Hans Modrow – Der letzte DDR-Premier blickt zurück auf die Wendezeit

Berlin, 1990 – Die Volkskammerwahl der DDR ist vorüber, und für Hans Modrow, den scheidenden Ministerpräsidenten der DDR während der Übergangszeit, geht ein politischer Lebensabschnitt zu Ende. Im Gespräch kurz nach der Wahl am 18. März 1990 reflektiert er, der oft als „Nothelfer in schwieriger Lage“ bezeichnet wurde, über persönliche Empfindungen und die tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die Deutschland für immer verändert haben.

Das Ende einer Ära und die PDS-Bilanz
Modrow, der das Regierungsamt nun abgibt, aber der Politik treu bleiben will, beschreibt seine Gefühle nach der Volkskammerwahl als das Ende eines Abschnitts seines politischen Wirkens, auf den er eingestellt war. Er hatte den 18. März als Termin selbst beeinflusst und damit ein Zeitmaß gesetzt. Hinsichtlich des Wahlergebnisses seiner Partei, der PDS, zeigt er sich pragmatisch: „Wir haben erreicht, was möglich war“. Doch die politische Lage erfordere noch viel Analyse und Überlegung. Die vergangenen Monate waren kräftezehrend, mit zu wenig Schlaf und einem deutlichen Gewichtsverlust. Seine Frau habe sich in dieser Phase, in der er drei Monate allein in einem Berliner Hotel lebte, Sorge, aber kein Mitleid gemacht.

Der Weg zur Einheit: Von der Vertragsgemeinschaft zum Vaterland Deutschland
Ursprünglich verfolgte Modrow die Vorstellung einer länger andauernden „Vertragsgemeinschaft“ zwischen den beiden deutschen Staaten. Die entscheidende Wende in seiner Einschätzung kam jedoch Ende Januar 1990, nach einer Reise in die Sowjetunion. Dort erkannte er die Notwendigkeit, ein neues Konzept zu finden, was schließlich zu seiner Initiative „Für Deutschland, einig Vaterland“ führte.

Mehrere Faktoren trugen zu dieser Erkenntnis bei: Nach Mitte November 1989 wurde klar, dass die Vorstellung einer eigenen DDR-Nation nicht vollzogen war; es sei stets eine Nation geblieben, was die Frage einer Zweistaatlichkeit als nicht weitreichende Perspektive erscheinen ließ.

Zudem war der Wunsch nach Vereinigung insbesondere im Süden der DDR, etwa in Leipzig, unübersehbar. Schließlich diskutierte er auch in der Sowjetunion Standpunkte und entwickelte seine Initiative, nicht um vorzugreifen, sondern um Verantwortung in einem Prozess zu übernehmen, der Frieden und Vertrauen in Europa schaffen sollte. Er erinnert sich, dass Michail Gorbatschow bereits im Vorfeld der Moskauer Gespräche erklärt hatte, die Frage der Vereinigung sei „Sache der Deutschen selber“ und die Sowjetunion werde einem solchen Schritt nicht im Wege stehen, wenn er sich unter Beachtung europäischer Friedensinteressen vollziehe.

Modrow sieht nach der Volkskammerwahl das Problem darin, dass das atemberaubend schnelle Tempo der innerdeutschen Entwicklung nicht synchron ist mit der noch weitgehend offenen außenpolitischen Regelung der deutschen Frage. Er appelliert an die vier Siegermächte: „Sie müssen [die Synchronisierung] herbeiführen“, denn sie müssten die Interessen Europas im Auge behalten. Er spürte in Gesprächen mit Nachbarn, wie Polen und Frankreich, die Erwartung, dass der Prozess synchron verlaufe.

