Ein Blick in die Mechanismen von Kontrolle und Schikane der NVA

Die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR inszenierte sich nach außen als „Armee des Volkes“, ein Idealbild, das für viele Jahre in der Öffentlichkeit zementiert wurde. Hinter dieser Fassade verbarg sich jedoch eine Armee, die in Wirklichkeit der Partei diente und in der die militärische Dienstleistung weit über das rein taktische Geschehen hinaus als Instrument staatlicher Kontrolle und ideologischer Indoktrination genutzt wurde. Historiker und Zeitzeugen blicken heute zurück auf einen Wehrdienst, der – trotz gewisser Parallelen zu westlichen Wehrpflichtsystemen – in puncto Alltagsrealität und sozialer Dynamik von weitreichender Härte geprägt war.

Kasernierter Dienst und die 85-Prozent-Präsenzregel
Ein zentrales Element des NVA-Dienstes war die Tatsache, dass es sich um einen kasernierten Dienst handelte. Anders als in modernen Armeen, in denen Dienstleistende regelmäßig ihre Familien und Freunde besuchen konnten, waren die Soldaten der NVA nahezu permanent in ihren Kaserneinrichtungen eingebunden. Mit einer Gefechtsbereitschaft von 85 Prozent der Dienstzeit blieb lediglich ein Winzling von 15 Prozent, der für Urlaub, Krankheit oder andere private Bedürfnisse zur Verfügung stand. Diese Regelung bedeutete, dass junge Männer – die oftmals andere Lebensziele wie eine Beziehung, sportliche Aktivitäten oder ein Studium verfolgten – in eine nahezu vollständige Isolation gedrängt wurden. Im Durchschnitt konnten sie erst alle sechs bis acht Wochen einen Anflug von Normalität in Form eines Heimkehrens erleben.

Heimatnahe Einberufung versus politische Kontrolle
Während sich die Bundeswehr bereits seit den 1960er-Jahren um eine heimatnahe Einberufung bemühte, um den Dienstleistenden den Kontakt zur heimischen Umgebung zu ermöglichen, sah die Realität in der DDR ganz anders aus. Obwohl auch im Osten grundsätzlich auf eine regionale Zuteilung abgezielt wurde – etwa durch die Unterscheidung zwischen dem dichter besiedelten Südbereich (Sachsen-Thüringen) und den weniger bevölkerten nördlichen Regionen –, wurden junge Männer systematisch in Einheiten eingesetzt, die geografisch weit von ihrem Herkunftsort entfernt lagen. Dies hatte einen klaren Zweck: Die Distanz sollte nicht nur den Kontakt zur Heimat minimieren, sondern auch eine dauerhafte Überwachung und ideologische Beeinflussung sicherstellen. So diente der Wehrdienst der NVA nicht allein der Verteidigung, sondern vor allem der Umformung junger Menschen zu „sozialistischen Persönlichkeiten“, wie es in den staatlichen Doktrinen propagiert wurde.

Das EK-System: Eine interne Hierarchie der Schikane
Ein besonders erschreckendes Kapitel im NVA-Dienst ist das sogenannte EK-System. Bereits ab dem ersten Tag der Einberufung wurden die jungen Rekruten mit herabwürdigenden Spitznamen wie „Aale“, „Dachse“ oder gar „Glatte“ und „Pisser“ konfrontiert. Diese Bezeichnungen symbolisierten nicht nur die soziale Hierarchie innerhalb der Truppen, sondern waren auch Ausdruck eines durchdringenden Machtmissbrauchs. Im Verlauf der Dienstzeit – etwa in der Mitte des Diensthalbjahres – stiegen die Rekruten in eine Zwischenstufe auf, die oftmals als „Vize“ oder „Zwischenpisser“ tituliert wurde. In den letzten sechs Monaten ihres Dienstes erreichten sie schließlich den Status eines Entlassungskandidaten (EK).

Mit dem Erreichen dieses Status öffnete sich ein Raum für Privilegien, den ältere Soldaten ausnutzten, um ihre Machtposition gegenüber den Neulingen zu festigen. Aufgaben wie der Bau von Betten, das Servieren von Mahlzeiten, das Schuhputzen oder vor allem das lästige und wenig angesehene Revierreinigen – das Reinigen von Toiletten, Stuben und Böden – wurden zur Pflichtaufgabe der Untergebenen. Dieses systematische Ausnutzen führte häufig zu einer Atmosphäre von seelischem Terror, die in manchen Fällen tragisch endete. Es sind Berichte von labilen Soldaten bekannt, die durch die permanente Schikane und den psychischen Druck in einen Zustand der Verzweiflung getrieben wurden, der teils sogar in Selbstmord mündete.

