
Als Stefan Träger im Jahr 2017 in seine Heimatstadt Jena zurückkehrte, um den Vorstandsvorsitz der JENOPTIK AG zu übernehmen, war das bundesweit eine Nachricht. Denn Träger ist einer der wenigen Ostdeutschen, denen es gelungen ist, direkt an die Spitze eines börsennotierten Konzerns zu klettern. Dabei begann sein Werdegang nach dem Abitur – anders als bei vielen westdeutschen Führungskräften – nicht mit einem privilegierten Studium, sondern als Hilfsarbeiter bei Carl Zeiss in Saalfeld. Seinen Weg ins Spitzenmanagement verdankt er einer Kombination aus fachlicher Qualifikation, Auslandserfahrung und dem festen Willen, als Ostdeutscher „Bodenhaftung zu behalten“ und „nicht abzuheben“. Für Träger ist sein Aufstieg ein Beleg dafür, wie wertvoll Transformations- und Umbruchserfahrungen aus der DDR und der Nachwendezeit sein können. Gleichzeitig verdeutlicht sein Beispiel, wie selten solche Karrieren aus dem ostdeutschen Raum in die Chefetagen führen.
Statistische Realität: Unterrepräsentanz in fast allen Bereichen
Aktuelle Zahlen des Elitenmonitors belegen, dass Ostdeutsche in wirtschaftlichen Spitzenpositionen selbst 35 Jahre nach der Wiedervereinigung deutlich unterrepräsentiert sind. Für 2024 liegt ihr Anteil in Führungsrollen großer Unternehmen bei gerade einmal 4 Prozent, obwohl Ostdeutsche etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 lag dieser Wert noch bei 5,1 Prozent, 2022 bei 5,0 Prozent – ein tendenzieller Rückgang, obwohl die Politik und Wirtschaft immer wieder auf „Ost-West-Angleichung“ pochen.
In der Justiz sieht es ähnlich aus. Dort entfielen 2024 lediglich 2,7 Prozent aller Spitzenposten auf Personen mit ostdeutschem Hintergrund. Zwar ist dies ein leichter Anstieg gegenüber den 1,4 Prozent in den Jahren 2018 und 2022, doch macht die Zahl deutlich, dass Ostdeutsche häufig nicht einmal in Gerichtsinstanzen vertreten sind. Einige Branchen sind noch erschreckender: Im Militär beispielsweise liegt der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen nach wie vor bei 0,0 Prozent. Lediglich in den Medien gibt es mit 10,3 Prozent einen moderaten Zuwachs, nachdem man 2018 noch bei 8,4 Prozent lag.
Im politischen Sektor dagegen hält der Elitenmonitor fest, dass Ostdeutsche inzwischen annähernd ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend repräsentiert sind. Im Kabinett von Kanzler Merz zählen mit drei ostdeutschen Ministern – darunter Carsten Schneider, kürzlich berufener Bundesumweltminister – sogar mehr Ostdeutsche zur Bundesregierung, als ihr Bevölkerungsanteil vermuten lassen würde.
Warum der Osten im Abseits steht
„Da sind insbesondere die vertikalen Netzwerke interessant“, erläutert Politikprofessorin Astrid Lorenz von der Universität Leipzig, Mitautorin des Elitenmonitors. Mit vertikalen Netzwerken meint sie Kontaktlinien zu einflussreichen Personen – sogenannte „Sponsoren“ –, die Karrieren nicht nur beobachten, sondern aktiv fördern. Solche Förderstrukturen waren in der DDR kaum ausgebildet. „Ostdeutsche müssen sehr oft weggehen, in den Westen, um überhaupt für Aufstiegschancen infrage zu kommen. Aber das bricht die Verbindung zu Heimat und lokalen Netzwerken ab.“
Ein wesentlicher Grund dafür, dass nur wenige Ostdeutsche in großen Konzernen den Aufstieg schaffen, ist ganz profan: Die meisten DAX- und MDAX-Unternehmen haben ihren Hauptsitz im Westen. Wer im Ruhrgebiet oder in Stuttgart arbeitet, kann sich leichter für Führungsrollen empfehlen, weil dort die Unternehmenszentralen angesiedelt sind. Ostdeutsche, die in Jena, Leipzig oder Dresden bleiben, haben seltener eine „Bühne“, auf der sie sichtbar werden. „Wir brauchen hier in Ostdeutschland Unternehmen, die hier auch ihren Hauptsitz haben. Wir entscheiden hier – und davon haben wir zu wenig“, betont Stefan Träger.
Eng damit verknüpft ist das Problem der fehlenden Vorbilder. Carsten Schneider, ehemaliger Ostbeauftragter der Bundesregierung, mahnt: „Eine tatsächliche Angleichung der Vertretung Ostdeutscher in Spitzenpositionen wird sich nicht von allein einstellen. Ohne bewusstes Gegensteuern, ohne Sensibilisierung, dass man Menschen mit ostdeutschem Hintergrund fördert, wird sich nichts ändern.“ Wer in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland aufwuchs, erlebte den massenhaften Weggang junger Talente im Zuge der Deindustrialisierung. Viele, die Talent und Ambitionen hatten, entschieden sich, in westdeutsche Großstädte oder gar ins Ausland zu ziehen. Dadurch fehlt bis heute der Aufbau stabiler Bindungen zu lokalen Unternehmen und Institutionen.