Kohls Wahlkampf versus nationale Verantwortung
Deutlich kritisch äußert sich Modrow über die Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Bei ihren Treffen in Dresden (Dezember 1989) und Bonn (Februar 1990) ging es unter anderem um den „Lastenausgleich“ und „Solidarhilfe“, Begriffe, die Kohl selbst auf einer Pressekonferenz prägte. Modrow fühlt, dass Kohl „nicht Modrow im Regen stehen lassen“, sondern „im Prinzip die Bürger der DDR im Regen stehen lassen“ und alles für den Wahlkampf nutzen wollte. Er könne nicht verstehen, wie Kohl mitten im Wahlkampf Konzepte vor die eigentliche nationale Verantwortung stellen konnte. Als „Bittsteller“ habe er sich in Bonn jedoch nicht gefühlt, da die Bürger der DDR ein Recht auf klare Forderungen gehabt hätten. Dass die DDR diese Phase ohne Solidarbeitrag überstand, spreche für den Fleiß und die Verantwortung der Bürger. Er beklagt eine fortbestehende Polarisierung und „Feindbilder“ aufseiten westdeutscher Medien und teils der Behandlung, die sich nach der Wahl voraussichtlich noch verstärken werde.

Der Mauerfall: Eine „Panikentscheidung“
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, beiläufig von Politbüromitglied Schabowski verkündet, war für Modrow keine geplante Öffnung. Er beschreibt den internen Prozess als „aus der Panik entstanden“, nicht aus einem „wirklichen Konzept“, gewachsen aus den Ereignissen in Ungarn und Prag. Er selbst sei zu diesem Zeitpunkt in keiner verantwortlichen Position gewesen, die ihn einbezog, er habe die Entscheidung lediglich miterlebt. Eindrucksvoll schildert er eine Begegnung am Abend des 9. November mit einem jungen Mann vor dem Gebäude des Zentralkomitees, der ihn fragte, ob er gehört habe, dass die Grenzen offen seien. Der Jugendliche, der eigentlich weg wollte, aber es dann doch nicht tat, fragte ihn nach seinem Namen. Als Modrow antwortete, sagte der Jugendliche überrascht: „Ach so, dann sind Sie wohl der Dresdner Oppositionelle“.

Dresden im Herbst ’89: Zwischen Gewaltlosigkeit und Anfeindung
In seiner Rolle als Erster Parteisekretär der SED für den Bezirk Dresden im Oktober 1989 stand Modrow in einem Spannungsfeld. Während manche ihm eine verantwortliche Mitwirkung an „Knüppeleinsätzen“ vorwerfen, betonen andere seine vermittelnde, dämpfende Wirkung. Modrow selbst weist die Vorwürfe zurück und erklärt, er habe „in keiner Weise in Befehlsstrukturen dieser Art eingegriffen“ und sei nicht einbezogen gewesen. Er habe stets versucht, Gewaltlosigkeit zu erreichen. Insbesondere kritisiert er die Entscheidung, Züge mit Prager Flüchtlingen durch Dresden fahren zu lassen, was zu gefährlichen Paniksituationen führte. Seine Bitten an den Verkehrsminister, dies zu ändern, wurden mit Verweis auf „Aufträge“ abgelehnt. Modrow vermutet, dass seine „Gegner im Politbüro“ ihm bewusst Schwierigkeiten bereiten wollten. Er bekräftigt, dass in Dresden zum ersten Mal die Entscheidung zur Gewaltlosigkeit fiel, indem Gespräche mit Kirchenvertretern und der „Gruppe der Zwanzig“ initiiert wurden, die in die Stadtverordnetenversammlung eingebunden wurden.

Honeckers Ende und das „Erzübel“ des Regimes
Die „Entmachtung“ Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 beschreibt Modrow nicht als Sturz, sondern als einen Versuch, einen Übergang zu schaffen. Nach einer „sehr kläglichen Erklärung“ des Politbüros und Honeckers eigener Darstellung im Sekretariat des ZK, ergriff Modrow als Erster das Wort und hinterfragte die Beratungen. Honecker unterbrach ihn, unterstellte ihm „Plattformen“ und „Fraktionsbildung“. Dies führte dazu, dass andere wie Egon Krenz Honecker in einer nachfolgenden Politbürositzung zum Rücktritt aufforderten.

