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Die bewegte Geschichte der deutschen Seebäder an der Ostsee

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Die Vorstellung, sich in die kühlen Fluten der Ostsee zu stürzen, mag heute für viele ein Synonym für Urlaubsfreude sein. Doch die Beziehung der Menschen zum Meer war lange von Furcht geprägt. Selbst Küstenbewohner mieden das Wasser, Aberglaube über Seeungeheuer und die Gefahr des Ertrinkens hielten die Menschen fern. Strände lagen jahrhundertelang leer und verlassen da. Das Leben an der Küste war für seine Bewohner vor allem hart und beschwerlich. Doch dies sollte sich Ende des 18. Jahrhunderts grundlegend ändern.

Die Geburtsstunde in Heiligendamm
Die Geschichte der deutschen Seebäder beginnt offiziell im Jahr 1793 in Heiligendamm an der Ostsee. Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin gründete hier das erste deutsche Seebad. Dieser wilde Küstenabschnitt vor den Toren Doberans wurde „Heiliger Damm“ genannt. Schon 50 Jahre später entwickelte sich hier die „weiße Stadt am Meer“. Samuel Gottlieb Vogel, der Leibarzt des Herzogs, war maßgeblich daran beteiligt, indem er 1793 Adelige zur heilsamen Wirkung des Meerwassers überredete. Gebadet wurde allerdings nicht in Doberan, sondern im näher am Meer gelegenen Heiligendamm. Die Idee, das Meerwasser zur Kur zu nutzen, gewann Verbreitung, nachdem der englische Mediziner Richard Russell 1753 eine Doktorarbeit über dessen Wirkung veröffentlicht hatte. Deutsche Leibärzte begannen daraufhin, adligen Herrschern eine Kur im Meer zu raten. Das „Planschen in der See“ wurde schnell zum Trend unter Adligen.

Adel, Etikette und strenge Regeln
Innerhalb von nur 20 Jahren entstanden weitere Badeorte an der Ostsee wie Travemünde, Boltenhagen, Warnemünde und Grömitz. Adelsfamilien ließen sich Logierhäuser und Schlösser erbauen. Bald folgte dem Adel das Großbürgertum. Die Aussicht auf ein Bad lockte die feine Gesellschaft ans Meer. Der Aufenthalt diente nicht nur der Gesundheit, sondern war auch ein sommerliches Stelldichein des deutschen und osteuropäischen Adels und später des Großbürgertums.

Das Badeleben war zunächst streng reglementiert. Hofrat Samuel Vogel erließ Baderegeln. So durfte niemand im Zustand beträchtlicher Ermattung kalt baden, musste ausgeruht sein und sich erst abkühlen. Gebadet wurde von Badekarren aus. Diese wurden rückwärts ins Wasser geschoben, sodass die Gäste sittsam bekleidet eintauchen konnten. Die Kleidung spielte eine immense Rolle. Ein häufiger Kleidungswechsel unterstrich den Wohlstand. Ganzkörperbedeckung war anfangs für Frauen Pflicht, was durch schwere Stoffe sogar zu Rettungseinsätzen führen konnte. Eine strikte Trennung der Geschlechter war vorgeschrieben. Auch beim Spaziergang über die Kurpromenade oder dem Besuch des Lesesaals war elegante Kleidung erforderlich. An der Badehose war der soziale Rang schließlich nicht erkennbar – man wusste nicht, ob es der Graf oder sein Diener war. Die Seebäder waren auch ein wichtiger Heiratsmarkt. Mütter versuchten, ihre Töchter an „einen Herrn von Rang“ zu vermitteln, und in manchen Saisons wurden Dutzende Ehen gestiftet.

Die „Weiße Stadt am Meer“ und ihre Architektur
Schon 50 Jahre nach der Gründung Heiligendamms entwickelte es sich zur „weißen Stadt am Meer“. Das 1816 errichtete Kurhaus prägte den Stil. Die Inschrift „Heic te laetitia invitat post balnea sanum“ – „Frohsinn erwartet dich hier, entsteigst du gesundet dem Bade“ – wurde zum Motto. Nach und nach entstanden Logierhäuser, Villen und Cottages. Die sogenannte Bäderarchitektur, die sich vor allem in den Kaiserbädern Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin, sowie in Binz und Kühlungsborn findet, ist berühmt. Es ist eine Mischung aus Klassizismus, Renaissance und Jugendstil. Diese Architektur entstand, als das Großbürgertum die Seebäder entdeckte und sich prächtige Sommerresidenzen bauen ließ. Sie ist verspielter und reicher an Zierrat als Stadtarchitektur und Ausdruck des Wunsches, Freizeit zu verbringen und sich etwas leisten zu können.

Der unverzichtbare Strandkorb
Ein ikonisches Möbelstück deutscher Strände erblickte 1882 in Warnemünde das Licht der Welt. Der kaiserliche Hofkorbmachermeister Wilhelm Bartelmann erfand den Strandkorb. Der Legende nach baute er den ersten Korb für Elfriede Maltzahn, die an Rheuma litt und Sonne und Strand genießen wollte, ohne sich zu verkühlen. Bartelmanns Erfindung verbreitete sich schnell und schützte nicht nur vor Wind und Kälte, sondern bot auch praktischen Nutzen, etwa zur Aufbewahrung von Habseligkeiten. In Deutschlands ältester Strandkorbmanufaktur in Heringsdorf wird dieses Möbelstück bis heute in Handarbeit gefertigt und ist für Tausende Euro zu haben. Der Strandkorb ist bis heute eine Besonderheit heimischer Strände.

Vom Eliten-Treffpunkt zum breiteren Publikum
Über lange Zeit tummelten sich Hochadel und Großbürgertum in den Seebädern, die Verweildauer betrug oft sechs bis acht Wochen. Später kamen mittelständische und kleinbürgerliche Kreise hinzu, aber es handelte sich noch nicht um Massentourismus. Mit der Ausweitung des Publikums, etwa in Orten wie Sellin auf Rügen, erlangten auch neue Seebäder Bedeutung. Der Tourismus brachte Fortschritt. Sellin erhielt schnell getrennte Bäder für Herren, Damen und Familien. Mit Anbauten an die Seebrücke wie Musikpavillon und Lesehalle kam Glamour auf. Sellin galt als familienfreundlich, hier suchte man nicht Stars und Prominente, sondern fand schnell Spielkameraden am Strand.

Liberalisierung des Badelebens und neue Berufe
Langsam liberalisierte sich das Badeleben, insbesondere in den 1920er-Jahren. In Familienbädern wurde die Geschlechtertrennung aufgehoben. Die Bademode wurde lockerer und tolerierte nackte Haut. Damen konkurrierten in unterschiedlichen Kreationen, Klassiker wie das zweiteilige Trikot mit Häubchen kamen in Mode. Für die Herren wurde die Mode freizügiger, sie trugen Trikots mit Einblicken auf den Oberkörper. Der Berliner Maler Ernst Heilemann, bekannt als „Zille von Bansin“, hielt die Badeszenen humorvoll fest. Seine Darstellungen der üppigen Badenixen sorgten im prüden wilhelminischen Preußen sicher für Aufregung. Allerdings schritt der Staat auch regulierend ein: 1932 fand Preußen die Mode zu freizügig, und der „Zwickel-Erlass“ schrieb einen Badeanzug vor, der Brust und Leib bedecken und mit einem Zwickel versehen sein musste. Mit weniger Stoff fielen zumindest am Strand auch Standesdünkel.

Die 20er-Jahre brachten auch die wachsende Bedeutung von Freizeitsport und Spiel. Der Aufenthalt am Meer diente nun auch der Körperertüchtigung. Tennis, Golf und Pferdesport waren in Seebädern, die etwas auf sich hielten, fast immer anzutreffen. Die Rennbahn in Heiligendamm-Doberan ist die älteste auf dem europäischen Festland, Pferderennen fanden hier schon früh statt und regelmäßig bis 1939.

Ein neuer Beruf entwickelte sich durch den Zustrom der Touristen: der Strandfotograf. Hans Knospe in Sellin wurde in den 20er-Jahren zur Legende. Er verkaufte Urlaubsandenken auf steifem Karton, bezahlbar auch für die kleinen Leute. Knospe war Fotograf, Animateur, Entertainer. Er musste nicht wasserscheu sein, obwohl er nie schwimmen lernte. Sein Geschäft boomte, er hatte Angestellte. Der „Eisbärenfotografie“, bei der ein Angestellter im Eisbärenkostüm die Gäste auf der Seebrücke empfing, war in den 20er-Jahren in Mode.

