Unweit von Trubel und Alltag schlängelte sich im Kaiserreich eine phänomenale Eisenbahnstrecke von Berlin nach Metz – die „Kanonenbahn“. Ursprünglich aus rein militärischen Erwägungen gebaut, ist sie heute fast in Vergessenheit geraten und doch in stillgelegten Abschnitten für Radfahrer und Wanderer wiederentdeckt worden.
Strategischer Eisenbahnbau im Kaiserreich
Nach dem Sieg über Frankreich 1871 strebte das Deutsche Kaiserreich an, Truppen und Kriegsmaterial möglichst ungesehen an die Westgrenze zu bringen. Die Lösung war eine Fernbahn, die bewusst weite Umwege nahm: durch dichte Wälder, über unwegsame Höhenzüge und vorbei an verschlafenen Dörfern. Auf mehr als 800 Kilometern Bandlänge entstanden zahllose Tunnel und Viadukte – eine technische Meisterleistung für die 1880er Jahre.
Betrieb und Bedeutung
Ab 1882 verband die eingleisige Trasse Berlin mit dem Reichsland Elsaß-Lothringen. Zwar wurde später zweigleisig ausgebaut, doch das zweite Gleis verschwand nach dem Ersten Weltkrieg als Reparationsleistung wieder. Im Großen Krieg diente die Strecke mehrfach für Truppentransporte, erreichte aber nie das Volumen, für das sie geplant war. Der Personen- und Güterverkehr blieb mangels Haltepunkten und der abgelegenen Trassenführung gering.
Niedergang und Stilllegung
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endete die Kontinuität abrupt: Die innerdeutsche Grenze zerriss die Strecke in Hessen und Thüringen. In den 1960er und 1970er Jahren folgten sukzessive Ausdünnungen: Einstige Betriebsbahnhöfe wurden geschlossen, Bahnsteige verfallen und Gleise abgebaut. Bis 1990 war der Großteil der Kanonenbahn stillgelegt.
Nachnutzung und Erbe
Doch die Schienen verschwanden nicht spurlos. In Thüringen und Hessen haben Vereine und Kommunen alte Trassen in Rad- und Draisinenwege verwandelt. Auf rund 30 Kilometern führt der Kanonenbahn-Radweg Radfahrer durch sechs Tunnel und über beeindruckende Viadukte. Besonders beliebt ist der 1,5 Kilometer lange Kühlstädter Tunnel, heute der längste Radwegetunnel Deutschlands. Ehemalige Bahnhofsgebäude dienen als Infopavillons, Künstler nutzen Brückenpfeiler als Leinwände, und in stillgelegten Stellwerken finden kulturelle Veranstaltungen statt.
Engagierte Bürgerinitiativen planen, weitere Abschnitte für den sanften Tourismus aufzubereiten. Altmetall wird sortiert, Bahndämme gesichert und in einzelnen Kommunen werden historische Relikte zu Denkmälern erklärt. So bleibt die Kanonenbahn nicht nur ein stummer Zeuge vergangener Militärstrategien, sondern ein lebendiges Bindeglied zwischen Geschichte und Gegenwart – für alle, die neugierig genug sind, abseits ausgetretener Pfade zu reisen.