Der 6. Juli 1967 sollte ein Tag der Freude sein. In der damaligen DDR hatten die Sommerferien gerade begonnen, und die ersten Ferienzüge rollten in den Harz. Für viele Kinder, darunter die Schwestern Jutta (12), Christine (13) und Evelyn Hamann (10) aus Möser im Bezirk Magdeburg, ging es ins Ferienlager. Es war eine Zeit voller Vorfreude auf Vergnügen im Freibad, lange Nachtwanderungen und vielleicht die erste große Liebe – Spaß ohne Eltern, eine Fahrt ins Kinderglück. Doch diese Reise sollte für viele zu einer Reise ohne Wiederkehr werden.
Die Schwestern Hamann waren im ersten Waggon untergebracht, der voller Kinder war. Christines Wunsch, lieber schon als Erzieherin mitgefahren zu sein, da sie bereits 13 Jahre alt war, zeigte die unbeschwerte Stimmung kurz vor der Katastrophe. Die Fahrt bis zum Bahnübergang Langenweddingen sollte etwa zwanzig Minuten dauern, wobei die Bahnstrecke die stark befahrene Fernverkehrsstraße Magdeburg-Halberstadt kreuzt.
Ein bekanntes Problem wird zur Todesfalle
Das Unglück ereignete sich gegen 8 Uhr morgens am Bahnübergang Langenweddingen. Das Problem: Die Schranke verhakte sich immer wieder mit einem Postkabel, das über den Bahnübergang gespannt war, besonders bei Hitze. An diesem Tag war es heiß, und das Problem war den Verantwortlichen bekannt.
Kurz vor 7:52 Uhr hatte der Fahrdienstleiter die Meldung erhalten, dass der Ferienzug Dodendorf durchfahren hatte und gab die Strecke frei, was bedeutete: Schranke zu. Doch die Schranke blieb in den Kabeln hängen. Währenddessen näherte sich dem Bahnübergang ein Lastwagen mit zwei Tanklastern, die 15.000 Liter leichtes Benzin geladen hatten. Der Fahrdienstleiter konnte einen LKW-Fahrer per Signalfarbe stoppen, doch den Tanklaster übersah er.
Die fatale Kollision und das Inferno
Eine Minute vor der Schranke gab der Fahrer des Tankwagens Gas. Nichts konnte den Zug jetzt noch aufhalten. Die Kinder im Zug hatten Spaß, hörten noch ihre Lieblingslieder. Dann kam ein „herrischer Knall“. Die Fensterscheiben zersplitterten, und eine schreckliche Stimmung breitete sich im Zug aus.
Der Tanklaster wurde vom Zug mitgerissen, es gab eine Explosion, und 15.000 Liter leichtes Benzin ergossen sich über die Doppelstockwagen. Zeugen sahen Flammen und Rauch aufsteigen. Im Inneren des Zuges stiegen die Temperaturen bis auf 800 Grad Celsius. Benzin hatte sich durch geborstene und geöffnete Scheiben über alle Sitzbänke ergossen. Für viele gab es kein Entrinnen; einzelne Abteiltüren waren womöglich sogar verschlossen.
Juttas Kampf ums Überleben und die selbstlose Hilfe
Jutta Hamann erlitt schwere Brandverletzungen. Ihre erste Sorge galt ihren Schwestern. Sie wollte zurück in den Zug, um sie zu holen, doch der Lagerleiter hielt sie zurück und versicherte, er würde nach ihnen sehen. Jutta wurde widerwillig auf einen LKW gebracht und ins Krankenhaus gefahren. Dort erfuhr sie, dass sie zu 70 Prozent verbrannt war. Ärzte und Eltern verschwiegen ihr, dass ihre Schwestern das Unglück nicht überlebt hatten – sie sollte leben.
Jutta wurde zur Behandlung in die Medizinische Akademie nach Magdeburg gebracht, wo ein langer Kampf zurück ins Leben begann. Eine junge Medizinstudentin namens Kristel Glaß wuchs in diesen schweren Stunden über sich hinaus und stand Jutta zur Seite. Die Behandlung, insbesondere der tägliche Verbandswechsel, bei dem abgestorbene Haut entfernt werden musste, war trotz Betäubungsmittel eine Qual und Juttas größte Angst. Kristel versuchte, Jutta abzulenken und zu trösten, schenkte ihr sogar eine sprechende Puppe.
Die Eltern versuchten, ihrem Kind Kraft zu geben, was nicht immer leicht war angesichts der schweren Verletzungen. Juttas Vater fiel beim Anblick ihrer Verbrennungen sogar in Ohnmacht. Ihre Mutter verbot ihr das Sprechen. Jutta fragte immer wieder nach ihren Schwestern, doch man sagte ihr, sie seien auf der Toilette oder hätten das Krankenhaus verlassen.
Die tragische Bilanz und die bleibende Erinnerung
Das Inferno von Langenweddingen war nach mehreren Stunden vorbei. Noch am selben Tag begannen die Aufräumarbeiten, und bereits am nächsten Tag wurde die Strecke für den Zugverkehr wieder freigegeben. Doch es war die schwerste Zugkatastrophe der DDR.
Rund 200 erwachsene Reisende und viele Kinder waren im Zug. Die Feuerwehren aus Langenweddingen und andere Helfer des Deutschen Roten Kreuzes kämpften selbstlos um jedes Menschenleben. Löschwasser musste aus dem Dorfsee herangeleitet werden, was die Löscharbeiten verzögerte. Viele der Betroffenen kamen mit rußgeschwärzten Gesichtern und Kleidung, verbrannt und entstellt, aus dem Zug. Für viele gab es jedoch keine Rettung mehr.
Insgesamt forderte die Katastrophe 96 Todesopfer. Für Juttas Schwestern war es die letzte Fahrt. Erst ein halbes Jahr später erfuhr Jutta die Wahrheit über den Tod ihrer Schwestern. Sie war wütend auf ihre Eltern, die doch nur ihr Bestes wollten, hat ihnen aber längst verziehen.
Kristel Glaß, die junge Medizinstudentin, begann einen Monat nach dem Unglück ihre Facharztausbildung. Sie legte für Jutta ein Sparbuch an und sammelte bei ihren Kommilitonen Spenden, insgesamt 5.000 Mark, die Jutta mit 18 Jahren erhielt. Viele Jahre später trafen sich Jutta und Kristel als Kinderärztin und Patientin wieder. Aus der größten Notstunde entstand eine lebenslange Freundschaft.
Auch wenn Züge noch immer zu den sichersten Verkehrsmitteln gehören, bleibt die Erinnerung an das Zugunglück von Langenweddingen ein schmerzhaftes Kapitel der Geschichte.