Politische Schatten und dunkle Zeiten
Doch die 20er-Jahre waren nicht nur unbeschwert. Politische Konflikte machten sich bemerkbar. Am Strand wurden nicht nur Strandburgen und -körbe mit Flaggen dekoriert, sondern auch politische Gesinnung gezeigt. Viele Fahnen des Kaiserreiches waren zu sehen. Eine Minderheit wagte es, Schwarz-Rot-Gold, die Farben der Weimarer Republik, zu hissen und musste mit Reaktionen wie Fahnenklau oder Pöbeleien rechnen. Entspanntes, liberales Strandleben gab es nicht für jedermann. Bereits lange vor der Machtergreifung der Nazis wurden jüdische Gäste in deutschen Badeorten verstärkt diskriminiert. Hotels wiesen sie ab, sie wurden beschimpft, und schon lange sah man den Hitlergruß in den Seebädern. Der Bäderantisemitismus prägte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einzelnen Seebädern mit kleinbürgerlichem Publikum wie Zinnowitz und Borkum aus. Traditionsbäder wie Norderney und Heringsdorf galten als „Judenbäder“ wegen ihres eher internationalen Publikums und wurden verhöhnt. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde der Bäderantisemitismus zur alltäglichen Erscheinung in allen deutschen Seebädern.

Das normale Leben veränderte sich drastisch. Statt flanierender Gäste zogen Uniformen im Gleichschritt vorbei. Der winkende Eisbär auf der Selliner Seebrücke wich Soldaten, die von strammen Mädels verabschiedet wurden. Naziprominenz und Hitlergruß ersetzten Badespaß und Urlaubsfreuden. Sellins Seebrücke wurde als U-Boot-Anleger genutzt. Strandfotograf Hans Knospe wurde zum Chronisten dieser neuen Zeit und dokumentierte die Radikalisierung des Lebens.

Während elite Seebäder wie Heiligendamm bedenkenlos von Nazi-Größen wie Göring, Hitler und Goebbels okkupiert wurden, hatten die Nazis andere Pläne für die breite Masse. Unter dem Motto „Kraft durch Freude“ (KdF) sollte Massentourismus für jedermann ermöglicht werden. Dafür wurde in Prora auf Rügen eine gigantische Bettenburg für 10.000 Gästezimmer gebaut, die jedoch nie fertiggestellt wurde. Prora war als Vorzeigeprojekt für die Masse gedacht, während Heiligendamm die Klasse repräsentierte.

Die Zeit der Teilung und des Verfalls
Nach dem Krieg nahm die Geschichte der Seebäder in der DDR eine andere Wendung. Die SED-Führung sah private Hoteliers und Gastwirte kritisch. 1953 wurden in der „Aktion Rose“ Hotels, Pensionen und Gaststätten zwangsenteignet. Ehemalige Kurhotels wurden zu „Erholungszentren“ der Gewerkschaft. Die Ostseeküste wurde zum Grenzgebiet, und an den meisten Stränden konnte man sich nur noch tagsüber frei bewegen. Auch Strandfotograf Hans Knospe musste mit staatlichen Restriktionen leben. Seine Selliner Seebrücke, einst Wahrzeichen und „Krone von Sellin“, verfiel und wurde 1978 abgerissen, was Knospe sichtlich bewegte.

Wiedervereinigung und Wiederaufbau
Nach der Wiedervereinigung waren viele Gebäude in den Seebädern der früheren DDR dem Verfall preisgegeben. Die „weiße Stadt am Meer“ in Heiligendamm bot einen traurigen Anblick. Der Zustand war kritisch, da pflegloser Umgang und Fehlnutzung ihren Tribut forderten. Paradoxerweise half der langsame Verfall zu DDR-Zeiten den ostdeutschen Seebädern. Da das Geld für Abriss und Neubau fehlte, blieb die Bäderarchitektur überwiegend erhalten, während sie in westdeutschen Bädern in den 60er- und 70er-Jahren oft durch moderne Gebäude ersetzt wurde.

Der Wiederaufbau war eine gewaltige Aufgabe. In Heiligendamm begann die Sanierung Mitte der 90er-Jahre mit viel Pomp. Das Land investierte Millionen. Bäderarchitektur zu erhalten, kostet viel Geld. Doch die „weiße Stadt am Meer“ ist heute fast vollständig wiederhergestellt. Allerdings kämpfen einige Häuser, wie das Grand Hotel Heiligendamm (das 2012 insolvent ging), mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, da der Aufenthalt teuer ist und die Konkurrenz groß. Sellins Seebrücke wurde Mitte der 90er-Jahre dank der Bemühungen von Hans Knospe, der seine alten Fotos als Baupläne zur Verfügung stellte, wiederaufgebaut und 1998 fertiggestellt. Knospe, ältester Fotograf Deutschlands und Ehrenbürger von Sellin, erlebte dies noch mit Freude, bevor er ein Jahr später starb.

Der Sehnsuchtsort bleibt
Moderne Seebäder wie Boltenhagen locken heute internationale Gäste auch mit Sportveranstaltungen wie Segelweltmeisterschaften. Solche Veranstaltungen sind ein Segen für die Orte, bringen Aufmerksamkeit und ausgebuchte Betten.

Doch was zieht die Menschen bis heute ans Meer? Es sind vor allem Sonne, Sand und Wasser. Bewegung an frischer Luft. Und nostalgische Erinnerungen. Am Strand werden gestandene Geschäftsleute wieder zu Kindern, spielen im Sand und bauen Burgen. Die meisten Menschen sind von klein auf ans Meer gefahren, und die Rückkehr löst eine Art Regression aus – sie fallen in kindliche Schemen zurück.

Die Seebäder an Ost- und Nordsee sind heute die beliebtesten Urlaubsziele in Deutschland. Mit Millionen Übernachtungen und Tagesausflüglern pro Jahr sind sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Ein Boom, der 1793 mit dem ersten deutschen Seebad in Heiligendamm an der Ostsee begann.

Vertrieben aus der Heimat: Eine Reise in die Vergangenheit mit Margarita Kokos

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Ústí nad Labem, das frühere Aussig an der Elbe – für Margarita Kokos ist es der Ort ihrer Kindheit, der Ort, den sie 1946 unfreiwillig verlassen musste. Geboren 1936 in dieser böhmischen Stadt, verbrachte sie dort ihre ersten zehn Lebensjahre, bevor das Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Leben grundlegend veränderte. Was folgte, war die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten, die nun wieder zur Tschechoslowakei gehörten.

Margarita Kokos wuchs in einem Haus in der Maxstraße 159 auf, wo eine friedliche Hausgemeinschaft aus Tschechen, Deutschen und Österreichern lebte – es gab „keine Panik oder sonstiges“. Sie besuchte die Mädchenschule in Aussig. Doch nach dem Krieg, als die Tschechen das Gebiet wieder einnahmen, mussten die Deutschen gehen.

Die Entscheidung zur Vertreibung wurde von brutalen Ereignissen begleitet. Margarita Kokos erinnert sich an einen Vorfall, bei dem aus einer Richtung, wo sich möglicherweise ein Gestapo-Haus befand, in ihre Wohnung geschossen wurde, während sie aus dem Fenster rief. Die Hauswirtin zog sie schnell zur Seite. Auf der Rasenfläche vor dem Haus wurden damals auch Leute zusammengeschlagen. Nach diesem Erlebnis war klar: „hier können wir nicht mehr bleiben“. Da ihr Vater zu der Zeit noch bei der Wehrmacht war, kam die Annahme der tschechischen Staatsbürgerschaft nicht in Frage. So entschloss sich die Familie, mit einem der Transporte Aussig zu verlassen.

Die Vertriebenen wurden nach Lerchenfeld gebracht, einem Ort, der in Aussig „richtig verrufen“ war. Schon das Wort „Lerchenfeld“ auszusprechen konnte dazu führen, dass man selbst inhaftiert wurde. In Lerchenfeld wurden die Menschen registriert. Jeder durfte lediglich 50 Kilo Gepäck mitnehmen. Schmuck und Sparkassenbücher wurden abgenommen. Anschließend wurden sie in sogenannte Viehwagen verladen. Diese Züge fuhren nach ihrem Wissen acht Wochen lang durch Deutschland, da keine Stadt sie aufnehmen wollte.

Die Endstation nach dieser langen und entbehrungsreichen Reise war Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Dort kamen sie in einem Lager an, einem „Endlager“. Angesichts der wochenlangen Fahrt in den Waggons war es verständlich, dass Krankheiten auftraten. Vom Lager aus wurden die Menschen dann auf die umliegenden Dörfer verteilt. Margarita Kokos’ Vater, 1943 zur Wehrmacht eingezogen, kehrte aus Polen nicht zurück.
Besondere Schrecken rankten sich um das Lager in Lerchenfeld. Dort brachte man Männer und Frauen unter, von denen man wusste, dass sie sich während der NS-Zeit politisch betätigt oder Funktionen innehatten. Ihnen wurde, so erzählte man, nur Wasser und Brot zur Ernährung gegeben. Es gab Prügel und Tritte. Etliche Tote waren zu beklagen. Sogar ihr Onkel, der in Türnitz bei den Parteifreunden kassiert hatte, wurde dorthin gebracht. Er hatte jedoch Glück, überlebte und wurde entlassen. Die Zustände in Lerchenfeld waren streng geheim, aber Details sickerten durch. Erst als ihr Onkel freikam, erzählte er von den „Gräueltaten“. Wenn ein „Riese“ wie ihr Onkel weint, „weiß man, was hier oben los war“. Es herrschte „nur Trauer“ über das, was Menschen angetan wurde, die eigentlich nichts dafür konnten. Denn viele waren gezwungen, sich im NS-Regime zu betätigen, um nicht selbst ins Gefängnis zu kommen.

