisiert eine „Kultur des Wegschauens“ in der Gesellschaft – und eine Politik, die sich an AfD-Narrativen orientiert. Das CDU-Wahlprogramm 2025 erwähnt den Nationalsozialismus kaum, stattdessen wird „Identität“ beschworen. Thüringens CDU verhandelt mit der AfD über Posten wie die Wahl des geschichtsrevisionistischen AfD-Abgeordneten Hansjörg Prophet zum Landtagsvizepräsidenten – ausgerechnet am Tag nach der Gedenkfeier für NS-Opfer.

„Wenn demokratische Parteien mit Rechtsextremen paktierten, verraten sie die Überlebenden“, sagt Wagner. Auch Medien tragen Mitverantwortung: Indem Migration pauschal als „Sicherheitsrisiko“ gerahmt wird, übernehmen Redaktionen unbewusst die Rhetorik der extremen Rechten.

Bildung als Waffe: Wie Gedenkstätten gegen Mythen kämpfen
Gegen diese Flut an Desinformation setzen Gedenkstätten auf Aufklärung. Die Website geschichte-statt-mythen.de entlarvt Legenden wie die angeblichen „linken Nationalsozialisten“ oder den „Bombenholocaust“. In Workshops lernen Jugendliche, wie sie Hate Speech erkennen – und warum Sätze wie „Die Opfer von Dresden waren wie die von Auschwitz“ nicht nur falsch, sondern gefährlich sind.

Doch die Ressourcen sind knapp: „Wir haben 1,5 Stellen für ein Archiv mit Millionen Dokumenten“, klagt Wagner. Innovative Formate wie Virtual-Reality-Touren durch das historische Lager oder TikTok-Videos, die Opferbiografien erzählen, könnten junge Generationen erreichen – doch dafür fehlt oft das Geld.

Verbot der AfD? Eine demokratische Zwickmühle
Die Debatte um ein AfD-Verbot spaltet die Gesellschaft. Wagner unterstützt eine Prüfung, warnt aber vor den Risiken: „Ein gescheitertes Verfahren würde die AfD als Märtyrer stilisieren.“ Dennoch sei klar: „Wer die Würde der Opfer verhöhnt, wer die Lehren aus Auschwitz leugnet, gefährdet das Fundament unserer Demokratie.“

Rechtsexperten verweisen auf die NPD-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2017: Die Partei durfte nicht verboten werden, weil sie als „politisch bedeutungslos“ galt. Bei der AfD, die in Umfragen bei 20 % liegt, wäre diese Logik absurd. Ein Verbot müsste daher nicht nur ihre Verfassungsfeindlichkeit beweisen, sondern auch klären, wie ihre Wähler:innen in die Demokratie zurückgeholt werden können.

Zivilcourage im Alltag: Warum Schweigen keine Option ist
Doch Gesetze allein reichen nicht. Wagner appelliert an die Zivilgesellschaft: „Jede:r kann im Alltag Zeichen setzen.“ Er erzählt von einem Abend in einer Weimarer Pizzeria, als NS-Lieder aus einer Wohnung dröhnten. Erst nach seinem Anruf bei der Polizei wurde die Musik abgestellt – doch die anderen Gäste hatten geschwiegen. „Warum meldet sich niemand? Warum dulden wir solche Provokationen?“

Es sind oft kleine Gesten: Eine Lehrerin, die mit ihrer Klasse Stolpersteine putzt. Ein Rentner, der rechtsextreme Schmierereien übermalt. Oder Social-Media-Nutzer:innen , die Hasskommentare melden statt zu ignorieren. „Demokratie lebt davon, dass wir sie täglich verteidigen – nicht nur am 27. Januar“, sagt Wagner.

Schluss: Erinnerung ist kein Ritual – sie ist ein Auftrag
Die Angriffe auf die Gedenkkultur offenbaren eine gesellschaftliche Schieflage: Während Überlebende wie Esther Bejarano oder Anita Lasker-Wallfisch bis zuletzt vor Rechtsextremismus warnten, verdrängen viele Deutsche die Kontinuitäten des Hasses. Doch Gedenkstätten sind keine Museen der Schuld – sie sind Labore der Zukunft.

