Suhl, eine Stadt, die untrennbar mit dem Namen Simson verbunden ist, blickt auf eine bewegte Geschichte zurück, die von handwerklicher Meisterschaft, politischem Druck und tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen geprägt war. Simson, einst ein pulsierender Industriegigant und größter Betrieb der Region, war mehr als nur ein Fahrzeughersteller; es war für Generationen von Suhlern ein „zweites Leben“ und sicherte unzähligen Familien das Auskommen.
Vom jüdischen Familienunternehmen zum Rüstungsbetrieb Die Wurzeln des Unternehmens reichen bis ins Jahr 1856 zurück, als die Familie Simson in Suhl ein Unternehmen gründete. Diese alteingesessene jüdische Familie produzierte nahezu alles: von Autos über Haushaltsgeräte und Waffen bis hin zu Fahrrädern, und Simson wurde zu einem der größten Fahrradhersteller Deutschlands. Doch die florierende „Gemischtwarenfabrik“ wurde den Nationalsozialisten zum Dorn im Auge. Das Vermögen wurde beschlagnahmt, die Fabrik enteignet, und die Familie Simson konnte sich nur noch nach Amerika retten. Ihre einst vielseitige Produktion konzentrierte sich fortan auf die Herstellung von Waffen, darunter Handfeuerwaffen, Pistolen, Gewehre und Maschinengewehre, vor allem für das Dritte Reich.
Wiederaufbau unter sowjetischer Ägide und die AWO-Ära Nach dem Krieg war das Werk teilweise zerstört, und die sowjetischen Besatzer sprengten zusätzlich intakte Gebäude. Der Wiederaufbau war schwierig, da es an Material fehlte. Zunächst wurden lebensnotwendige Dinge wie Stühle, Bratpfannen und Schaufeln hergestellt. Die Familie Simson versuchte, ihren Betrieb zurückzuerlangen, doch die neuen Machthaber verweigerten eine Wiedergutmachung. Stattdessen wurden 5.000 Maschinen nach Russland gebracht, und Simson wurde zu einer sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG). Die sowjetische Leitung zeichnete sich durch eine strenge Führung des Betriebs aus.
Ein Schlüsselmoment des Wiederaufbaus war die Entwicklung des Motorrades AWO 425 (Abkürzung für „Arbeitsgemeinschaft für Oelmotorrad“), in die die sowjetischen Auftraggeber sagenhafte 3 Millionen Mark investierten. Die AWO, die von 1950 bis 1961 produziert wurde, war stabil, technisch ausgereift und dem Vorbild BMW nachempfunden, mit Besonderheiten wie dem aufwendigen Kardanantrieb und einem hochwertigen Stahlrohrrahmen. Sie begründete den guten Ruf Simsons als Fahrzeughersteller neu und erfüllte Konstrukteure und Bandarbeiter mit Stolz.
Motorsporterfolge und der Hollywood-Star in Suhl 1951 befahl ein sowjetischer General die Gründung einer Sportabteilung, die Straßenrennen, Motocross und Geländesport betrieb. Simson wurde zu einem festen Bestandteil wichtiger Rennen, besonders bei den Mittelgebirgsfahrten. Sporterfolge wie die acht Europameistertitel nach dem zweiten Gewinn steigerten nicht nur das Ansehen des Staates, sondern auch die Anerkennung für Simson und seine Konstrukteure.
Eine besondere Sensation ereignete sich 1963 in Suhl während des Sechstage-Rennens (Six Days): Hollywood-Star Steve McQueen, ein Mitglied des US-Teams, trat mit seiner Sportmaschine auf dem Simson-Gelände auf. Dies war ein Novum im Ostblock und löste sowohl Begeisterung bei der Bevölkerung als auch Bedenken bei der Parteiführung aus, die Sympathien für den „Filmstar der dekadenten westlichen Welt“ fürchtete und seine Präsenz in der Presse unterdrückte. Obwohl McQueen nur drei Tage durchhielt, zeigte er sich als „richtiger Sportsmann“, der sich einer enormen körperlichen Anstrengung unterzog.
Die „Vogelserie“: Schwalbe, Spatz und Co. Wer in der DDR kein Auto hatte, besaß oft einen Roller oder ein Moped der Marke Simson. Das Mokick aus Suhl war das traditionelle Jugendweihe-Geschenk. Die legendäre Schwalbe, die 21 Jahre lang über eine Million Mal vom Band lief, war der Auftakt der mobilen „Vogelserie“, gefolgt von Spatz, Star, Sperber und Habicht. Jedes Fahrzeug sollte mindestens 40.000 Kilometer halten, 60 km/h fahren und einfach zu reparieren sein. Die Schwalbe war äußerst stabil und konnte sogar mit einem Anhänger voll Reisegepäck und zwei Personen von Berlin bis nach Ungarn fahren, selbst auf Feld- und Waldwegen. 1975 eroberte Schwester Agnes mit ihrer Schwalbe die Herzen der Fernsehzuschauer, obwohl ihr Fahrzeug anfangs belächelt oder als „Kampfblech“ verspottet wurde. Trotzdem avancierte es zu einem „europäischen Kultfahrzeug“. Die Nachfrage nach erschwinglichen, sparsamen und alltagstauglichen Mopeds führte zur Entwicklung von Rollern, die Schutz vor Witterung boten, und später zu zweisitzigen Modellen, die 60 km/h erreichten und sparsam im Verbrauch waren.