Gesellschaftliche Folgen: Das Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein
Doch was bedeutet diese Unterrepräsentanz für die gesellschaftliche Stimmung im Osten? Professorin Lorenz warnt: „Wenn man, was man nicht tun sollte, aus der Vergangenheit ableiten würde, wie die Zukunft funktionieren wird, würde man prognostizieren, dass eine echte Angleichung erst Ende dieses Jahrhunderts erreicht ist.“ Sie rechnet jedoch damit, dass ein steigendes Bewusstsein für das Problem den Prozess verkürzen könnte.
Der Elitenmonitor zeigt, dass sich dieses Ungleichgewicht nicht nur in nackten Zahlen ausdrückt, sondern auch in einem Gefühl der Ausgrenzung mündet. Astrid Lorenz: „Es trägt dazu bei, dass viele im Osten ein Gefühl der Distanz zur Politik empfinden, weil sie niemanden kennen, der dort besonders wichtig wäre. Das triggert in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.“ Carsten Schneider fügt hinzu: „Es macht mich wütend, wenn manche von oben herab auf meine Heimat gucken und über die Leute sprechen – von Leuten, die nie in ihrem Leben etwas ausstehen mussten.“
Bereits 2019 berichtete die Umschau über die einzige ostdeutsche Richterin am Bundessozialgericht, Judith Neumann aus Magdeburg, deren Berufung nach Kassel eine Seltenheit geblieben ist. Noch seltener sind Ostdeutsche im Militär: Offiziere oder Generäle mit ostdeutschem Hintergrund sind in den höchsten Rängen schlicht nicht zu finden.
Erste Ansätze zur Veränderung
Trotz dieser desaströsen Zahlen gibt es Ansätze, das Ungleichgewicht zu beheben:
- Ausbau lokaler Industrien
Stefan Träger plädiert dafür, dass sich mehr bedeutende Industrieunternehmen entscheiden, ihren Hauptsitz im Osten anzusiedeln oder zumindest entscheidende Abteilungen und Führungsebenen hier zu etablieren. Nur so würden in Ostdeutschland „Karriereschienen“ entstehen, die jungen Fachkräften Aufstiegschancen vor Ort bieten. - Gezielte Förderprogramme
Politik und Wirtschaft sollten Mentoring- und Sponsoring-Programme aufsetzen, die ostdeutsche Talente von früh an mit Führungspersönlichkeiten vernetzen. So könnten vertikale Netzwerke mittelfristig aufgebaut werden. - Sichtbarkeit von Vorbildern erhöhen
Die Medien könnten dazu beitragen, erfolgreiche Ostdeutsche in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur stärker in den Fokus zu rücken. Ein prominentes Beispiel wie Robert Schneider, ehemaliger „Fokus“-Chefredakteur und heute Chef der BILD-Zeitung, zeigt den Weg: „Wer sich nicht zeigt, wird nicht gesehen“, sagt Schneider. - Regionale Stärkung der Bildungslandschaft
Universitäten und Forschungseinrichtungen im Osten sollten enger mit Wirtschaftspartnern zusammenarbeiten, um Studierende frühzeitig für regionale Unternehmen zu begeistern und sie auf Führungsrollen vorzubereiten – ganz im Sinne eines „Brain-Drains stoppen“-Ansatzes.
Ausblick: Langsamer, aber nicht aussichtsloser Weg
Dass Politik – anders als Wirtschaft, Justiz und Militär – Ostdeutsche inzwischen angemessen in Spitzenämtern berücksichtigt, ist ein Hoffnungsschimmer. 20 Prozent der Bundestagsabgeordneten stammen heute aus dem Osten; damit sind sie in etwa gleich stark vertreten wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Doch gerade dieser Unterschied zwischen politischer und wirtschaftlicher Repräsentanz macht eines deutlich: Die Lösung liegt nicht allein im Gesetzgeber, sondern in der unternehmerischen und gesellschaftlichen Selbstverpflichtung.
Wirtschafts- und Bildungsexperten sind sich einig: Solange große Konzerne ihre Entscheidungszentralen im Westen belassen und maßgebliche Netzwerke weiterhin auf alte Seilschaften setzen, bleibt der Osten in puncto Elitenbildung abgehängt. Doch erste Unternehmen wie JENOPTIK setzen ein Zeichen, indem sie ortsgebundene Führungskultur fördern. Bleiben solche Vorreiter die Ausnahme, wird sich an der statistischen Misere wenig ändern.
Stefan Träger bleibt deshalb vorsichtig optimistisch: „Ich glaube nicht, dass es bis Ende dieses Jahrhunderts dauert. Das Bewusstsein für das Thema ist gestiegen. Wir brauchen Sichtbarkeit, Mut und vor allem Standorte, an denen entschieden wird.“ Ob Politik und Wirtschaft diese Signale in den nächsten Jahren aufnehmen, wird der Schlüssel sein, damit Ostdeutsche nicht länger den Eindruck haben, nur als Arbeitskräfte willkommen zu sein – während die Chefetagen dem Westen vorbehalten bleiben.