Das Gespräch zwischen der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Journalistin Anne Will drehte sich um verschiedene Aspekte von Merkels politischer Karriere, ihre ostdeutsche Herkunft und die Veröffentlichung ihres neuen Buches. Der Abend bot einen tiefgehenden Einblick in das Denken einer der einflussreichsten Politikerinnen der Welt, die sowohl ihre strategischen Entscheidungen als auch ihre persönlichen Erfahrungen reflektierte.
Einstieg in das Gespräch: Humor und Lockerheit
Anne Will eröffnete das Gespräch mit einer lockeren Frage zur „Merkel-Raute“, dem ikonischen Handzeichen, das zu einem Markenzeichen von Angela Merkel geworden ist. Will schlug scherzhaft vor, dass ein sachlicher Podcast gut zu Merkels Persönlichkeit passen würde. Merkel nahm den humorvollen Einstieg auf und gestand, bisher noch keinen Podcast von Anne Will gehört zu haben. Diese lockere Eröffnung trug dazu bei, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, bevor die tiefergehenden Themen angesprochen wurden.
Merkels Buch: Ein Rückblick auf Politik und Persönlichkeit
Im Mittelpunkt des Gesprächs stand das von Merkel und ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann verfasste Buch. Merkel erklärte, dass das Werk nicht nur ihre politische Karriere beleuchte, sondern auch ihre persönliche Geschichte, insbesondere ihre Erfahrungen in der DDR. Das Buch sei ein Versuch, politische Prozesse und Entscheidungen für eine breitere Leserschaft verständlich zu machen. Es richte sich sowohl an Historiker als auch an Menschen, die sich für die Hintergründe politischer Entscheidungen interessieren. Merkel betonte, dass sie mit dem Buch ihre Perspektive auf wichtige Ereignisse und politische Weichenstellungen dokumentieren wolle, um künftigen Generationen ein besseres Verständnis für die Komplexität der Politik zu ermöglichen.
Ostdeutsche Herkunft: Ein prägendes Element ihrer Karriere
Ein zentraler Aspekt des Gesprächs war die Bedeutung von Merkels ostdeutscher Herkunft für ihre politische Karriere. Anne Will stellte die Frage, ob Merkel ihre ostdeutsche Identität in der westdeutsch geprägten politischen Landschaft der Bundesrepublik bewusst zurückgenommen habe. Merkel räumte ein, dass sie in den ersten Jahren ihrer Karriere sehr vorsichtig mit diesem Teil ihrer Biografie umgegangen sei. Sie erklärte, dass die Neugier auf ostdeutsche Biografien oft in Sensationsgier umschlug und sie vermeiden wollte, als „Exotin“ wahrgenommen zu werden.
Merkel schilderte, dass sie sich bewusst dafür entschieden habe, ihre ostdeutsche Herkunft in ihrer Rolle als Bundeskanzlerin nicht zu betonen, um nicht in eine Opferrolle gedrängt zu werden. Sie habe sich vorgenommen, keine „verletzte“ Person zu sein, die sich öffentlich über Benachteiligungen beklagt. Diese Haltung sei Teil ihrer Strategie gewesen, in einer westdeutsch dominierten politischen Landschaft akzeptiert und respektiert zu werden.
Sensible Themen und späte Klarstellungen
Anne Will sprach auch Merkels Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2021 an, in der sie deutlich auf die Benachteiligungen und Diskriminierungen von Ostdeutschen einging. Merkel erklärte, dass diese Rede von zwei Publikationen ausgelöst worden sei, in denen ihre ostdeutsche Biografie als „Ballast“ bezeichnet und ihr vorgeworfen wurde, nur eine „angelernte“ Bundesbürgerin zu sein. Diese Kritik habe sie dazu veranlasst, in ihrer letzten Rede als Bundeskanzlerin klar Stellung zu beziehen und ihre Erfahrungen offener zu thematisieren.