Ein besonders erschütterndes Ereignis in Aussig war der Vorfall an der Elbe. In der Nähe der Schichtwerke, die Seife und Waschpulver herstellten, gingen plötzlich die Sirenen. Es wurde behauptet, die Deutschen hätten in den Werken Sabotage verübt. Daraufhin liefen Tschechen, die ohnehin Hass auf Deutsche hatten, bis zur Brücke nahe der Schichtwerke. Dort warfen sie jede deutsche Familie, die über die Brücke ging, mitsamt Kinderwagen und allem in die Elbe. Tschechen durften über die Brücke gehen, Deutsche nicht. Diese Gewalt setzte sich in der Innenstadt von Aussig fort, wo Deutsche in die Löschteiche geworfen wurden, die während des Krieges gebaut worden waren. Einige ertranken, andere konnten sich retten. Man sagte damals, es sei richtig gewesen, weil die Deutschen sabotiert hätten. Später stellte sich heraus, dass dies nicht stimmte – es war wohl eine Behauptung, „damit die bloß glauben konnten, die Deutschen vernichten“. Die Leichen der in die Elbe Geworfenen trieben manchmal bis nach Bad Schandau. Es war eine „hohe Zahl“ der Toten. Margarita Kokos denkt beim Blick von der Brücke immer noch daran. Sie erinnert sich, dass die Deutschen als „Menschen zweiter Klasse erklärt“ wurden und ihnen zum Beispiel nicht gestattet wurde, auf dem Bürgersteig zu gehen. Solche Dinge dürfen nie wieder vorkommen.

Für Margarita Kokos und ihre Familie begann nach der Ankunft in Neustrelitz ein neues Leben. Der Bruder ihrer Mutter, der gesucht wurde, wurde in Schönebeck gefunden. Sie versuchten, ebenfalls nach Schönebeck zu ziehen. Dies war sehr schwierig. Die Züge waren so überfüllt, dass Margarita durchs Fenster in den Zug geschoben wurde, während ihre Mutter es gerade noch schaffte, einzusteigen. In Schönebeck angekommen, wurden sie als Flüchtlinge anerkannt, aber die Einheimischen wollten anfangs nicht viel mit ihnen zu tun haben, da der „ganze Friede in der Stadt gestört“ war durch die vielen Neuankömmlinge und ihre Dialekte.

Ein wichtiger Punkt für Margarita Kokos ist die Unterscheidung zwischen „Flüchtlingen“ und „Vertriebenen“. Sie erklärt, dass Flüchtlinge diejenigen seien, die – nicht ohne Grund, aber – einfach losgehen. Vertriebene hingegen wurden „hier rausgeschmissen“. Für sie ist das der Unterschied. Daher haben sie in der Landsmannschaft, dem Vertriebenenverband, immer darum gekämpft, als Vertriebene anerkannt zu werden. Viele, die das Gleiche erlebt hatten, traten dem Verband bei.

Leider ist die Jugend heute nicht mehr so engagiert. Die Mitglieder werden älter, versterben, und der Nachwuchs fehlt. Margarita Kokos sieht, dass solche Organisationen in zehn Jahren möglicherweise nicht mehr existieren werden. Dennoch ist sie froh, noch Teil dieser Gemeinschaft zu sein, sich mit anderen Sudetendeutschen und zehn Frauen, mit denen sie sich trifft, austauschen zu können. Diese Treffen sind wichtig, um die Erinnerung wachzuhalten und über das Erlebte zu sprechen.

Die Geschichte der Vertreibung wird ihrer Meinung nach „sehr vieles totgeschrieben“. Wenn nicht die Zeitzeugen oder „die Alten“ da wären, würde sich niemand mehr damit befassen. Es sei schade, dass das, was aufgebaut wurde, „den Bach runtergeht“, weil sich niemand mehr findet. Es darf „nie in Vergessenheit geraten, was der Krieg gemacht hat mit uns, was die Vertreibung mit uns gemacht hat“.

Um diese Erinnerung zu bewahren, gibt es Projekte, die sich mit Flucht und Vertreibung befassen. Ein solches Projekt hat vor drei Jahren begonnen. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, mit Frau Kokos nach Aussig zu fahren, um ihre Geburtsstadt und die Orte ihrer Geschichte zu besuchen. Ziel ist es, ihr Leben und insbesondere ihren Fluchtweg besser nachvollziehen zu können und zu verstehen, wie die Deutschen dort gelebt und behandelt wurden. Die Planung für diese Reise läuft, um die beschriebenen Orte zu finden und in die Reiseplanung einzubeziehen. Es ist ein Versuch, die Vergangenheit lebendig zu halten und sicherzustellen, dass die Ereignisse von Flucht und Vertreibung nicht vergessen werden.

Vier Jahrzehnte DDR: Ein gescheitertes Experiment zwischen Planwirtschaft und Sozialismus

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern. Die Siegermächte teilten das Land und die Hauptstadt Berlin in vier Besatzungszonen auf: Briten im Nordwesten, Amerikaner im Süden, Franzosen in Rheinland-Pfalz und Teilen Baden-Württembergs sowie die Sowjets im Osten. Auch Berlin wurde in Sektoren unterteilt, die jeweils von einer der Siegermächte besetzt und verwaltet wurden. Ursprünglich war geplant, Deutschland und Berlin gemeinsam zu regieren. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch.

Die Weichenstellung im Osten
Die Sowjets verfolgten das Ziel, Deutschland zu einem kommunistischen Staat zu machen. In ihrer Besatzungszone – dem Gebiet zwischen Oder und Thüringer Wald – gestatteten sie zunächst die Bildung unterschiedlicher Parteien wie KPD, SPD, CDU und LDPD. Diese Parteien waren jedoch im „antifaschistischen Block“ zusammengeschlossen, und die Besatzungsmacht versuchte mit allen Mitteln, eine Konkurrenz von Regierung und Opposition zu verhindern. Die Verwaltung der fünf Länder Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen wurde gleich nach dem Krieg bevorzugt mit Kommunisten besetzt.

Ein entscheidender Schritt zur Errichtung des sozialistischen Staates war die von der sowjetischen Besatzungsmacht erzwungene Vereinigung der KPD und der viel größeren SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im April 1946. Dies geschah unter Drohungen gegen die SPD und Verhaftung widerstrebender Mitglieder. Ab 1948 gab es bei Wahlen nur noch gemeinsame Kandidatenlisten aller Parteien, freie Wahlen mit konkurrierenden Parteien fanden nicht mehr statt.

Die Gründung der DDR und die Einführung des Sozialismus
Während in Westdeutschland 1948 die Währungsreform durchgeführt und 1949 das Grundgesetz verkündet wurde, worauf die Bundesrepublik Deutschland entstand, konzentrierten sich die Sowjetunion und ihre deutschen Vertreter auf den Aufbau eines sozialistischen Staates in der Sowjetischen Besatzungszone. Am 7. Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet. Deutschland war geteilt.

Der Aufbau des Sozialismus verlangte neben der politischen Herrschaft der Kommunisten vor allem die Sozialisierung der Wirtschaft. Die sowjetische Militärregierung führte 1946 eine sogenannte Bodenreform durch, bei der alle Grundbesitzer mit mehr als 100 Hektar enteignet wurden. Das Land erhielten Landarbeiter und Vertriebene, allerdings auf so kleinen Höfen, dass sie nicht existieren konnten – dies war beabsichtigt. Im zweiten Schritt wurden alle Bauernhöfe zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zusammengeschlossen, wodurch der Sozialismus in der Landwirtschaft eingeführt war. Ähnlich wurden Banken und Industrie enteignet.

Nach der Theorie des Marxismus-Leninismus, auf die sich die Machthaber beriefen, sollte die Konzentration aller wirtschaftlichen Macht in der Hand der Arbeiterklasse zu einer Versorgung der Bevölkerung führen, die die westlich-kapitalistische in den Schatten stellte. Die Produktion und Güterversorgung wurde zentral geplant. Die sowjetische Besatzungszone verfügte über eine hochentwickelte Leichtindustrie (Feinmechanik, Optik, Textilindustrie), aber nur geringe Schwerindustrie und wenig Eisenerz und Steinkohle, obwohl Braunkohle, Kupfer und Kali reichlich vorhanden waren. Ohne die anderen Teile Deutschlands konnte die Zone nur unter erheblichen Mängeln produzieren und die Bevölkerung versorgen.