Herausforderungen in der DDR-Planwirtschaft Trotz der hohen Nachfrage – 150.000 Fahrzeuge pro Jahr reichten bei weitem nicht für den Binnenmarkt aus – blieben notwendige Investitionen aus. Im Werk wurde improvisiert, Maschinen und Menschen im Schichtbetrieb „zerschlissen“. Der Leistungsdruck war enorm; Mitarbeiter, auch Lehrer der betriebseigenen Schule, mussten Sonderschichten leisten und in die Produktion eingreifen. Um der Monotonie am Band entgegenzuwirken, führte Simson Ende der 70er Jahre in der Lehrwerkstatt die „Nestfertigung“ ein, bei der 3-4 Jugendliche gemeinsam einen kompletten Motor fertigten. Dies kam bei den jungen Leuten gut an, da sie alle Arbeitsschritte beherrschten und nicht mehr nur monotone Tätigkeiten ausführten.
Die Kosten- und Preispolitik war paradox: Ein Kleinkraftrad kostete im Laden etwa 1.500-1.550 Mark, der Betriebspreis lag jedoch deutlich höher, oft über 2.000 Mark. Diese bewusste Preisgestaltung wurde in Berlin festgelegt, um öffentliche Diskussionen zu vermeiden. Auch im Export, der rund ein Viertel der Jahresproduktion ausmachte, wurden die Fahrzeuge weit unter Wert verkauft. Ziel waren 50.000 Exportfahrzeuge, wovon 20.000 in sozialistische Länder gingen und 30.000 in nicht-sozialistische Gebiete, ein Ziel, das selten erreicht wurde. Simson unterhielt Handelsbeziehungen mit afrikanischen Ländern wie Mosambik, Angola und Ägypten, wobei Mopeds gegen Güter wie Baumwolle, Kaffee und Erdöl getauscht wurden. Im Zuge dessen kamen auch „Vertragsarbeiter“ nach Suhl, deren Integration jedoch oft mangelhaft war, was zur Fremdenfeindlichkeit nach der Wende beigetragen haben könnte.
Soziale Versorgung und Arbeitsalltag Simson versorgte seine Mitarbeiter umfassend: Es gab betriebseigene Busse, begehrte Urlaubsplätze auf Hiddensee, Kindergärten, eine eigene Arztpraxis und preiswerte Mahlzeiten in großen Speisesälen. Der Zusammenhalt unter den Kollegen war stark; es gab gemeinsame Feiern, Ausflüge und gegenseitige Hilfe, was den Arbeitsstress erträglicher machte. Dennoch gab es auch Schattenseiten wie den täglichen Leistungsdruck, Frust über Mangelwirtschaft und Lieferprobleme sowie Ärger mit Vorgesetzten und Kollegen.
In den 80er Jahren verschärften sich die Probleme: Lieferschwierigkeiten, besonders bei Rädern, führten zu 40-50% Rücksendungen wegen Mängeln. Maschinen wurden auf Verschleiß gefahren, Ersatzteile fehlten im Kundendienst. Die Betriebsführung stand unter enormem Druck der Parteileitung. Zudem waren die Arbeitsbedingungen in Bereichen wie der Lackiererei, wo die Luft voller chemischer Dämpfe war, gesundheitlich belastend. Umweltverschmutzung durch das Heizkraftwerk führte zu saurem Regen und Korrosion an parkenden Fahrzeugen. Finanzielle Probleme und veraltete Maschinen verschärften die Lage, doch Hilferufe aus Berlin blieben ungehört.
Das Ende einer Ära und ein Kult lebt weiter 1986 lief die letzte Schwalbe vom Band. Obwohl Pläne für modernere Motorroller in den Schubladen lagen, war es zu spät. Mit der Wiedervereinigung brach der Markt ein, da viele Bürger nun Autos kaufen konnten. Die Anpassung an bundesdeutsches Recht, das eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h und ein Mindestalter von 16 Jahren für Mokicks vorschrieb, verschlechterte die Verkaufschancen zusätzlich. Der damalige Gang ins Bundesverkehrsministerium zur Verhandlung über eine Ausnahmeregelung war vergeblich.
Die Treuhand wickelte den Betrieb ab, und obwohl Simson als GmbH zu überleben versuchte, war die Zeit des Motorroller-Booms vorbei. Die Menschen kauften westliche Autos und japanische Motorräder. Viele ehemalige Mitarbeiter empfanden dies als „bewusste Zerstörung“ einer gut funktionierenden Produktion. Im Dezember 1990 fiel für die meisten Mitarbeiter der letzte Vorhang. Die Belegschaft räumte den eigenen Betrieb, verkaufte, was zu Geld gemacht werden konnte, und verschrottete den Rest. Für viele brach eine Welt zusammen, da sie davon ausgegangen waren, bis zur Rente bei Simson zu bleiben.
Mit dem Aus für Simson endete eine 150-jährige Firmengeschichte. Geblieben sind die Fahrzeuge, die mittlerweile Kultstatus haben, wie die Schwalbe oder die AWO. Das weitläufige Gelände ist heute ein Gewerbepark, doch Suhl hat seine Bedeutung als großer Industriestandort weitgehend eingebüßt. Die Tatsache, dass der Betrieb größtenteils dem Erdboden gleichgemacht wurde, erfüllt viele ehemalige Mitarbeiter mit Wehmut und Traurigkeit.