In Buchenwald arbeiten Freiwillige aus ganz Europa zusammen, darunter Nachfahren von Tätern und Opfern. Sie pflegen das Gelände, führen Zeitzeugengespräche – und diskutieren über Antisemitismus heute. „Hier lernen junge Menschen, was passiert, wenn Menschenrechte verhandelbar werden“, sagt Wagner.

Am Ende geht es um mehr als die Vergangenheit. Es geht darum, wer wir sein wollen: Eine Gesellschaft, die wegschaut, wenn Unrecht geschieht? Oder eine, die aus der Geschichte lernt – und sich traut, laut „Nie wieder!“ zu sagen, wenn es darauf ankommt? Die Antwort liegt bei uns allen.

Verwunschener Glanz – Die vergessene Klinik für Rheumatologie in Thüringen

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Mitten im Osten Thüringens, an einem kleinen Bergrücken oberhalb der Bundesstraße, erhebt sich ein denkmalgeschützter Gelbklinkerbau, der seit über einem Jahrhundert als stiller Zeuge vergangener medizinischer Innovationen und gesellschaftlicher Umbrüche dient. Ursprünglich 1904 als Müttergenesungsheim errichtet, wurde das imposante Gebäude einst zum Ort der Erholung und Gesundung. Heute wirkt es wie eine verlassene Festung, ein Lost Place, der von Geschichten, missglückten Sanierungsplänen und dem schleichenden Verfall erzählt.

Ein historischer Rückblick und moderner Stillstand
Im frühen 20. Jahrhundert galt das Müttergenesungsheim als fortschrittlicher Ansatz in der Gesundheitsvorsorge. Die prächtigen Gelbklinkerfassaden und das großzügige Anwesen machten den Bau zu einem Symbol des aufkeimenden medizinischen Fortschritts. Doch trotz seines ambitionierten Beginns steht die Klinik seit knapp 20 Jahren ungenutzt und verliert langsam ihre einstige Funktionalität.

Bereits 2011 geriet der Ort ins Rampenlicht: Es sollte eine Versteigerung im Berliner Humboldt-Carré erfolgen, bei der ein Mindestgebot von 25.000 € festgelegt wurde. Rund 20 Kaufinteressenten kamen zusammen, doch am Ende blieb der erhoffte Handel aus – das zu diesem Zeitpunkt noch gut erhaltene Objekt setzte seinen Dornröschenschlaf fort.

Unveränderte Zeugen vergangener Zeiten
Beim Betreten des Gebäudes fallen sofort die verbliebenen Relikte einer aktiven Klinikzeit auf. Im Inneren sind noch zahlreiche Betten verteilt, und die halbe Küche mit einem Konvektomat steht fortwährend als stummer Zeuge vergangener Mahlzeiten. Ebenso beeindruckend ist die vollständig erhaltene Mess- und Regelelektronik der Becken und Wannen, die einst für die präzise Überwachung der Therapiebereiche sorgte. Diese Details geben einen eindrucksvollen Einblick in die technische Ausstattung und den Anspruch, den die damalige Klinik hatte.

Gescheiterte Sanierungspläne und gesammelte Hoffnungen
Ein neuer Anlauf sollte 2016 erfolgen, als ein Schweizer Investor den Umbau der ehemaligen Akutklinik zu einer modernen Pflegeeinrichtung in Aussicht stellte. Die Pläne waren ambitioniert: An das denkmalgeschützte Hauptgebäude sollte ein mindestens dreimal so großer Neubau angebunden werden. Die Vorbereitungen schienen nahezu abgeschlossen – Beschlüsse waren gefasst, der Bürgermeister zeigte seinen Zuspruch, und selbst die Denkmalbehörden wurden überzeugt. Zudem war der Zukauf eines weiteren Grundstücks avisiert, um die Umgestaltung zu vervollständigen. Doch trotz aller Hoffnungen und Planungen steht das Objekt bis heute leer, während offiziell keine Gründe für diesen stillstehenden Neubeginn bekannt sind. Der weitläufige Place mit seinen 42.000 m² inklusive intaktem Mischwald wird weiterhin zum Verkauf angeboten.