Herausforderungen des sozialistischen Wirtschaftsmodells
Trotz Bemühungen um den Aufbau einer Schwerindustrie und chemischen Industrie, was die Herstellung von Konsumgütern einschränkte, konnte die DDR die westdeutsche Wirtschaft nicht einholen. Im Jahr 1980 erreichte die DDR-Wirtschaft nur 20% der westdeutschen Produktion. Die Produktivität pro Beschäftigtem lag bei nur 56% des westdeutschen Niveaus. Sozialistisches Eigentum gab es als Volkseigentum (staatlich) und genossenschaftliches Eigentum, privaten Besitz nur noch im Einzelhandel, Handwerk und bei kleinen Gaststätten.

Die zentralistische Planwirtschaft traf oft nicht die Wünsche der Bevölkerung oder konnte diese nicht erfüllen, was häufig zu Mängeln in der Versorgung und der sogenannten „sozialistischen Warteschlange“ führte. Steigende Preise für Importe aus dem Westen in den 80er Jahren und nicht entsprechend steigende Gewinne für Ost-Produkte führten zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Nach der Wiedervereinigung zeigte sich, dass die DDR vor dem Konkurs stand und die Industrie überaltert war.

Auch die kollektivierte Landwirtschaft erwies sich als weniger produktiv als die westliche Privatwirtschaft, obwohl Facharbeiter wie Traktoristen und Melker ausgebildet wurden. Zudem nahm die DDR wenig Rücksicht auf den Umweltschutz; Flüsse, Grundwasser und die Ostsee wurden stark verschmutzt.

Staatliche Kontrolle und Überwachung
Der sozialistische Staat verstand sich als Machtinstrument der Arbeiterklasse und kannte weder Opposition noch Gewaltenteilung. An der Staatsspitze stand der Staatsrat (Vorsitzender bis 1989 Erich Honecker), die Regierung bildete der Ministerrat, der alle wesentlichen Fragen der Politik bestimmte. Die Entscheidungen der Regierung folgten den Weisungen des Politbüros der SED. Die Volkskammer, das Parlament, wählte formal die Minister und hatte das Recht Gesetze zu beschließen, doch Gesetze wurden faktisch vom Ministerrat eingebracht. Die fünf Länder wurden 1952 aufgelöst und die DDR in 15 Bezirke eingeteilt, die durch zentrale Weisungen des Ministerrats gesteuert wurden.

Zur Durchsetzung ihrer Herrschaft brauchten die Kommunisten unbegrenzten ideologischen Einfluss. Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film wurden mit Parteigenossen besetzt. Westdeutsche Zeitungen waren im Osten nicht erhältlich, das Hören westlichen Rundfunks oder Sehen westlichen Fernsehens war in den 50er Jahren verboten und wurde mit Gefängnis bestraft. Nach dem Mauerbau tolerierte man westliche Informationen, da niemand mehr dem Sozialismus entfliehen konnte.

Vom Kindergarten an war der Bürger sozialistischer Erziehung ausgesetzt. In der Schule wurde zum sozialistischen Denken erzogen. An Universitäten musste neben dem Fach auch Marxismus-Leninismus und politische Ökonomie studiert werden. Kinder sollten in die Pionierorganisation Ernst Thälmann und Jugendliche in die FDJ eintreten. Kinder wurden früh mit Waffen vertraut gemacht, um sie zu Verteidigern des Sozialismus zu erziehen. Vormilitärische Ausbildung betrieb die Gesellschaft für Sport und Technik; eine Weigerung bedeutete Schwierigkeiten im Bildungsgang und in der Berufslaufbahn. Die politische Einbindung des Menschen in der DDR war total.

Ein Instrument des Klassenkampfes war nach marxistischer Ideologie auch die Justiz, die dem Grundsatz folgte: „Recht ist, was der Klasse nützt“. Die SED bildete klassenbewusste Richter aus. Der Staat nutzte die Volkspolizei (ein Polizist auf 170 Bürger, verglichen mit einem auf 329 in Westdeutschland), um die Bürger zu überwachen.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) festigte die Macht und bekämpfte die „Feinde des Sozialismus“. Das MfS hatte 1983 83.000 hauptamtliche und 173.000 informelle Mitarbeiter – Kollegen bespitzelten Kollegen, Kirchenmitglieder Pfarrer, Freunde Freunde. Konzentrationslager wie Sachsenhausen und Haftanstalten wie Bautzen waren Instrumente des Klassenkampfes. Weit über 100.000 Menschen kamen durch die Kommunisten in Konzentrationslagern und Gefängnissen ums Leben.

Alltag zwischen Mangel und Nischen
Jeder Bewohner der DDR erhielt einen Arbeitsplatz, doch der Staat bestimmte den Arbeitsbereich. Lohnkosten spielten in der Planwirtschaft keine Rolle. Der Lebensstandard zeigte sich in der Arbeitszeit, die für Konsumgüter nötig war. Während Grundnahrungsmittel stark subventioniert und billig waren (Roggenbrot kostete den Leipziger 6 Minuten Arbeitszeit, den Kölner 13 Minuten), waren importierte Waren oder als Luxus geltende Güter extrem teuer. Für 250g Bohnenkaffee arbeitete ein Leipziger 4 Stunden 20 Minuten, ein Kölner 24 Minuten. Ein Auto kostete einen Leipziger mehr als sechsmal so viel Arbeitszeit wie einen Kölner.

Dienstleistungen und Mieten waren hingegen sehr günstig. Die Kaltmiete einer Zweizimmerwohnung kostete einen DDR-Bewohner nur 14 Stunden 25 Minuten Arbeitszeit, einen Westdeutschen fast das Doppelte. Allerdings waren die Wohnungen im Westen deutlich besser ausgestattet; die niedrigen Mieten brachten keine Mittel für Reparaturen oder Modernisierungen ein. 1983 hatte ein DDR-Einwohner 25 qm Wohnfläche zur Verfügung, ein Westdeutscher 34 qm. Nur 36% der Wohnungen hatten Zentralheizung, 68% Bad oder Dusche, 60% Toilette in der Wohnung. Telefon galt als Luxus (22 von 100 Haushalten in der DDR, 89 im Westen). Autos waren selten (42 von 100 Haushalten in der DDR, 78 im Westen), dafür gab es viele Motorräder.

Die Gesundheitsfürsorge war unentgeltlich. Der Staat verlangte etwa 10% des Lohnes für Gesundheits-, Sozial- und Altersfürsorge, was aber nur die Hälfte der Ausgaben deckte. Trotz Fürsorgemaßnahmen war die umfassende Kontrolle allgegenwärtig. Auf 200 Einwohner kam ein hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter, auf 96 Einwohner ein informeller. Der Bürger war fortwährender politischer Propaganda ausgesetzt.

Die größten geschützten Freiräume vor staatlicher Überwachung boten Ehe und Familie. Partnerschaftliche Beziehungen galten als Nischen der Eigenständigkeit. Die Berufstätigkeit beider Ehepartner war üblich und durch die geringen Löhne notwendig. Daher war die DDR reichlich mit Kinderkrippen und Kindergärten ausgestattet, die auch der sozialistischen Erziehung dienten. Die Erwerbstätigkeit der Frauen führte jedoch zu einem Geburtenrückgang, dem der Staat mit Hilfen entgegenzuwirken suchte. Trotzdem wurden zu wenig zweite und dritte Kinder geboren, und die Bevölkerungszahl sank.

Auch der Lebensabend alter Menschen gestaltete sich schwierig. Rentner machten einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus (17,3% 1982), was die Staatskasse belastete. Renten waren entsprechend gering (41% des Einkommens eines Berufstätigen im Osten vs. 69% im Westen).
Die Wohnung war für Menschen jeden Alters der geschützte Freiraum, wo man das staatlich unerwünschte, aber beliebte Westfernsehen genießen konnte, das die im Osten fehlenden Güter zeigte. Neben Fernsehen waren Arbeit im Garten oder Fahrten zu gemieteten Grundstücken (Datscha) beliebte Freizeitbeschäftigungen. Staatlich erlaubtes Freizeitprogramm war oft politisch gefärbt. Auch der Urlaub stand unter staatlicher Fürsorge des FDGB, meist in betriebseigenen Urlaubsheimen im Inland. Begehrte, aber seltene Reisen führten ins sozialistische Ausland. Reisen ins westliche Ausland waren durch Stacheldraht und Minen entlang der Grenze verboten.

