Sozialistische Agrarutopie? Ein Blick auf die LPGs der DDR

Leipzig. Im Frühjahr 1985 strahlt das DDR-Fernsehen eine Dokumentation aus, die das sozialistische Erfolgsmodell der Landwirtschaft preist: Unser genossenschaftlicher Weg. Fast 28 Minuten lang inszeniert der Film die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) als pulsierendes Herzstück agrarischer Hochleistung. Heute, vierzig Jahre später, lohnt sich ein prüfender Blick auf die Bilder und Narrative dieser staatstragenden Propaganda – und auf die Wirklichkeit, die hinter den Kamerafahrten und Pathos-Interviews schlummerte.

Die filmische Inszenierung: Effizienz, Kooperation, Fortschritt
Mit wohlplatzierten Drohnenaufnahmen über endlose Getreidefelder beginnt der Film. Eine Stimme aus dem Off erklärt: „Jeder Quadratmeter Boden gilt es intensiv zu bewirtschaften“. Schon nach wenigen Sekunden ist klar: Die DDR zeigt sich als Agrarnation, die ihren knapp bemessenen Landanteil von 60 Prozent maximal ausnutzt. Die Protagonisten sind Genossenschaftsbauern und volkseigene Gutspächter, die in kameratauglicher Eintracht über Kooperation und „sozialistische Intensivierung“ berichten.

Kooperationsräte koordinieren die Arbeit, agrochemische Zentren versorgen die Betriebe mit Dünger und Pflanzenschutz. Neue Technik aus der Sowjetunion – Bodenbearbeitungsmaschinen, Mähdrescher, Melkroboter – verhilft zu Rekorderträgen von bis zu 70 Dezitonnen Getreide pro Hektar. Im Film wirken die Felder wie ein endloses Gemälde, die Technik wie ein loderndes Versprechen auf Wohlstand.

Propagandaelemente und Idealisierung
Trotz faktischer Zahlenangaben und Erfolgsbilanzen bleibt die Dokumentation unmissverständlich ein Produkt staatlicher Selbstdarstellung. Drei Merkmale stechen dabei hervor:

  • Sprachliche Opulenz: Vom „Wohlstand unseres Volkes“ ist die Rede, vom „Bündnis der Arbeiterklasse mit der Genossenschaftsbauernschaft“. Selbst religiöse Formulierungen („Vertraue und glaube, es heilt die göttliche Kraft!“) finden ihren Platz – ein ungewöhnlicher Einschlag in einem offiziell atheistischen Staat.
  • Ausblendung von Konflikten: Kein Wort über Versorgungsengpässe, über Missernten infolge ungünstiger Witterung, über den zunehmenden Fachkräftemangel auf dem Land. Die dörfliche Welt erscheint makellos.
  • Einseitigkeit der Perspektive: Interviewpartner sind ausschließlich Partei- und Produktionsfunktionäre. Kritische Stimmen, unabhängige Experten oder betroffene Familien kommen nicht zu Wort.

Realität und Widersprüche
Die propagierte Effizienz und der Facharbeitereinsatz in der Landwirtschaft standen tatsächlich in eklatantem Kontrast zum Alltag vieler LPG-Mitglieder. Interne SED-Dokumente belegen, dass bereits Anfang der 1980er Jahre bis zu 30 Prozent der Genossenschaftsbauern über Alter oder Gesundheit klagten, Nachwuchskräfte rar waren und Maschinenparks – trotz Modernisierung – häufig ausfielen.

  • Versorgungsengpässe: Trotz angeblich „stabiler Versorgung“ herrschte in vielen Regionen Mangel an frischem Obst, Gemüse und Fleisch. Die Versorgungslage schwankte zwischen Überschüssen bei Schweinefleisch und Engpässen bei Milchprodukten.
  • Lebensqualität auf dem Land: Moderne Produktionsanlagen und Freizeitangebote für Bauernkinder – im Film gepriesen – existierten bestenfalls in Modellbetrieben. In den meisten Dörfern mangelte es an Infrastruktur: marode Straßen, fehlender öffentlicher Nahverkehr, eingeschränkte medizinische Versorgung.
  • Soziale Spannungen: Wirtschaftliche Selbstverwaltung und formale Mitbestimmung waren oft reine Alibimaßnahmen. Entscheidungen trafen in der Regel Kreis- und Bezirkstage, SED-Parteikomitees übten Kontrolle aus.