Räumliche Strukturen und vergessene Details
Die Struktur des Gebäudes offenbart ein durchdachtes, wenn auch verfallenes Raumkonzept:

  • Keller: Hier befinden sich Tauch- und Bewegungsbecken, Duschen, Therapieräume und Behandlungszimmer. Weiterhin bietet der Keller einen Heizraum mit Öllager sowie weitere Lagerräume – ein unterirdisches Zeugnis der funktionalen Infrastruktur der Klinik.
  • Erdgeschoss: Der Empfangsbereich mit einem breiten Treppenhaus, angrenzenden Büros und Ärztezimmern zeugt von der einstigen Geschäftigkeit. Eine große Küche mit Spülbereich und ein geräumiger Speisesaal, in dem noch die prächtige Stuckdecke prangt, verleihen dem Gebäude einen fast nostalgischen Glanz. Ein Durchgang führt in den angrenzenden Wintergarten – obwohl im Zuge moderner Sanierungsversuche unpassende Fenster mit Plastikrahmen eingesetzt wurden, die dem historischen Charakter zuwiderlaufen.
  • Obergeschoss und Mansardengeschoss: Im Obergeschoss befinden sich 14 Patientenzimmer, während das Mansardengeschoss 13 Räume beherbergt, die einst als Beherbergung der Angestellten dienten. Diese Etagen sprechen Bände über den alltäglichen Betrieb und die fürsorgliche Versorgung, die hier einst möglich war.

Ein Ort zwischen Legende und Realität
Die verlassene Klinik für Rheumatologie in Thüringen ist mehr als nur ein verfallenes Gebäude – sie ist ein Mahnmal, das von ambitionierten Plänen, gescheiterten Neubeginnversuchen und dem schmerzhaften Verfall erzählt. Jeder Raum, jede vergilbte Tapete und jedes technische Relikt zeugt von einer Zeit, in der Gesundheit und Genesung ein greifbar modernes Konzept waren. Doch heute stellt sich die Frage: Wie lange soll dieses kulturelle Erbe noch im Schatten vergangener Träume verharren?

Während Fotografen, Urban Explorer und Geschichtsinteressierte weiterhin von diesem Ort angezogen werden, bleibt die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Gebäudes bestehen – sei es durch eine neue visionäre Nutzung oder einen zustehenden Denkmalwert, der wieder ins Licht gerückt wird. Bis dahin steht das Objekt als stiller Zeuge einer bewegten Vergangenheit und der tragischen Ironie des Verfalls mitten im Herzen Thüringens.

Erfurt 1986 – In keiner anderen Stadt Deutschlands gab es soviele Klöster und Kirchen

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Mitten im Herzen Thüringens liegt Erfurt, eine Stadt, in der sich die Spuren einer jahrtausendealten Geschichte mit dem pulsierenden Alltag einer sozialistischen Gesellschaft vereinen. Im Jahr 1986 bot Erfurt nicht nur einen Rückblick auf seine bewegte Vergangenheit, sondern auch ein lebendiges Bild des Lebens unter der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Dieser Beitrag beleuchtet die geographischen Besonderheiten, die historische Entwicklung, wirtschaftliche Aufschwünge, kulturelle Höhepunkte und die alltäglichen Herausforderungen einer Stadt, die zwischen Tradition und Moderne pendelt.