Kultur und Spitzensport
Die Kultur galt nach marxistischer Lehre als „Überbau“ des „wirtschaftlich-politischen Unterbaus“ und sollte stets das Klasseninteresse und den politischen Willen widerspiegeln. Die SED beanspruchte die führende Rolle und beaufsichtigte das Schaffen der Künstler; wer sich nicht fügte, wurde verfolgt, wer sich anpasste, erhielt ein Gehalt. Kulturelles Erbe wurde der Ideologie angepasst.

Während die DDR in Kultur, Wirtschaft und Lebensstandard nicht mit dem Westen mithalten konnte, erlangte sie im Spitzensport überragende Erfolge. Die SED setzte alles daran, auf diesem Feld die Überlegenheit des Systems zu beweisen. Wichtigste Mittel waren frühzeitige Talentsuche, staatliche Förderung, spezielle Sportschulen und der bedenkenlose Einsatz von Doping, auch männliche Hormone bei Sportlerinnen. Die DDR übertraf Westdeutschland bei Olympischen Spielen deutlich.

Der langsame Zerfall und das Ende
Weder die Einschränkungen demokratischer Freiheiten noch die Mängel in der Versorgung nahm die Bevölkerung der DDR ruhig hin. Ein Aufstand im Ost-Berlin am 17. Juni 1953 weitete sich auf die gesamte DDR aus und musste von sowjetischen Panzern unterdrückt werden. Eine massive Fluchtbewegung nach Westdeutschland setzte ein; bis 1961 flohen über drei Millionen Menschen. Aus Furcht vor dem „Ausbluten“ baute die DDR am 13. August 1961 eine Mauer um Westberlin und zog Stacheldraht quer durch Deutschland. Der kommunistische Zwangsstaat konnte sich nur behaupten, indem er seine Staatsbürger einsperrte.

Im Mutterland des Sozialismus, der Sowjetunion, hatten mit Gorbatschows Reformen bereits die Abkehr von Marx, Engels und Lenin begonnen. Es wurde allen klar, die ihn erlebt hatten, dass der Sozialismus versagt hatte. In der DDR bildeten sich ab 1989 Gruppen in den Kirchen, die Menschenrechte, Umweltschutz und Friedenspolitik diskutierten und demokratische Reformen forderten. Erich Honecker feierte noch den 40. Jahrestag der DDR, doch die Mauer bröckelte.

Das Schicksal der DDR vollzog sich rasch. Als Ungarn am 11. September 1989 begann, den Grenzzaun nach Österreich zu durchschneiden, setzte eine Reisewelle von DDR-Bürgern ein. Tausende gelangten über Österreich in die Bundesrepublik. Nach einem Reiseverbot nach Ungarn, Polen und Tschechoslowakei stürmten DDR-Bürger die bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag.

Der Druck der Bevölkerung nahm gewaltig zu. Demonstrationen wurden anfangs noch gewaltsam aufgelöst. Doch am 9. Oktober demonstrierten 70.000 Menschen in Leipzig, am 16. Oktober schon 120.000. Die Regierung musste handeln; Honecker, der den Einsatz von Panzern gefordert hatte, wurde am 18. Oktober ersetzt. Die Armee weigerte sich, gegen Landsleute vorzugehen.

Die Menschen forderten nicht nur Honeckers Abgang, sondern das Ende des gesamten Sozialismus. Die Demonstrationen rissen nicht ab. Am 23. Oktober demonstrierten 300.000 in Leipzig für freie Wahlen. Als am 3. November eine halbe Million Menschen in Berlin das Ende der Alleinherrschaft der SED forderten, wusste die Regierung, dass die Stunde für ihren Sozialismus geschlagen hatte.

Am 9. November öffneten sie die Mauer und die innerdeutsche Grenze. Tausende Ostdeutsche strömten in den Westen. In der DDR bildeten sich Oppositionsgruppen und eine sozialdemokratische Partei wurde wiedererrichtet. Am 18. März 1990 wählte die Bevölkerung der DDR erstmals ein demokratisches Parlament.

Die Sowjetunion stellte sich einer Wiedervereinigung nicht mehr entgegen. In den 2+4-Verhandlungen stimmten die vier Siegermächte dem Zusammenschluss Deutschlands zu. Zwischen DDR und Bundesrepublik wurde eine Währungsunion beschlossen und am 1. Juli 1990 die D-Mark in der DDR eingeführt. Die Läden füllten sich mit westlichen Waren. Im August 1990 stimmte die frei gewählte Volkskammer für den Beitritt zur Bundesrepublik. Die Symbole des Kommunismus wurden beseitigt – er hatte sich ad absurdum geführt.

Am 3. Oktober 1990 war ein souveränes Deutschland wiedervereinigt. Eine der leidvollsten Epochen der deutschen Geschichte war zu Ende.

Christoph Hein und die neue DDR-Geschichte: Ein Roman gegen das etablierte Bild

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Christoph Hein, eine einst zentrale Figur der DDR-Literaturszene, hat mit seinem jüngsten Roman „Das Narrenschiff“ einen gewichtigen Band vorgelegt, der das etablierte Geschichtsbild der Deutschen Demokratischen Republik herausfordern will. In einer Zeit, in der der öffentliche Raum laut Hein erneut von Propaganda und Zensur beherrscht werde, schickt sich der über 80-jährige Autor an, die Geschichte neu zu schreiben.

Hein sieht sich dabei in einer langen Tradition von Romanschreibern wie Homer, Tolstoi oder Dostojewski, die seiner Meinung nach schon immer dafür zuständig waren, Geschichte zu schreiben. Historiker hingegen seien, so Hein (ohne direkt Institutionen wie die Enquete-Kommissionen oder die Gauck-Behörde zu nennen), immer Opfer politischer Einflussnahme. Er stellt die These auf, dass mit viel politischem und steuerlichem Geld ein ganz bestimmtes DDR-Bild im kollektiven Gedächtnis festgeschrieben wurde, verdichtet auf Schlagworte wie Diktatur, Mauer, Stasi, Totalüberwachung und Mangelwirtschaft.

Dieses offizielle Bild stimme nur bedingt mit den Wirklichkeiten in der DDR und den Erinnerungen der allermeisten Bürger überein. Während eine kleine Gruppe von Menschen, die in der DDR verfolgt oder zur Ausreise gezwungen wurden, dieses Bild bestätigen mag, betreffe die Totalüberwachung nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung. Michael Beleites, ein Biologe und ehemaliger Stasi-Unterlagenbeauftragter in Sachsen, schätzt, dass 96% der DDR-Bürger nichts mit dem Überwachungsapparat zu tun hatten. Er beziffert die Zahl der aktiven Überwacher und der Opfer von Zersetzung auf jeweils etwa 2%. Die Autorin Daniela Dahn spricht von 80% der DDR-Bürger, die ihrer Meinung nach nichts mit Staatssicherheit und Überwachung zu tun hatten.

Hein selbst wies bereits 2019 in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung auf das Missverhältnis zwischen persönlicher Erinnerung und offizieller Erinnerung hin. Dabei kritisierte er den Oscar-gekrönten Film „Das Leben der anderen“ scharf. Obwohl er nach eigenen Angaben Vorbild für die Schriftstellerfigur im Film war und dem Regisseur über seine Erfahrungen berichtete, erkannte er seine Geschichte im fertigen Film nicht wieder. Hein bezeichnete den Film als „Gruselmärchen“, das nichts mit der DDR der 1980er Jahre zu tun habe und eher an Mittelerde erinnere. Er beschreibt eine Episode, in der Studenten die Erinnerungen eines Professors an Hein für falsch hielten, weil diese nicht mit dem übereinstimmten, was sie im Kino gesehen hatten. Hein zieht daraus die Quintessenz, dass er als Zeitzeuge seine Erinnerungen offenbar an das anpassen müsse, was im Film erzählt wurde. Der Oscar für „Das Leben der anderen“ sei kein Zufall, sondern der Wunsch von „Erinnerungs-“ und „Gedächtnisarbeitern“ auf Steuertöpfen gewesen, einen Gegenpol zu spielerischeren Filmen wie „Good Bye, Lenin!“ und „Sonnenallee“ zu setzen.

Im „Narrenschiff“ greift Hein tief in die DDR-Geschichte ein und bietet alternative Interpretationen bekannter Ereignisse:

• Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: Dieser Übergang, der in der Literatur oft mit Moskauer Einfluss (insbesondere Breschnjews Unterstützung für Honecker) erklärt wird, wird bei Hein zu einem regelrechten Drama. Erich Honecker soll mit bewaffneten Sicherheitsleuten Walter Ulbricht in dessen Wohnsitz aufgesucht, Ulbrichts Leibgarde entwaffnet und ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen haben, eine Rücktrittserklärung zu unterschreiben. Hein beruft sich dabei auf Markus Wolf, den ehemaligen Chef der Auslandsaufklärung der Staatssicherheit (im Roman als Markus Fuchs auftauchend), der ihm diese Geschichte Anfang der 70er Jahre erzählt habe.