Das „Erzübel des alten Regimes“, dem er lange diente, sah Modrow darin, dass vieles übernommen wurde, „was man heute mit Recht als Stalinismus als stalinistische Züge bezeichnet“. Vor allem sei Recht und Gesetz nicht für die eigene Führung angewandt worden. Zudem hätten die „Herren zu dem was im Lande vor sich geht keinerlei Beziehungen besessen“. Dieser Abstand zwischen Realität und Parteispitze sei ihm ab den frühen 80er Jahren bewusst geworden. Er habe sogar an einen Rückzug aus der Politik gedacht, etwa als Botschafter in der Mongolei. Ein „Knick in der Karriere“ und anhaltende Differenzen mit Honecker gab es bereits nach 1952, verstärkt durch eine Auseinandersetzung um den Wiederaufbau des Dresdner Schlosses im Januar 1985.

Persönliche Ideale und der Kampf gegen den Zynismus
Modrow, der als Sohn eines Seemanns, Bäckermeisters und späteren Arbeiters im polnischen Jasenitz aufwuchs, absolvierte nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft und einer antifaschistischen Umerziehungsschule eine zügige Parteikarriere. Seine Nachkriegsideale, zunächst beeinflusst vom sowjetischen Befreier und Stalin als Symbol der Zukunft, wandelten sich nach dem 20. Parteitag der KPdSU unter Chruschtschow. Seine wichtigste Schlussfolgerung: Man müsse sich mit einem Ideal und einer Partei verbinden, aber „man kann sich niemals an Menschen binden, es gibt keine Götter“.

Die „bekömmliche Distanz“ der DDR-Bevölkerung zur herrschenden Ideologie und die nur noch als Lippenbekenntnisse wahrgenommene Treue waren ihm nicht verborgen geblieben. Er habe persönlich keinen Zugang mehr zu Massenkundgebungen gefunden und sich dabei nie wohlgefühlt. Er erkannte, dass die „ideologische Basis ihrer politischen Arbeit für die Mehrheit im Land nichts Wesentliches war“, sondern sogar abgelehnt wurde. Er hoffte jedoch, dass mit der Perestroika nicht die Ideologie, aber die Ideale neu begründet werden könnten.

Honeckers Lebensleistung beurteilt Modrow als ein „Menschenschicksal, wie es kaum tragischer sein kann“. Er respektierte den Antifaschisten und Revolutionär, erkannte aber, dass Honecker „sich von all dem selber gelöst hat, was scheinbar noch sein Ideal war“. Die Isolation des Politbüros von der Realität begann seiner Meinung nach Mitte der 70er Jahre, was sich etwa an Diskussionen über die Brotversorgung zeigte.

Hans Modrow ist ganz offenbar kein Zyniker. Er führt dies auf Charaktereigenschaften und vor allem auf das Verhältnis zu Menschen zurück: „dort wo man zynisch wird, verliert man vor allem an sich selber etwas“.

Die Frage nach dem schmerzlichsten Verlust eines Ideals bewegt ihn zutiefst. Er hofft, dass Menschen, die wie er an das Gute glauben und etwas für andere bewirken wollen, wieder zusammenfinden. Als Atheist betont er, dass er die Kirche dafür achtet, seit 2000 Jahren das Ziel zu haben, den Menschen Gutes zu tun. Am meisten schmerzt ihn, dass es Menschen „so schwer zur Versöhnung finden, so schwer es haben, auch Menschen, die schuldig geworden sind, am Ende doch irgendwo so etwas wie Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen“. Hier möchte er sich auch weiterhin mit Vertretern der Kirche und allen, die Gutes tun wollen, verbinden.

Hans Modrow, der „Nothelfer“ und Politiker in einer Zeit des Umbruchs, hinterlässt ein komplexes Bild, geprägt von Idealismus, Ernüchterung und dem unbedingten Wunsch nach einem friedlichen und verantwortungsvollen Weg für Deutschland in Europa.