Historische Wurzeln und geographische Besonderheiten
Erfurt liegt eingebettet in ein weites Tal, dessen umliegende Berge nicht nur als malerische Kulisse dienen, sondern der Stadt auch natürlichen Schutz vor Kälte und starkem Wind bieten. Der fruchtbare Boden, geprägt von Muschelkalk und einer dicken Humusschicht, machte die Region von jeher zu einem attraktiven Standort für die Landwirtschaft. Bereits Martin Luther prägte den Begriff „Schmalzgrube“, um die Fruchtbarkeit dieser Gegend zu unterstreichen. Die natürlichen Gegebenheiten förderten nicht nur den landwirtschaftlichen Sektor, sondern ebneten den Weg für Erfurts Entwicklung zu einem bedeutenden Handels- und Wirtschaftszentrum.

Die Anfänge der Stadt reichen bis ins 8. Jahrhundert zurück, als der heilige Bonifatius auf dem Domhügel eine Eiche fällte und an deren Stelle eine erste Holzkirche errichten ließ. Diese Handlung symbolisierte den Beginn der Christianisierung einer zuvor heidnischen Region und ebnete den Weg für die spätere Anerkennung Erfurts durch den Papst, der die Stadt zur Metropole erhob und das Fundament für das spätere Bistum legte. Trotz der wechselnden Herrschaft, insbesondere der langen Phase unter dem Einfluss des Erzbistums Mainz, blieb Erfurts geographische und kulturelle Bedeutung stets ungebrochen.

Handel und wirtschaftlicher Aufschwung
Schon früh erkannte Karl der Große die strategische Bedeutung der Stadt. Erfurt, an der Gera gelegen, entwickelte sich rasch zu einem zentralen Handelsplatz zwischen Franken und den benachbarten slawischen Gebieten. Bedeutende Handelswege wie die Via Regia, die West- und Osteuropa verband, zogen Kaufleute und Handwerker in die Stadt. Die Krämerbrücke, ein Symbol der wirtschaftlichen Blüte, wurde zum Knotenpunkt des regen Warenverkehrs, der den Wohlstand und die Eigenständigkeit der Bürger förderte.

Besonders prägend war der Handel mit der Waidpflanze, aus der ein begehrter blauer Farbstoff gewonnen wurde. Im Mittelalter brachte der Anbau und die Verarbeitung der Waid den Erfurtern nicht nur erheblichen wirtschaftlichen Reichtum, sondern stärkte auch ihre politische Position gegenüber dem Erzbistum Mainz. Die einstige Blütezeit des Waidhandels wurde zu einem wichtigen Kapitel in der Geschichte der Stadt – eine Tradition, die fast in Vergessenheit geriet, bevor in jüngerer Zeit durch den Malermeister Wolfgang Feiger ein Wiederaufleben dieses Wirtschaftszweiges angestrebt wurde. Die Rückbesinnung auf diese alte Handelsware symbolisiert den tief verwurzelten Bezug der Stadt zu ihren historischen wirtschaftlichen Grundlagen.

Die Universität Erfurt – Hort des Wissens und kultureller Mittelpunkt
Ein weiterer Meilenstein in Erfurts Geschichte ist die Gründung der Universität im Jahr 1392. Als eine der ältesten Hochschulen Europas zog sie Gelehrte, Juristen, Mediziner und Theologen aus allen Teilen des Kontinents an. Die Universität war nicht nur ein Ort der akademischen Ausbildung, sondern auch ein Schmelztiegel des intellektuellen Austauschs. Schon 1501 schrieb sich Martin Luther hier ein, was der Institution zusätzlichen Glanz verlieh.

Die umfangreiche Bibliothek der Universität, bereichert durch bedeutende Stiftungen wie jene des Amplonius Rating de Berca, unterstrich den Stellenwert von Wissen und Bildung in Erfurt. Gleichzeitig wurde die Stadt zu einem Zentrum des deutschen Humanismus. In der Engelsburg fanden hitzige Debatten und kritische Schriften ihren Nährboden – unter anderem verfasste Crotus Rubianus die „Dunkelmännerbriefe“, in denen er scharf die scholastischen Lehrmeinungen sowie die Korruption und Sittenlosigkeit seiner Zeit anprangerte. Dieses kulturelle Leben und der unerschütterliche Glaube an den Fortschritt trugen wesentlich dazu bei, Erfurt als intellektuelles Zentrum im Herzen der DDR zu etablieren.