• Der Mauerbau: Anders als in den meisten Geschichtsbüchern dargestellt, sei der Mauerbau bei Hein eine Idee aus Washington. Die Romanfiguren, nahe der DDR-Spitze, spekulieren seit den späten 1950er Jahren über eine Schließung der Grenze, um die Abwanderung („Brain Drain“) zu stoppen. Sie fürchten jedoch eine Reaktion Moskaus und der USA. Laut Hein fährt ein hoher US-Gesandter nach Moskau und signalisiert Zustimmung zum Mauerbau, da die Bundesrepublik durch die Abwanderung destabilisiert werde. Moskau zweifele zunächst, doch als US-Präsident Kennedy einen Topdiplomaten im Fernsehen eine Mauer als „keine schlechte Idee“ bezeichnen lässt, gibt Moskau grünes Licht, und die SED setzt die vorbereiteten Maßnahmen schnell um.

• Die Ostgebiete: Christoph Hein deutet an, dass die SED über den Gründungstag der DDR hinaus an der Idee festhielt, dass die früheren deutschen Ostgebiete wie Pommern und Schlesien zur DDR gehören sollten. Das Argument sei gewesen, dass die kleine DDR ohne diese Gebiete im Konkurrenzkampf mit der Bundesrepublik nicht lebensfähig sei. Wiederholte Vorstöße in Moskau bei Stalin seien jedoch abgewiesen worden, da Polen für Gebiete im Osten Polens entschädigt werden müsse. Die Festschreibung der Oder-Neiße-Friedensgrenze sei für 10 bis 12 Millionen Ostvertriebene ein schwerer Schlag gewesen. Eine Figur im Buch bemerkt: „Landraub verheilt nie“.

Im Zentrum des Romans stehen vier zentrale Figuren, deren Leben exemplarisch für die Aufbaugeneration der DDR erzählt werden. Sie werden nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt und sterben fast alle 1989. Laut Hein trägt die Generation, die in den späten 40ern und frühen 50ern an die Schaltstellen kam, die DDR und ist 1989 altersmäßig und intellektuell am Ende. Die Figuren – ein Bergbauingenieur, seine Frau, ein Ökonomieprofessor und ein jüdischer Intellektueller – verkörpern unterschiedliche Wege der Anpassung und des Überlebens im System. Der Bergbauingenieur durchläuft die Phasen vom Fahrradarbeitersohn im Ruhrgebiet über den strammen Nazi, der bis vor Moskau marschiert, bis zum überzeugten Kommunisten, der selbst nach Degradierung seinen Glauben nicht verliert. Seine Frau heiratet ihn aus Versorgungsgründen, da er Sicherheit und Wohlstand bieten kann. Sie macht eine bemerkenswerte Karriere von der Schreibkraft zur Verantwortlichen für die Kinderfilmproduktion, tritt in die Partei ein und wird Aufpasserin.

Ein zentrales Motiv bei Hein ist die Anpassung („Anpassung führt zur Sicherheit“). Dies sei, so die Interpretation im Quelle, ein Muster, mit dem Hein die DDR erklärt und das auch auf die Gegenwart übertragbar sei. Wer in der heutigen Gesellschaft seine Position halten oder sozialen Aufstieg erreichen wolle, müsse sich anpassen und auch mal vorgegebene Formeln nachbeten.

Der jüdische Intellektuelle Kuckuck, eine international bekannte Kapazität, tut sich schwer. Er war während der NS-Zeit bei den Exilkommunisten in Großbritannien und kehrt nach Deutschland zurück. Hein erzählt am Beispiel dieser Figur, wie schwierig es für Intellektuelle war, die nicht bereit waren, den Preis der Anpassung zu zahlen, in einem der deutschsprachigen Länder Fuß zu fassen. Obwohl er in der DDR eine Professur versprochen bekommt, wird er hingehalten, da er als „unsicherer Kantonist“ gilt, möglicherweise wegen seiner Vergangenheit in Großbritannien oder seiner Homosexualität. Er wird schließlich Chef der Kinderfilmbehörde, obwohl er sich nicht dafür interessiert, und bekommt die aufgestiegene Schreibkraft als Aufpasserin zur Seite gestellt. Versuche, in der Bundesrepublik, der Schweiz oder Österreich eine Professur zu bekommen, scheitern ebenfalls an seiner kommunistischen Vergangenheit.

Der vierte Charakter, ein Wirtschaftsprofessor, kommt direkt aus dem Moskauer Hotel Lux, dem Wohnheim der Kommunistischen Internationale. Er weiß um die Geschehnisse dort, hat aber ein feines Gespür dafür entwickelt, was im System möglich ist, ohne seine Position zu verlieren. Als Mitglied des ZK der SED weiß er um die Direktiven von Ulbricht und Honecker und rät seinen Freunden zum Lavieren, um ihren bescheidenen DDR-Wohlstand nicht zu verlieren.

Alle diese Hauptfiguren sind laut Hein 1989 am Ende; niemand könnte das Experiment DDR verteidigen oder für das Land einstehen, um eine Übernahme durch die Bundesrepublik zu verhindern. Hein zeichnet damit ein Bild der DDR, das die Führung nicht als Kriminelle, sondern als Narren darstellt, die auf einem von Anfang an manövrierunfähigen Schiff reisten – das Unternehmen DDR sei zum Scheitern verurteilt gewesen.

Neben diesen zentralen Figuren und Ereignissen finden sich im Roman auch Details zur späten DDR-Wirtschaft, etwa der Tauschkurs von 10 Ostmark zu 1 Westmark auf dem Weltmarkt, der laut dem Ökonomieprofessor bei einem Fluten der Wechselstuben mit Milliarden schnell auf 1:15 oder 1:20 gestiegen wäre. Auch die Zensur wird thematisiert, etwa die Abschussliste, auf der laut Hein 1988 die Wochenzeitung „Sonntag“ stand, deren Chefredakteur Kuckuck wird.

Mit „Das Narrenschiff“ legt Christoph Hein somit einen Roman vor, der weit mehr als eine literarische Erzählung sein will; es ist der Versuch, die Geschichte der DDR neu zu denken und das offiziell verordnete Bild durch persönliche Erinnerungen und alternative Deutungen zu ergänzen oder zu korrigieren.

Wendegeschichten aus Riesa – Hans-Peter Klarowitz erinnert sich

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Hans-Peter Klarowitz, geboren im Juni 1942, hat sein gesamtes Leben in Riesa verbracht. Als Zeitzeuge hat er den tiefgreifenden Wandel vom sozialistischen System der DDR zur Bundesrepublik miterlebt und geprägt. Seine Erzählungen geben Einblicke in eine Karriere unter planwirtschaftlichen Bedingungen, die Herausforderungen und Konflikte des alten Systems sowie die oft turbulenten Jahre des Übergangs nach 1989.

Klarowitz‘ beruflicher Weg begann in Riesa, wo er zunächst als Handwerker oder später im Stahlwerk tätig war. Parallel zur Arbeit bildete er sich intensiv weiter: Er studierte im Abendstudium zum Diplomingenieur und absolvierte die Handwerksmeisterschule. Über 15 Jahre arbeitete er im Betrieb „Schneider“, der später in Volkseigentum überging. Anfang der 1970er Jahre, im Zuge der „großen Kombinatsbildung“, wurde er zum Betriebsdirektor ernannt. In dieser Funktion war er auch als Sachbearbeiter für Ersatzteile tätig und konnte dafür viel in der DDR herumreisen.

Trotz seiner Position und persönlichen Entwicklung war Klarowitz kein stiller Beobachter. Er betont zwar, dass es ihm in der DDR „nicht schlecht gegangen“ sei und er die DDR nicht wiederhaben wolle, aber er wünscht sich „vieles Gute aus der DDR“ zurück. Er gehörte zu denen, die „viel Eingaben und Beschwerden gemacht“ haben. Im Betrieb sah er die Probleme deutlich: Die Planerfüllung war schwierig, die Zielzahlen wurden nicht erreicht. Der Betrieb hatte einen Plan von 37 Millionen Mark, kam aber nur auf 20 Millionen. Gründe dafür waren unter anderem weniger Arbeitskräfte und die Unmöglichkeit, selbstständig zu investieren. Die Technik, die vom Kombinat kam, war oft „marode“. Klarowitz ging sogar so weit, einen Brief an Erich Honecker zu schreiben. Daraufhin wurde er eingeladen, aber das Gespräch endete jäh mit der Frage, ob er „denn überhaupt noch von Frieden“ sei – für Klarowitz ein „Schlagargument“, das die Aussichtslosigkeit der Kritik im System verdeutlichte. Obwohl „Kritik und Selbstkritik“ als Parteigesetz galten, wurde Kritik in der DDR nicht geduldet; es hieß „entweder Ruhe oder Raus“. Auch von der Kreisleitung gab es keine Anleitung oder Information mehr; jeder sei sich selbst überlassen gewesen. Dennoch organisierte er Veranstaltungen, bei denen offen geredet und kritisiert werden konnte, auch wenn viele Kollegen Angst hatten.

