Was geschah wirklich mit den Nazis in der DDR?

Ein Gespräch aus dem Jahr 2014 mit Dieter Skiba, letzter Leiter der Hauptabteilung IX/11 des MfS, zuständig für die Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen, und seinem Mitarbeiter Reiner Stenzel. Moderator: Frank Schumann.

In der öffentlichen Erinnerung dominiert oft das Bild einer von Nazis weitgehend gesäuberten DDR, eines Staates, der sich konsequent antifaschistisch definierte und im Gegensatz zur Bundesrepublik rigoros mit NS-Tätern abrechnete. Doch wie stimmig ist dieses Selbstbild? Eine Podiumsdiskussion, veranstaltet vom Verlag Das Neue Berlin, brachte neue Einblicke in diesen Komplex. Auf dem Podium diskutierten der ehemalige MfS-Ermittler Dieter Skiba, der Historiker Reinhard Stenzel und der Publizist Frank Schumann über die tatsächliche Praxis der DDR im Umgang mit NS-Verbrechern.

Die Veranstaltung diente zugleich der Vorstellung des Buches „Was geschah mit den Nazis in der DDR?“ von Frank Schumann, das auf Basis von Stasi-Akten, Zeitzeugeninterviews und Archivfunden einen differenzierteren Blick auf den Umgang der DDR mit NS-Belasteten wirft.

Die Ausgangslage nach 1945
Sowohl in der sowjetischen Besatzungszone als auch später in der DDR war der Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten politisch aufgeladen. Während die BRD viele NS-belastete Funktionsträger in die junge Bundesrepublik integrierte – etwa Juristen, Lehrer, Mediziner und Ministerialbeamte –, verfolgte die DDR einen offiziell antifaschistischen Kurs, der sich in der Personalpolitik wie in der Symbolik manifestierte.

Verfolgung und Strafverfolgung in der DDR
Wie Frank Schumann in seinem Buch darlegt, verurteilten DDR-Gerichte zwischen 1949 und 1989 etwa 13.000 Personen wegen NS-Verbrechen. Dazu zählten ehemalige Gestapo-Mitarbeiter, KZ-Wärter, SS-Angehörige und auch Justizbeamte, die sich an Todesurteilen im NS-Staat beteiligt hatten. Dieter Skiba, der als Ermittler beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tätig war, schilderte konkrete Fälle aus seiner Praxis: So seien über Jahre hinweg verdeckt Informationen gesammelt worden, ehe es zur Anklage kam. Der Fokus lag auf Tätern, die an Morden, Deportationen und Folter beteiligt waren.

Die Podiumsteilnehmer betonten, dass es keine „weiße Weste“ der DDR in dieser Frage gebe. Auch in der DDR wurden ehemalige NSDAP-Mitglieder in die Verwaltung übernommen, teils aus Fachkräftemangel, teils aus politischem Kalkül. Doch im Unterschied zur BRD sei das Ausmaß geringer gewesen. Reinhard Stenzel verwies auf konkrete Beispiele und wies zugleich auf die Grenzen historischer Forschung hin: Viele Personalakten seien nach der Wende nicht mehr auffindbar oder unvollständig archiviert.

Politische Instrumentalisierung und Symbolpolitik
Ein wiederkehrendes Thema war die politische Instrumentalisierung des Antifaschismus in der DDR. Der Staat präsentierte sich als konsequenter Gegner des Faschismus, nutzte diesen Anspruch aber auch, um innenpolitische Gegner zu delegitimieren oder die eigene Staatsideologie zu stärken. So wurde die antifaschistische Identität der DDR nicht selten als moralischer Gegenentwurf zur BRD propagiert, wobei historische Aufarbeitung der Vergangenheit der Zweckdienlichkeit untergeordnet war.

Diese Haltung habe, so Skiba, auch eine kritische Selbstreflexion verhindert. „Man hatte eine Staatsdoktrin, aber keine offene Debattenkultur zur NS-Vergangenheit“, so der ehemalige MfS-Ermittler. Auch Stenzel wies darauf hin, dass trotz mancher ehrlicher Bemühungen eine unabhängige Forschung zu NS-Tätern in der DDR bis 1990 kaum möglich war.

Nachwirkungen und Deutungskämpfe nach 1990
Nach der deutschen Einheit wurden viele Ermittlungsakten des MfS zu NS-Tätern von westdeutschen Stellen wenig beachtet oder gar ignoriert. Frank Schumann sprach in diesem Zusammenhang von einem „zweiten Tod“ der Opfer: Die Geringschätzung der ostdeutschen Aufarbeitung habe auch dazu geführt, dass viele Täter nie mehr vor Gericht standen. Zudem sei der Diskurs nach 1990 dominiert gewesen vom Verdacht, die DDR habe NS-Verfolgung allein aus politischen Gründen betrieben.

Die Podiumsdiskussion plädierte daher für eine differenzierte Bewertung. Weder sei die DDR ein Hort vollkommener Entnazifizierung gewesen, noch die BRD ein reiner Hort der Straffreiheit. Vielmehr brauche es eine gemeinsame, gesamtdeutsche Erinnerungskultur, die auch die Leistungen der ostdeutschen Justiz im Umgang mit NS-Verbrechern anerkenne.

Ein notwendiger neuer Blick
Die Diskussion offenbarte, wie notwendig eine erneute und unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist. Gerade in Zeiten, in denen rechtsextreme Tendenzen erneut erstarken, ist die Erinnerung an die NS-Verbrechen und deren juristische Aufarbeitung von hoher Relevanz. Das Buch von Frank Schumann und die von ihm initiierten Gespräche leisten hierzu einen wichtigen Beitrag.

Die Geschichte der DDR im Umgang mit NS-Tätern ist komplex, widersprüchlich und politisch aufgeladen. Doch sie ist auch ein Stück gesamtdeutscher Erinnerungsgeschichte, das nicht weiter ignoriert oder vereinfacht dargestellt werden sollte.

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