Napoleon und der Schatten vergangener Epochen
Im Jahr 1808 verwandelte sich Erfurt vorübergehend in einen Schauplatz europäischer Machtspiele, als Napoleon Bonaparte die Stadt für einen prunkvollen Fürstenkongress auswählte. Unter französischer Besatzung wurde Erfurt zum „Domaine réservé à l’Empereur“ erklärt – ein Status, der die strategische und symbolische Bedeutung der Stadt unterstrich. Inmitten des Prunks und der politischen Inszenierungen fand auch die legendäre Begegnung zwischen Napoleon und dem Dichter Goethe statt, ein Zusammentreffen, das in den Tagebüchern des Literaten seinen Ausdruck fand. Diese Episode, so kurz sie auch gewesen sein mag, wirft ein interessantes Licht auf Erfurts Fähigkeit, auch in bewegten Zeiten als Treffpunkt kultureller und politischer Eliten zu fungieren.

Leben in der DDR 1986 – Alltag, Arbeit und der Traum von Veränderung
Der Blick in das Jahr 1986 zeigt Erfurt als eine Bezirksstadt der DDR mit rund 216.000 Einwohnern, in der der Alltag von den Zwängen und Herausforderungen des sozialistischen Systems geprägt war. Auf den Straßen und in den Fabrikhallen lebten Menschen, die zwischen den Idealen des Sozialismus und den individuellen Träumen und Wünschen balancierten.

Im industriellen Herz der Stadt spielte der VEB Erfurt Elektronik eine zentrale Rolle. Arbeiterinnen wie Susanna Günschmann, die als Elektromonteurin tätig war, und Frau Kellner, die seit 1969 in diesem Betrieb arbeitete, standen exemplarisch für den typischen DDR-Arbeitsalltag. Beide Frauen verkörperten den täglichen Spagat zwischen Beruf, Familie und den begrenzten Möglichkeiten, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Während Susanna in einem kleinen Zimmer im Neubaugebiet am Moskauer Platz lebte und von einer eigenen Wohnung träumte – und sogar den Wunsch hegte, ein Café zu eröffnen – musste Frau Kellner nach der Geburt ihrer Söhne eine längere Babyzeit einlegen. Diese persönlichen Geschichten spiegeln die Realität vieler DDR-Bürger wider, die trotz staatlicher Garantien oft unter Wohnungsmangel und eingeschränkten Karrierechancen litten.

Der 7. Oktober, der Gründungstag der DDR, wurde in Erfurt mit feierlicher Zeremonie begangen. Das markante Glockengeläut vom alten Bartholomäus-Turm und die Klänge des Orgelspiels – gespielt von Martin Stephan – verliehen dem Tag eine feierliche Atmosphäre. Solche Momente boten den Bürgern nicht nur eine Gelegenheit, die sozialistische Gemeinschaft zu feiern, sondern auch, sich für einen kurzen Augenblick der historischen Kontinuität und des kollektiven Erinnerns hinzugeben.

Gartenbau als Tradition und Zukunftsvision
Erfurt war stets auch als „Blumenstadt“ bekannt – ein Titel, der auf eine lange Tradition im Gartenbau zurückgeht. Christian Reichert, der als Begründer des erwerbsmäßigen Gartenbaus in der Stadt gilt, prägte diese Tradition maßgeblich. Mit der Einführung des Blumenkohls und der Sammlung von rund 500 Sämereien legte Reichert das Fundament für eine blühende Gartentradition, die weit über die Stadtgrenzen hinaus Anerkennung fand.