Mit der Wende begann die Zeit der Reprivatisierung. Klarowitz entschied sich, mit einem Teil der Belegschaft einen eigenen Betrieb zu gründen. Zunächst war dies ein Treuhandbetrieb. Man sei gut zurechtgekommen, auch weil man noch unvollendete Produktionen aus DDR-Zeiten hatte, die man nun abrechnen konnte. Obwohl man sich im neuen Rechtssystem zurechtfand, fühlten sich viele Bürger der DDR, so Klarowitz, „naiv gutgläubig und dumm“ im Umgang mit Rechtsanwälten und den neuen Regeln. Er suchte einen Investor aus dem Westen und fand die Firma Fuchs aus Nürnberg. Diese beschreibt er als „Kapitalisten“, die nur Geld machen wollten. Persönlich lebte er zu dieser Zeit in einem Haus der Stadt, das „runtergewirtschaftet“ war und ein Trockenklo besaß. Die Organisation der Ersatzteilbeschaffung war im neuen System eine andere als in der DDR, wo man versuchte, sich auf wenige Sortimente zu konzentrieren.

Bei einem Treffen in Dresden wurde Klarowitz nach dem jährlichen Gewinn seines Betriebs gefragt, der über 10 Prozent lag. Man legte ihm nahe, sich nicht selbstständig zu machen. Er empfand die Gesprächspartner als „klein geistig“ und hatte das Gefühl, dass man mit ihnen machen konnte, was man wollte, weil man sich nicht traute, Widerworte zu geben. Schließlich wurde ihm eine Abfindung von knapp 200.000 D-Mark angeboten und er „durfte gehen“. Eigenen Angaben zufolge ging es ihm danach gut; er erhielt 32 Monate lang 3200 D-Mark Arbeitslosengeld.

Heute blickt Hans-Peter Klarowitz differenziert auf die Zeit zurück. Er wünscht sich die DDR nicht zurück, vermisst aber bestimmte Aspekte. Dazu zählt er das Gesundheitswesen, wo es keine Zwei-Klassen-Medizin gab. Auch das Bildungswesen und das Sportwesen hebt er positiv hervor. Sehr kritisch sieht er das heutige Beamtensystem. Er ist der Meinung, jeder solle sein Geld selbst verdienen. Er kritisiert, dass Beamte heute „Bomben Geld“ bekämen, während Arbeiter ihre Stellen verlören und sich niemand darum kümmere. Das sei für ihn keine soziale Gerechtigkeit.

Hans-Peter Klarowitz‘ Erzählung ist ein persönliches Zeugnis des Wandels und zeigt, wie die Erfahrungen aus beiden Systemen das heutige Urteil prägen.

Schwarze Pumpe: Vom DDR-Energiegiganten zur Suche nach der Zukunft in der Lausitz

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Einst war es das Herz der Energieversorgung der DDR, ein Ort, der fast das gesamte Land mit Strom, Briketts und Gas aus Braunkohle belieferte und damit eine einzigartige Stellung in Europa einnahm. Heute steht in Schwarze Pumpe das höchste Gebäude Brandenburgs, das Braunkohlekraftwerk, gelegen in der Lausitz zwischen Spremberg und Hoyerswerda. Dieses Areal, ein Relikt des fossilen Zeitalters, ist nicht nur ein Ort der Industriegeschichte, sondern auch Zeuge immenser Umweltbelastungen und erzählt die Geschichte eines Aufbruchs, der Tausende Menschen in die Lausitz lockte und für eine Atmosphäre sorgte, die als „Wildwest tief im Osten“ beschrieben wird.

Der Schatz unter den Kiefern
Im Mai 1955 wurde ein Fremder durch die endlosen Kiefernwälder der Lausitz chauffiert. Sein Ziel: ein Gasthaus in der Trattendorfer Heide. Was für den Besucher, den DDR-Minister für Schwerindustrie Fritz Selbmann aus Berlin, wie eine „Kieferneinöde“ wirkte, barg einen Schatz: Braunkohle. Mit der Teilung Deutschlands war der Zugang zur Steinkohle aus dem Ruhrgebiet und dem Saarland blockiert, und Importe reichten nicht aus. Die DDR-Regierung plante hier ein riesiges Energiekombinat, samt gigantischer Tagebaue, das förmlich aus dem Boden gestampft werden sollte. Aus Braunkohle sollten erstmals in einem integrierten Werkskomplex nicht nur Briketts, sondern vor allem Strom, Gas und Koks erzeugt werden. Dies war von entscheidender Bedeutung, da es in Ostdeutschland keinen hochofenfähigen Koks gab, der ohne Stahl keinen Aufbau ermöglichte.

Der Name des Werkes stammt von eben jenem Gasthaus „Schwarze Pumpe“, in dem Minister Selbmann 1955 abstieg und mit Einheimischen ins Gespräch kam, um die großen Pläne vorzustellen. Bald zog der Aufbau des geplanten Energiegiganten in das Gasthaus ein.

Gigantische Dimensionen und harte Arbeit
Das Großvorhaben kostete die DDR in den kommenden Jahren 1,1 Milliarden Mark. Drei Baustufen waren geplant. Günther Seifert, der 1961 als Student die Riesenbaustelle besuchte und später dort arbeitete, war tief beeindruckt: Die Dimensionen waren gewaltig, das Werksgelände 6 km lang und 3 km breit. Man spürte, dass hier Zukunft aufgebaut wurde.

In nicht einmal 10 Jahren entstanden drei Brikettfabriken, drei Großkraftwerke, eine Aufbereitungsanlage für Braunkohlen-Hochtemperaturkoks und ein Werk für die Produktion von Stadtgas. Doch die Bauzeit war viel zu knapp bemessen, es gab Verzögerungen und Probleme mit den Veredlungstechnologien. Günther Seifert begann 1963 im Alter von nur 28 Jahren als Hauptabteilungsleiter im Gaswerk, konfrontiert mit einem Generalproblem: Die Technologien waren alle nicht erprobt. Die Vorbereitungszeit von 1955 bis zur Inbetriebnahme des Gaswerkes 1964 hatte als Entwicklungszeit nicht ausgereicht. Der physische Einsatz Tag und Nacht war gefordert. Der Jahrhundertwinter 1963 mit Dauerfrost erschwerte die Arbeiten zusätzlich.

Das Gaswerk, fertiggestellt im Frühjahr 1964, sollte fast das Gesamtaufkommen der DDR an Stadtgas aus Braunkohle produzieren. Gasleitungen wurden im ganzen Land verlegt, der Termindruck und die Erwartungen waren gewaltig. Zweifel am Gelingen waren nicht erlaubt; die junge DDR brauchte Erfolge und wollte Heldengeschichten schreiben. Arbeiter, deren Hände dies ermöglichten, erhielten staatliche Auszeichnungen, da sie halfen, die DDR trotz fehlenden Ruhrgebietes zu einem hoch entwickelten Industriestaat zu machen.

Ein Mythos und seine Schattenseiten
Der Cottbuser Fotograf Erich Schutt dokumentierte über Jahrzehnte den Aufbau und das Arbeitsleben, setzte den Menschen, die hier unter Anstrengungen und Entbehrungen lebten und arbeiteten, ein Denkmal. So entstand der Mythos Schwarze Pumpe – einer neuen Welt mit sozialistisch arbeitenden, lebenden und lernenden Menschen.

Dieser Mythos bekam jedoch Risse. Der DEFA-Film „Spur der Steine“ (1966) zeigte eine kritische Sicht auf die Aufbaujahre, die Planwirtschaft wurde kritisch aufs Korn genommen, was zum Verbot des Films führte. Manfred Krug verkörperte als Brigadier Baller einen Arbeiter, der bei den DDR-Oberen auf Ablehnung stoßen musste, auch wegen der nicht seltenen Ausschweifungen und nächtlichen Exzesse. Die Kneipen in Spremberg und Hoyerswerda waren gut gefüllt, der hart verdiente Lohn wurde in Bier und Schnaps umgesetzt.

Gutes Geld und neuer Wohnraum lockten die meisten Menschen an. In Hoyerswerda entstand ab 1957 eine ganz neue Stadt aus Plattenbauten, die vom 7.000-Einwohner-Ort zum städtebaulichen Experimentierfeld wurde. Man baute schnell, um die Stadt wachsen zu lassen, und bis in die 80er Jahre entstand Wohnraum für mehr als 70.000 Menschen. Ein besonderer Standard waren zum Beispiel fernbeheizte Wohnungen mit warmem Wasser aus der Wand und Aufzügen.

