Es gibt Geschichten, die man nicht liest, ohne dass sie Spuren hinterlassen. Die Erinnerungen des damals elfjährigen Georg Franke gehören dazu. Als sein Vater im April 1945 den Auftrag erhält, Milch ins befreite KZ Buchenwald zu liefern, nimmt er seinen Sohn mit. Nicht, um ihn zu schonen, sondern damit er sieht. Damit er versteht.
Die amerikanischen Soldaten begleiten den Wagen mit entsicherten Gewehren. Nicht aus Misstrauen, sondern um die Überlebenden vor der Nahrung zu schützen, die sie töten konnte. Georg erlebt, wie ein Häftling gierig die letzten Tropfen aus einer leeren Kanne trinkt. Am nächsten Tag ist der Mann tot. Der Körper hatte jeden Funken Kraft verloren – selbst Milch wurde zur Gefahr. Hilfe konnte mörderisch sein.
Für das Dorf Liebstedt war Buchenwald ein Schatten am Waldrand. Man sah Kolonnen abgemagerter Gestalten, hörte Gerüchte, aber das Lager blieb ein Sperrgebiet, offiziell ein „Gefängnis für Schwerverbrecher“. Erst mit der Befreiung bricht diese Lüge auf. Georgs Vater fährt hinein, kommt stumm zurück – und beschließt, seine Kinder der Wahrheit auszusetzen. Er führt sie ins Krematorium. Zu den Öfen, über die nie gesprochen wurde.
Die Überlebenden selbst schweigen. Sie haben vergessen, dass man reden darf. Ein Kind mit zerstörtem Gesicht, ein Mann mit krumm verwachsenem Arm: Bilder, die sich dem Jungen unauslöschlich einprägen. Andere suchen verzweifelt nach einem Weg hinaus – ohne Heimat, ohne Orientierung. „Wenn ich jetzt raus darf, wo gehe ich dann hin?“ Die Freiheit beginnt für viele mit einer Leerstelle.
Georg Franke nennt sich später „den Milchjungen von Buchenwald“. Doch seine wahre Rolle war eine andere: Er war ein Zeuge der Befreiung – und der Abgründe, die danach sichtbar wurden. Sein Vater zwang ihn, hinzusehen. Die Frage bleibt: Tun wir es heute auch?