Das VEG Saatzucht Zierpflanzen Erfurt, ein volkseigenes Gut, setzte diese Tradition in den 1980er-Jahren fort. Auf 200 Hektar Feldern und in 25 Hektar Gewächshäusern wurden etwa 600 Zierpflanzensorten kultiviert und vermehrt. Mit rund 1100 Mitarbeitern, darunter zahlreiche hochqualifizierte Fachkräfte, entwickelte sich der Betrieb zu einem wichtigen Wirtschaftszweig und innovativen Zentrum im Gartenbau. Die Internationale Gartenbauausstellung (IGA), die auf dem Gelände der ehemaligen Züriachsburg stattfand, zog Einheimische und Touristen gleichermaßen an und stand exemplarisch für die gelungene Verbindung von Tradition und modernem Fortschritt.

Kulturelle Vielfalt und urbanes Leben
Die historische Architektur Erfurts prägt bis heute das Stadtbild. Bürgerhäuser wie das Haus zum Breiten Herd, der Rote Ochse und das Haus zur güldenen Krone erinnern an vergangene Zeiten und verleihen der Stadt einen besonderen Charme. Gleichzeitig sind es diese historischen Bauten, die den Bewohnern als Schauplätze für soziale Begegnungen, Feste und kulturelle Veranstaltungen dienen.

Kulinarisch hat Erfurt ebenfalls einiges zu bieten: Der Thüringer Kartoffelkloß, eine Spezialität der regionalen Küche, ist nicht nur ein Gaumenschmaus, sondern auch ein Symbol der Verbundenheit mit der heimischen Kultur. Überdies trugen Betriebe wie die Schuhfabrik und der VEB Erfurt Elektronik wesentlich zur städtischen Infrastruktur bei, indem sie Arbeitsplätze schufen und den sozialen Zusammenhalt in der DDR förderten.

Die Mischung aus historischer Kulisse und sozialistischer Moderne verlieh Erfurt 1986 einen unverwechselbaren Charakter. Die Stadt war nicht nur ein Ort, an dem alte Traditionen lebendig gehalten wurden, sondern auch ein Schauplatz, an dem neue Lebensentwürfe und wirtschaftliche Modelle ausprobiert wurden. Die Bürger waren sich der Herausforderungen bewusst, die das System mit sich brachte, doch sie strebten trotz aller Widrigkeiten danach, ihre individuellen Träume zu verwirklichen und ihre Stadt zu einem Ort des Fortschritts und der kulturellen Vielfalt zu machen.

Erfurt im Spiegel der Zeit
Erfurt 1986 präsentiert sich als eine Stadt im ständigen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Historische Wurzeln, die bis in das 8. Jahrhundert zurückreichen, und Ereignisse wie Napoleons Fürstenkongress mischen sich mit den realen Lebensbedingungen der DDR-Bürger, die in ihren Arbeitswelten, Familien und persönlichen Ambitionen ihren Platz in einer planwirtschaftlich geprägten Gesellschaft suchten.

Ob in den stillen Gassen, die von jahrhundertealter Architektur erzählen, oder in den geschäftigen Produktionshallen moderner Industrieanlagen – Erfurt war 1986 ein Ort, an dem Tradition und Moderne aufeinandertrafen. Die Universität als Hort des Wissens, der florierende Gartenbau, die lebendigen Handelstraditionen und der tägliche Kampf um bessere Lebensbedingungen zeugen von einem facettenreichen Bild, das weit über reine Ideologie hinausgeht.

Dieser facettenreiche Mix aus Geschichte, Wirtschaft und Kultur machte Erfurt zu einem Symbol für den Wandel in der DDR. Es war eine Stadt, in der die Vergangenheit nicht nur lebendig gehalten wurde, sondern als Grundlage diente, um in eine hoffnungsvolle, wenn auch oft beschwerliche Zukunft zu blicken. Im Spannungsfeld zwischen sozialistischer Ordnung und individuellen Lebensentwürfen lag der wahre Geist Erfurts verborgen – ein Geist, der trotz aller Herausforderungen den Glauben an eine bessere Zukunft nicht verlor.

In einem Jahr, in dem der Wandel sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene spürbar war, erstrahlte Erfurt als Beispiel dafür, wie sich Geschichte und Alltag untrennbar miteinander verflechten lassen. Die Stadt bot ihren Bürgern nicht nur Sicherheit und Kontinuität, sondern auch Raum für Träume und Neuerungen – ein Zeugnis einer bewegten Vergangenheit, das den Weg in eine Zukunft ebnete, die so bunt und vielfältig war wie Erfurts eigene Geschichte.

