Thüringen, Sachsen und nun auch Brandenburg – die Landtagswahlen in Ostdeutschland sind vorbei, und die AfD hat in allen drei Bundesländern Rekordergebnisse erzielt. Für Wolfgang Thierse, den ehemaligen Bundestagspräsidenten und langjährigen SPD-Politiker, sind diese Wahlergebnisse nicht nur eine politische Enttäuschung, sondern auch eine persönliche Niederlage. Thierse, der in Thüringen aufgewachsen ist und sich im Bundestag stets als „Sprachrohr der Ostdeutschen“ verstand, empfindet es als besonders schmerzlich, dass so viele seiner „Landsleute“ entweder die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gewählt haben – Parteien, die er als extremistisch und demokratiefeindlich einstuft.
Die Ursachen der „unfassbaren Wut“
Im Gespräch mit Anne Will analysiert Thierse die Gründe für den Erfolg populistischer Parteien in Ostdeutschland. Er sieht die wiederholten tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen seit der Wende als Hauptursache für die Verunsicherung vieler Menschen. Die Transformationsprozesse nach 1990, der Wegfall der DDR-Industrie, die massiven Privatisierungen und der Verlust der sozialen Sicherheit hätten tiefe Wunden hinterlassen, die bis heute nicht verheilt seien.
Thierse betont, dass sich viele Ostdeutsche durch den gesellschaftlichen Wandel überfordert fühlen. Der Fall der Mauer und die darauffolgende Vereinigung bedeuteten nicht nur Freiheit, sondern auch die Erfahrung, dass das eigene Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde. Die neuen Unsicherheiten und Verlusterfahrungen haben das Vertrauen in Politik und Institutionen nachhaltig beschädigt. Thierse verweist auf Studien, die zeigen, dass viele Menschen im Osten sich bis heute als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen. Sie haben das Gefühl, dass ihre Lebensleistung nicht ausreichend anerkannt wird und dass die sozialen und wirtschaftlichen Probleme ihrer Region von der westdeutsch geprägten Politik nicht ernst genommen werden.
Diese lang anhaltende Enttäuschung und das Gefühl der Marginalisierung haben laut Thierse einen Nährboden für populistische Parteien geschaffen. Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht nutzen die Unzufriedenheit, um mit einfachen Antworten auf komplexe Probleme zu punkten. „Die Leute glauben diesen Versprechungen“, sagt Thierse, „weil sie einfach nicht mehr weiterwissen.“ Die populistischen Parteien bieten vermeintlich einfache Lösungen für die komplizierten Lebensrealitäten und appellieren an ein diffuses Gefühl der Ungerechtigkeit.
Politischer Protest oder mangelnde Verantwortung?
Für Wolfgang Thierse sind die Wahlerfolge von AfD und BSW jedoch nicht nur Ausdruck von Protest, sondern auch von einer mangelnden Verantwortung der Wählerinnen und Wähler. Er sieht in der Entscheidung für extremistische Parteien auch eine bedenkliche Rücksichtslosigkeit gegenüber den langfristigen Folgen für die Gesellschaft. „Wer solche Parteien wählt, schadet nicht nur der Demokratie, sondern auch sich selbst“, mahnt Thierse. Er warnt davor, dass die Wählerinnen und Wähler durch die Unterstützung von Parteien, die die demokratischen Grundwerte in Frage stellen, letztlich ihre eigene Zukunft gefährden.
„Deutschland lebt davon, dass wir ein weltoffenes Land sind“, sagt Thierse. „Unser Wohlstand hängt davon ab, dass wir ein weltoffenes Land sind und bleiben.“ Diese Weltoffenheit sieht Thierse durch die Erfolge der AfD ernsthaft bedroht. Die Partei stehe für Abschottung, Nationalismus und eine Rückkehr zu autoritären Denkmustern, die nicht nur die internationale Stellung Deutschlands gefährden, sondern auch die innere Gesellschaft spalten. Thierse kritisiert die AfD scharf als eine Partei, die die Ängste der Menschen instrumentalisiert, anstatt Lösungen anzubieten. Sie schüre Ressentiments gegen Ausländer, den Westen und die Demokratie selbst, ohne konstruktive Alternativen aufzuzeigen.
Gefährlicher Abstieg in den Populismus
Besonders besorgt zeigt sich Thierse über die Entwicklung der politischen Kultur in Ostdeutschland. Für ihn sind die Wahlergebnisse ein deutliches Zeichen, dass die politische Mitte in Gefahr ist. „Was wir hier sehen, ist nicht nur ein Protest gegen die Regierenden, sondern auch ein Ausdruck der Ablehnung des demokratischen Systems an sich.“ Thierse kritisiert die Verrohung der politischen Debatte und die Radikalisierung des Diskurses. Die Sprache der Politik werde immer aggressiver, und die Grenzen des Sagbaren verschieben sich stetig nach rechts.
Er verweist darauf, dass die demokratischen Parteien und Institutionen angesichts dieser Herausforderungen gefordert sind, sich klar gegen populistische Tendenzen zu positionieren und die Menschen zurückzugewinnen. Thierse fordert mehr Engagement im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. „Wir dürfen die Menschen im Osten nicht aufgeben“, sagt er. „Wir müssen uns den Ängsten und Sorgen stellen, aber ohne ihnen nachzugeben.“ Dabei gehe es nicht nur um das Aufzeigen von Fakten, sondern auch um die emotionale Ansprache. Die Menschen müssten spüren, dass ihre Anliegen ernst genommen werden und dass die Demokratie handlungsfähig bleibt.
Schlussfolgerung: Ein Weckruf an die Demokratie
Für Thierse sind die jüngsten Wahlerfolge der AfD und des BSW ein Weckruf. Sie zeigen, dass die Demokratie in Ostdeutschland auf einem schmalen Grat wandelt und dass der politische und gesellschaftliche Zusammenhalt brüchiger ist, als viele wahrhaben wollen. Er ruft die demokratischen Kräfte dazu auf, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern den Dialog zu suchen und die Menschen wieder stärker in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen. Die Aufgabe sei es, den Bürgerinnen und Bürgern klarzumachen, dass die Demokratie kein Selbstläufer ist, sondern dass sie von der aktiven Beteiligung und Verantwortung aller lebt.
Für Thierse ist klar: Nur durch ein starkes Bekenntnis zur Demokratie und den offenen Diskurs können die Wählerinnen und Wähler langfristig für die demokratischen Parteien zurückgewonnen werden. Die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sind für ihn daher nicht das Ende, sondern der Anfang eines notwendigen Prozesses der Erneuerung und der kritischen Selbstreflexion – für die Politik und für die Gesellschaft als Ganzes.