Agrarpolitik im Spiegel der Zeit
Der Film bezieht sich mehrfach auf den VIII. Parteitag der SED (1971) und den Leitgedanken „Hauptaufgabe – Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Tatsächlich hatte die SED im Kielwasser der Ölkrisen der 1970er Jahre den Kurs auf sogenannte „wissenschaftlich-technische Revolution“ gelegt. Ziel war die Automatisierung und Rationalisierung von Produktion und Verwaltung. Die Landwirtschaft sollte Vorreiter sein, um innenpolitische Stabilität zu sichern und Devisen durch Agrarexporte zu erwirtschaften.

Doch mit fortschreitender Planwirtschaftskrise entpuppte sich dieser Ansatz als Bumerang: Die angestrebten Effizienzgewinne blieben hinter den Planzielen zurück, während die Produktionskosten weiter stiegen. Subventionen und Investitionsprogramme in agrochemische Zentren, Meliorationsanlagen und Großviehställe führten eher zu einem wachsenden Finanzloch als zu dauerhaft tragfähigen Strukturen.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Ein Resümee
Unser genossenschaftlicher Weg ist exemplarisch für die DDR-Propagandamaschinerie – eindrucksvoll inszeniert, inhaltlich hochpolitisch, dramaturgisch geschickt konstruiert. Doch hinter Kamerakulisse und heroischer Rhetorik klafft die Lücke zur realen Lebenswelt der Menschen. Die Dokumentation verschweigt, dass die „sozialistische Intensivierung“ oft nur mit Hilfe wachsenden administrativen Drucks und materieller Anreize aufrechterhalten werden konnte.

Von den 4 000 LPGs und 500 VEGs der DDR existieren heute nur noch Fragmente: Viele ehemalige Genossenschaften wurden nach 1990 zerschlagen oder privatisiert. Zahlreiche bäuerliche Familien gaben ihre Höfe auf, Dörfer schrumpften, Infrastruktur verfiel. Doch zugleich entstanden neue, teils hochmoderne Agrarbetriebe, die – ohne staatliche Planwirtschaft – auf Marktlogik und internationale Standards setzten.

Ausblick: Lehren für die Gegenwart
Vier Jahrzehnte nach Ausstrahlung von Unser genossenschaftlicher Weg stellt sich die Frage: Was bleibt als Erkenntnis für heutige Agrarpolitik? Drei Lehren sind offensichtlich:

  • Transparenz und Partizipation statt Einbahnstraße: Echte Mitbestimmung funktioniert nur mit unabhängigen Kontrollinstanzen und einem breiten Spektrum an Stimmen.
  • Nachhaltigkeit vor bloßer Produktivitätssteigerung: Die landwirtschaftliche Intensivierung der DDR führte zu Bodenerosion und Grundwasserschäden. Heute steht das Gleichgewicht zwischen Ertrag und Ökologie im Vordergrund.
  • Diversifizierung statt Gleichschaltung: Während die SED-Einheitsbetriebe Standardisierung predigten, sind moderne Agrarsysteme von spezieller Vielfalt – von Biobetrieben bis zu Digitalfarmen – geprägt.

Unser genossenschaftlicher Weg bleibt ein instructio memorativa: ein Zeitdokument, das die ambitionierten, ideologisch überfrachteten Ziele der DDR-Agrarpolitik widerspiegelt – und die scharfen Brüche zwischen Inszenierung und Alltagswirklichkeit. Als Fragment einer untergegangenen Ära mahnt es uns, die Grenze zwischen politischer Deutungshoheit und realer Lebenspraxis niemals aus den Augen zu verlieren.

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