Die Geschichte der Jungen Gemeinde (JG) Jena in den ’70er und ’80er Jahren

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Die Junge Gemeinde (JG) Stadtmitte Jena war eine kirchliche Jugendgruppe in der DDR, die eine bedeutende Rolle im Widerstand gegen das SED-Regime spielte. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte sich die JG Stadtmitte zu einem zentralen Treffpunkt für junge Menschen, die sich kritisch mit der politischen und gesellschaftlichen Situation in der DDR auseinandersetzten.

Entstehung und Entwicklung
Die JG Stadtmitte wurde als Teil der Evangelischen Kirche gegründet, um Jugendlichen eine alternative Freizeitgestaltung und Gemeinschaft zu bieten. Im Laufe der Zeit wandelte sie sich jedoch zu einem Zentrum der Opposition gegen die DDR-Regierung. Der Schutz der Kirche bot den Jugendlichen einen gewissen Freiraum, in dem sie sich austauschen und organisieren konnten, ohne sofort von der Stasi verfolgt zu werden.

Aktivitäten und Widerstand
Die Aktivitäten der JG Stadtmitte reichten von Diskussionsrunden über gesellschaftliche und politische Themen bis hin zu Konzerten und Kunstaktionen. Besonders in den 1980er Jahren wurde die JG zu einem wichtigen Ort für die Friedensbewegung und die Umweltbewegung in der DDR. Hier wurden Aktionen geplant und durchgeführt, die sich gegen die Militarisierung der Gesellschaft und die Umweltzerstörung richteten.

Repression durch die Stasi
Die Staatssicherheit (Stasi) betrachtete die JG Stadtmitte als gefährlich und versuchte, ihre Aktivitäten zu unterbinden. Mitglieder wurden überwacht, eingeschüchtert und teilweise verhaftet. Trotz dieser Repressionen gelang es der JG, ihre Arbeit fortzusetzen und immer wieder neue Mitglieder zu gewinnen.

Bedeutende Ereignisse
Ein markantes Ereignis war die Besetzung der Stasi-Zentrale in Erfurt im Dezember 1989, bei der auch Mitglieder der JG Stadtmitte eine wichtige Rolle spielten. Sie trugen dazu bei, dass zahlreiche Stasi-Akten gesichert und so die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ermöglicht wurden.

Einfluss und Vermächtnis
Die JG Stadtmitte Jena trug wesentlich zur politischen Wende 1989 bei. Ihre Mitglieder engagierten sich in den oppositionellen Bewegungen, die schließlich zum Sturz des SED-Regimes führten. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands blieb die JG Stadtmitte als Symbol für den friedlichen Widerstand und das Engagement junger Menschen gegen Unrecht und Unterdrückung in Erinnerung.

Heute wird die Geschichte der JG Stadtmitte in Jena und darüber hinaus als Beispiel für den mutigen Einsatz junger Menschen für Freiheit und Menschenrechte gewürdigt. Veranstaltungen und Ausstellungen erinnern an die bedeutende Rolle, die die JG im Kampf gegen die Diktatur in der DDR spielte.

Gier und Wasser – Das Drama unter Tage in Sangerhausen

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Tief unter dem Mansfelder Land, wo seit Jahrhunderten der Kupfererze waren, spielt sich ein weniger bekannter, aber ebenso dramatischer Kampf ab. Im historischen Thomas-Münzer-Schacht, einst das Herzstück der DDR-Kupferförderung, lieferten sich Bergleute einen täglichen Wettkampf gegen das unbändige Element Wasser.