Auf die Frage, warum sie nicht schon früher so deutlich Position bezogen habe, antwortete Merkel, dass sie dies als Bundeskanzlerin nicht für möglich gehalten habe. Sie sei der Ansicht gewesen, dass es ihre Aufgabe sei, das Land als Ganzes zu repräsentieren und nicht ihre persönliche Geschichte in den Vordergrund zu stellen. Diese Zurückhaltung sei eine bewusste Entscheidung gewesen, die sie auch nicht bereue. Gleichzeitig gab sie zu, dass sie sich mit mehr Zeit vielleicht intensiver mit diesen Themen hätte auseinandersetzen können.
Reflexion über die deutsche Einheit
Ein weiterer Schwerpunkt des Gesprächs war die deutsche Einheit und die damit verbundenen Herausforderungen. Merkel betonte, dass die Wiedervereinigung für sie persönlich eine Befreiung gewesen sei, die es ihr ermöglicht habe, ihren Weg in die Politik zu finden. Sie schilderte jedoch auch die Schwierigkeiten, die mit der Integration von Ostdeutschen in die westdeutsche Gesellschaft einhergingen. Viele Ostdeutsche hätten das Gefühl gehabt, dass ihre Erfahrungen und Leistungen nicht ausreichend gewürdigt wurden. Merkel zeigte Verständnis für diese Gefühle, betonte jedoch, dass die Transformationen, die nach der Wiedervereinigung notwendig waren, unvermeidlich gewesen seien.
Politische Entscheidungen und die Macht der Verantwortung
Im weiteren Verlauf des Gesprächs ging es um Merkels politische Entscheidungen während ihrer Amtszeit. Sie erläuterte, wie sie stets versucht habe, Kompromisse zu finden und Lösungen zu erarbeiten, die das Land langfristig voranbringen. Merkel betonte, dass sie sich ihrer Verantwortung als Bundeskanzlerin stets bewusst gewesen sei und dass sie viele ihrer Entscheidungen aus der Perspektive des langfristigen Wohls der Bevölkerung getroffen habe.
Will sprach auch kontroverse Themen wie die Flüchtlingskrise 2015 an, bei der Merkel mit ihrer Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen, sowohl Lob als auch Kritik auf sich zog. Merkel erklärte, dass sie diese Entscheidung aus einer moralischen Überzeugung heraus getroffen habe und dass sie die damit verbundenen Herausforderungen bewusst in Kauf nahm. Sie räumte ein, dass diese Entscheidung ihre politische Karriere nachhaltig geprägt habe, betonte jedoch, dass sie sie nicht bereue.
Merkels Vermächtnis: Ein Blick in die Zukunft
Gegen Ende des Gesprächs fragte Anne Will, wie Merkel ihr eigenes politisches Vermächtnis sehe. Merkel zeigte sich bescheiden und erklärte, dass es nicht ihre Aufgabe sei, ihr eigenes Vermächtnis zu definieren. Sie hoffe jedoch, dass ihre Arbeit dazu beigetragen habe, Deutschland und Europa in schwierigen Zeiten Stabilität und Orientierung zu geben. Merkel betonte, dass sie sich nach ihrem Ausscheiden aus der Politik darauf freue, mehr Zeit für persönliche Interessen und für die Reflexion über ihre Erfahrungen zu haben.
Eine facettenreiche Persönlichkeit
Das Gespräch zwischen Angela Merkel und Anne Will zeigte eine facettenreiche Persönlichkeit, die stets bemüht war, die Balance zwischen persönlichen Überzeugungen und politischen Notwendigkeiten zu wahren. Merkels ostdeutsche Herkunft, ihre strategischen Entscheidungen und ihre Fähigkeit, komplexe Probleme mit Pragmatismus anzugehen, wurden als zentrale Elemente ihrer Karriere deutlich. Das Gespräch bot nicht nur einen Rückblick auf ihre Amtszeit, sondern auch einen Ausblick auf ihre künftigen Pläne und die Rolle, die sie in der öffentlichen Debatte weiterhin spielen könnte.