Die Rolle der Vorgesetzten und das Schweigen der Obrigkeit
Auffällig an diesem System war die Passivität der Vorgesetzten. Statt konsequent gegen die Misshandlungen vorzugehen, zogen sich viele Kommandanten nach Dienstende fluchtartig aus der Kaserne zurück – ein Verhalten, das letztlich dem eigenen Selbsterhalt und dem Erhalt der militärischen „Ordnung“ diente. Nur vereinzelt wurde ein Eingreifen dokumentiert, doch insgesamt spiegelte sich hier ein tief verwurzeltes System wider, in dem das EK-Wesen als unverzichtbares Instrument zur Bewertung der Einheiten fungierte. Die politischen und militärischen Führungsstrukturen, unter anderem auch durch den Politarm der SED, waren sich dieses Phänomens voll bewusst, unternahmen jedoch nichts, um dem entgegenzuwirken. Die fehlende Kontrolle trug maßgeblich dazu bei, dass sich ein Klima etablierte, in dem Machtmissbrauch und Schikanen an der Tagesordnung waren.

Unfallstatistiken und der Preis des Drill
Ein weiterer Aspekt, der die Härte des Dienstes in der NVA unterstreicht, ist die Unfallstatistik der 1960er-Jahre. Historische Aufzeichnungen zeigen, dass in den Jahren 1964 und 1965 eine signifikante Anzahl von Unfalltoten bei militärischen Übungen und Großmanövern verzeichnet wurde. Dabei kamen nicht nur technische Mängel oder das überzogene Training zum Tragen, sondern auch die strikte Einhaltung von Sicherheitsvorschriften wurde oft zugunsten eines kriegsnahen Drills vernachlässigt. Interessanterweise hatte die Bundeswehr in diesem Zeitraum fast vergleichbar viele Unfalltote zu verzeichnen, obwohl sie dreimal so groß war wie die NVA. Dies verdeutlicht, dass trotz der offensichtlichen Parallelen in der militärischen Ausbildung die internen Dynamiken und das herrschende Klima in der NVA zu einem signifikant höheren Maß an körperlicher und psychischer Belastung führten.

Wehrersatzdienst – Eine Zwickmühle für kritische Geister
Nicht zuletzt beschäftigt sich der Historiker auch mit dem Thema der Wehrdienstverweigerung. Während in der Bundesrepublik der Dienst mit der Waffe verweigert werden konnte – wenngleich dies gesellschaftliche Konsequenzen hatte –, gestaltete sich die Situation in der DDR deutlich anders. Die NVA war 1962 mit der Tatsache konfrontiert, dass zahlreiche junge Männer grundsätzlich den Dienst verweigerten. Als Antwort darauf wurde der Wehrersatzdienst eingeführt, bei dem die Betroffenen als sogenannte Bausoldaten dienen sollten – ein Dienst, der zwar formal als Soldatendienst gewertet wurde, jedoch faktisch eine klare Marginalisierung bedeutete. Bausoldaten hatten kaum Chancen auf Beförderung oder qualifizierte Ausbildung und wurden von vornherein als politisch unzuverlässig stigmatisiert. Diese Form der Diskriminierung machte deutlich, dass eine Entscheidung für den Wehrersatzdienst gleichbedeutend mit einem Bekenntnis gegen den aktiven Friedensdienst bei der Fahne war. So blieb jenen, die sich gegen den regulären Waffendienst entschieden, im späteren Leben nahezu der Zugang zu staatlicher Förderung, wie etwa Studienfinanzierungen, verwehrt.

Der Wehrdienst in der NVA war mehr als eine militärische Pflicht – er war ein Instrument der staatlichen Kontrolle, das junge Menschen in ein engmaschiges Netz aus Disziplin, Schikane und politischer Indoktrination einband. Die strikten Dienstzeiten, die systematische Ausgrenzung durch das EK-System und die mangelnden Beschwerdemöglichkeiten zeugen von einem System, das weit über die reine Verteidigungsaufgabe hinausging. Während die Bundeswehr in den 60er Jahren bereits Ansätze einer heimatnahen Einberufung und eines transparenten Beschwerdesystems entwickelte, blieb der Dienst in der NVA ein nahezu undurchdringliches System der Disziplinierung.

Für viele ehemalige Soldaten bedeutet die Erinnerung an diese Zeit nicht nur den Verlust von persönlichen Freiheiten, sondern auch den Preis, den eine Generation für die ideologische Ausrichtung eines Staates zahlte. Die heutige historische Betrachtung dieser Phase bietet nicht nur Einblicke in die militärische Praxis der DDR, sondern auch in die gesellschaftlichen und politischen Mechanismen, die hinter den Kulissen wirkten. Es bleibt die Frage, wie sehr die staatliche Kontrolle und der Mangel an individuellen Rechten das Leben junger Menschen prägten – eine Erfahrung, die bis heute in den Erinnerungen der Betroffenen nachhallt.

In der Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit liegt die Aufgabe der heutigen Geschichtsschreibung: Zu verstehen, wie aus einer vermeintlich idealistischen „Armee des Volkes“ ein Instrument der Unterdrückung wurde, und welche Lehren daraus für den Umgang mit staatlicher Macht und individueller Freiheit zu ziehen sind. Die Erinnerung an den Wehrdienst in der NVA mahnt, stets wachsam gegenüber Systemen zu bleiben, die individuelle Rechte zugunsten einer zentralen Ideologie unterdrücken – ein Appell, der auch in der heutigen Zeit nicht an Aktualität verloren hat.

Blogger/Autor/Redakteur/KI-Journalist: Arne Petrich
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