Ein Erbe der Industriegeschichte
Der Thomas-Münzer-Schacht, in den 1940er Jahren errichtet, war mehr als nur ein Bergwerk. Er symbolisierte den industriellen Ehrgeiz einer jungen DDR, die auf eigene Rohstoffe angewiesen war. Tief in der Karstlandschaft Sangerhausens, wo das poröse Gestein das Eindringen von Wasser begünstigte, wurde hier täglich mit naturgewaltigen Herausforderungen gekämpft. Mit jahrzehntelanger Tradition und einem Stolz, der weit über den bloßen wirtschaftlichen Gewinn hinausging, prägten die Bergleute das Bild von Mut und Kameradschaft.

Der tägliche Kampf gegen das Unberechenbare
Seit den Anfängen des Kupferbergbaus war den Kumpeln bewusst, dass Wasser ihr größter Feind sein würde. Dennoch konnten sie sich nicht vorstellen, was in den 1980er Jahren kommen sollte: Im Jahr 1988 eskalierte die Situation dramatisch, als 33 Kubikmeter Wasser pro Minute in den Schacht strömten. Der Wasser- und Salzwassereinbruch zwang die Bergleute und die Verantwortlichen zu einem beispiellosen Einsatz, der Technik und Menschen an ihre Grenzen brachte.

Die Bergleute mussten sich täglich auf ihre Kameradschaft und ihr handwerkliches Können verlassen, um dem stetig zunehmenden Druck standzuhalten. Mit improvisierten Dämmen und hocheffizienten Pumpenanlagen versuchten sie, die Flut einzudämmen. In den engen Stollen unter Tage, wo schon Temperaturen von fast 30 Grad und extreme mechanische Belastungen an der Tagesordnung waren, entwickelte sich der Wettlauf gegen das Wasser zu einer existenziellen Herausforderung.

Technische Meisterleistungen und geologische Rätsel
Um der zunehmenden Bedrohung Herr zu werden, wurde eine 20 Kilometer lange Salzwasserleitung errichtet – ein Meisterstück, das in Rekordzeit von den Kumpeln selbst gebaut wurde. Mit modernster Technik und einem enormen logistischen Kraftakt gelang es, den salzhaltigen Zufluss teilweise in Schach zu halten. Doch die Geologie machte es den Verantwortlichen schwer: Eingefärbtes Wasser aus dem weit entfernt gelegenen Kelbra-Stausee bestätigte die Vermutung, dass sich unterirdische Wasserwege erstreckten. So strömte das Wasser über 15 Kilometer hinweg in den Schacht, ein geologisches Phänomen, das viele damals für undenkbar hielten.

Die Unwägbarkeiten des Karstgesteins – das sich über Jahrtausende unter dem Einfluss von Wasser veränderte – machten es erforderlich, akribisch jede noch so kleine Rissbildung und jedes Leck zu dokumentieren. Messungen mit einfachen Mitteln, wie einer Blechbüchse und einer Stoppuhr, erlaubten es, den Wasserzufluss genau zu erfassen. Dennoch blieb die Frage: Könnten die Bergleute ihren Schacht retten?

Das letzte Kapitel eines vergessenen Giganten
Mit der politischen Wende und einer plötzlich veränderten Weltwirtschaft verlor der einstige Gigant an Relevanz. Der ständig wachsende Wasserzufluss, die Korrosion der Leitungen und die immer strengeren Anforderungen der Industrie machten den Betrieb zunehmend unrentabel. Am 3. Juli 1992 musste der Thomas-Münzer-Schacht endgültig aufgegeben werden. Heute zeugt lediglich eine Bodenplatte von der einstigen Größe und dem unermüdlichen Einsatz der Bergleute, die über Generationen hinweg ihr Herzblut in den Bergbau gesteckt haben.

Die Geschichten der kargen Stollen, der drängende Druck des Wassers und der unerschütterliche Stolz der Kumpel sind heute Teil einer faszinierenden, aber tragischen Industriegeschichte. Sie mahnen an die Grenzen menschlicher Technik und an den beherrschenden Einfluss der Natur – und erinnern zugleich an eine Zeit, in der Mensch und Maschine Seite an Seite im Kampf gegen das Unbändigmögliche standen.