Ein ungewöhnliches Stück Schulgeschichte wird wiederentdeckt: Ein Mitschnitt aus dem Musikunterricht einer siebten Klasse an einer Polytechnischen Oberschule (POS) der DDR. Das Unterrichtsthema? Aram Khachaturyans Ballett Gayane, genauer: der berühmte Säbeltanz.
Bereits beim Einstieg in den Klassenraum drangen die kraftvollen Paukenschläge und wuchtigen Triolen des Komponisten aus dem Kaukasus durch die Lautsprecher. Die Lehrkraft erläuterte, wie Khachaturyan die „wilde Kraft von Pferdeherden“ und das „purpurne Licht der Abendsonne über den kaukasischen Steppen“ in seine Musik zu übertragen wusste. Zugleich verband die Pädagogin diesen Kunstgriff mit dem politischen Auftrag: Musik sollte nicht nur ästhetische Form üben, sondern soziale Tugenden stärken.
Im Zentrum der Stunde standen Tanztechnik und Ausdruck: Die Schüler übten Haltung („langer Hals, Schultern runter“) und Dynamik („Accelerando spürbar machen“) und lernten, dass im Pas de Deux die Liebe zweier Menschen tänzerisch symbolisiert wird. Besonders intensiv widmete sich die Klasse der Lesginka – einem russischen Kriegstanz, der mit Nachstellschritten und kriegerischer Gestik das Gemeinschaftsgefühl stärken sollte. „Hier muss ich das Ängstliche spüren, wenn jemand die Schulter hochzieht“, kommentierte die Lehrerin und demonstrierte die korrekte Spannung.
Doch hinter den technischen Übungen verbarg sich mehr: Khachaturyans Ballett erzählt die Geschichte einer armenischen Baumwollpflückerin, die sich von ihrem egoistischen Ehemann befreit und im Kampf um Wahrheit und Gemeinwohl entsagt. In der DDR‑Didaktik war diese Parabel auf emanzipatorische Selbstfindung und solidarische Verantwortung hochwillkommen. Die Lehrkraft stellte heraus, wie die „realen Menschen unserer Zeit“ auf der Bühne statt mythischer Gestalten den sozialistischen Realismus verkörperten.
Teilnehmende Schüler erinnern sich noch Jahrzehnte später an das dröhnende Ostinato der kleinen Trommel und das trommelnde Tempo, das sie zu einem „Tanz mit Atem und Gesicht“ animierte. Ehemalige Tänzerinnen berichten von einem Gemeinschaftsgefühl, das weit über die Turnhalle hinaus Wirkung entfaltete – ein typischer Lehransatz der POS, in der Sport, Musik und Tanz gleichberechtigte Bausteine einer „sozialistischen Persönlichkeitsbildung“ bildeten.
Die Wiederentdeckung dieses Unterrichtsmitschnitts wirft ein Schlaglicht auf ein Stück Schulalltag, das heute verblüffend modern anmutet: intensive Körperarbeit, interkulturelle Musikpraxis und ein narratives Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Kollektivismus. Es bleibt spannend, welche Impulse von damals in der zeitgenössischen Musikpädagogik wiederaufleben könnten.