Landschaftszerstörung und Umweltprobleme
Doch Schwarze Pumpe schuf nicht nur Existenzen, sondern zwang auch viele, Haus und Hof zu verlieren. Das Werk benötigte Unmengen an Braunkohle; die Fördermenge mehr als verdoppelte sich allein von 1955 bis 1960. Felder, Wald und Dörfer mussten neuen Tagebauen weichen. Besonders betroffen war das angestammte Siedlungsgebiet der Sorben, deren Sprache und Kultur erheblich unter der Energiepolitik der DDR litt. Bis 2006 verschwanden mehr als 135 Gemeinden in der Lausitz durch den Bergbau, ein Großteil im sorbischen Siedlungsgebiet.

Schwarze Pumpe entwickelte sich zu einem der größten Umweltverschmutzer der DDR. Reiner Großer, der Anfang der 80er Jahre in Sprewitz (ein Dorf direkt vor der Haustür des Werkes) sein Haus baute, erlebte die Luftverschmutzung als kaum auszuhalten. Es kam sehr viel Kohlenstoff herunter, der mit Wasser von Flächen und Wänden abgewaschen werden musste – die Wasserkosten übernahm Schwarze Pumpe.

Ein weiteres Problem war die Gasherstellung aus Braunkohle mittels Druckvergasung. Obwohl das Verfahren technisch weiterentwickelt wurde, verursachte die Lausitzer Kohle riesige Staubmengen. Ein handfestes Problem war der anfallende Teerschlamm. Der Platz für Teerdeponien auf dem Werksgelände reichte nicht, und bis zu 700.000 Tonnen Teer mussten im Umland als Teiche gestapelt werden. Dies verursachte einen riesigen Gestank, eine Gefahr für das Grundwasser und beeinträchtigte die umliegenden Dörfer wie Sprewitz, Terpe und Zerre, die bald als das „schwarze Dreieck“ bezeichnet wurden. Reiner Großer beschreibt den Geruch im Sommer als so stark, als würde man neben einer Asphaltmaschine laufen.

Zusätzlich fuhr das Werk Ende der 70er Jahre immer öfter auf Verschleiß, um für marode Energiewerke anderswo einzuspringen. Filter, die für 17 Tonnen Durchlass ausgelegt waren, wurden mit 22-23 Tonnen belastet. So gingen pro Stunde etwa 8 Tonnen Staub übers Dach weg, was auf 100.000 Tonnen Kohle pro Jahr hochgerechnet wurde, die in die Umwelt gelangten. Dies war nicht zu verbergen: Hoyerswerda hatte eine der höchsten Sterberaten an Lungenkrebs in der DDR. Zwar lag die Stadt auf der windabgewandten Seite, doch die Dörfer Sprewitz, Terpe und Zerre waren direkt betroffen, da der Dreck meistens nach Osten ging.

Reiner Großer hielt nicht den Mund, legte sich als Gemeinderatsvertreter mit den Werksdirektoren an und stritt für Umweltschutz, Wasser- und Reinigungsgeld für die Anwohner. Obwohl ihm Wirtschaftsspionage nachgesagt wurde, konnte er im Werk bleiben, wenn auch unter Beobachtung.

Katastrophe und Neuanfang
Die fatale Ignoranz gegenüber der Umwelt und auch hinsichtlich der Sicherheit führte zu einer explosiven Mischung. Am 22. Februar 1982 ereignete sich im Gaswerk von Schwarze Pumpe eines der schlimmsten Unglücke der DDR-Industriegeschichte: eine Explosion nie dagewesenen Ausmaßes. Riesige Gasmengen traten aus; wäre eine Zündquelle vorhanden gewesen, hätte es eine Katastrophe für die Energieversorgung der DDR bedeutet. Die Werksfeuerwehr, eine der größten der DDR, stand vor der Herausforderung, nicht nur Menschenleben, sondern auch die Energieversorgung zu retten. Unter Einsatz aller Kräfte konnte die Gasversorgung durch die verbliebenen Anlagen in wenigen Tagen wiederhergestellt werden. Der anfängliche Verdacht auf Sabotage bestätigte sich nicht; die Katastrophe hatte eine technische Ursache.

Trotz aller Umweltprobleme stand das Werk auch für innovative Verfahren. Um die Teerprobleme zu lösen, entwickelten Ingenieure mit sowjetischen Kollegen ein bahnbrechendes Verfahren: die Staubdruckvergasung. 460 Millionen Mark wurden aus den eigenen Finanzen investiert, um diesen „Befreiungsschlag“ zu erreichen, bei dem Teere und Öle aus den Abprodukten verschwanden. Die Technologie wurde Mitte der 80er Jahre in Angriff genommen, konnte ihre Umwelteffekte aber nicht mehr ausspielen, da mit der Wende die Braunkohleindustrie im Osten abgewickelt wurde. Der Siemens Konzern kaufte die Lizenzen für einen symbolischen Betrag, und heute laufen solche Generatoren in China zur Benzinerzeugung aus Kohle.

Das Ende einer Ära und die Suche nach dem Strukturwandel
Obwohl Schwarze Pumpe bis zur Wende als Vorzeigebetrieb galt, kam mit der Marktwirtschaft das Aus für die Kohleveredlung. Westdeutsche Energiekonzerne führten die Stadtgasproduktion aus Braunkohle nicht weiter. Die Braunkohleförderung wurde massiv zurückgefahren, viele Beschäftigte kamen in der Sanierung unter. Der Rückbau verschlingt bis heute über 12 Milliarden Euro. Die Ironie: Diejenigen, die das Werk aufbauten, übernahmen den Abriss, da sie sich am besten auskannten. Zunächst wurden die jüngeren, oft leistungsfähigen Mitarbeiter entlassen, auch über Sozialauswahl, was bei vielen schmerzlich war.

Kraftwerke und Brikettfabriken wurden gesprengt, um Investoren eine grüne Wiese anzubieten. Die spektakulären Sprengungen wurden von den einst stolzen Kumpeln mit einer Mischung aus Faszination und Trauer verfolgt.

Auch in Hoyerswerda schlug sich der Abbruch nieder. Die Einwohnerzahl sank in 10 Jahren von 75.000 auf 33.000. Die einst stolze Vorzeigestadt wurde zum sozialen Pulverfass, und rechtsextreme Ausschreitungen machten Schlagzeilen. Spremberg hatte ebenfalls Probleme mit gewaltbereiten Neonazis.

Trotz aller Probleme versucht sich der ehemalige Energiebezirk in die neue Zeit zu retten. Es wird an der Braunkohle festgehalten und kräftig investiert: In Schwarze Pumpe entstand das damals modernste Braunkohlekraftwerk, das 1997 von Bundeskanzler Helmut Kohl als „Signal des Aufbruchs“ in Betrieb genommen wurde. Dieses Kraftwerk ist, obwohl von Liedermacher Gerhard Gundermann besungen, tatsächlich sauberer geworden.

Altlasten und neue Hoffnungen
Damit Schwarze Pumpe eine Zukunft hat, müssen die Altlasten verschwinden. Noch 30 Jahre nach Stilllegung belastet der giftige Teer aus der Braunkohleveredlung den Untergrund. Kontaminiertes Erdreich wird ausgebaggert und in einer Spezialfabrik gewaschen. Wer hätte gedacht, dass die Altlastensanierung noch Arbeitsplätze sichert?

Altlastenfreie Areale sind zwingend notwendig für die Ansiedlung neuer Betriebe. Zwischen dem neuen Kraftwerk und der Brikettfabrik hat sich 2005 eine der größten Papierfabriken Europas angesiedelt, die über 700 Menschen beschäftigt. Schwarze Pumpe will auch nach dem Kohleausstieg Energiestandort bleiben. Startups sollen im Innovationscenter andocken. Im Sommer 2021 wurden Pläne für ein Wasserstoff-Referenzkraftwerk vorgestellt, das überschüssigen Strom aus erneuerbaren Energien in Wasserstoff speichern und bei Bedarf wieder verstromen soll – ein bis jetzt einzigartiges Pilotprojekt in Europa.

Die große Hoffnung ist, die modernen Technologien und vor allem die Qualifikationen der Menschen für die Zeit nach der Kohle zu nutzen. Unternehmen exportieren Bergbau-Know-how in die Welt. Die Verbundenheit mit dem Bergbau und die Kenntnis der Technologien sollen für Exportprojekte genutzt werden. Der Gruß „Glück Auf“ wird nur noch von wenigen gerufen, da man langsam aus der Braunkohle ausläuft und sich andere Geschäftsfelder überlegen muss.

Monika Hanke, die älteste Steigerin in Europas letzter Brikettfabrik, hat ihr ganzes Arbeitsleben in Schwarze Pumpe verbracht. Mit dem beschlossenen Kohleausstieg wird auch dieses Werk schließen. Sie hat Sozialismus, Wende und Marktwirtschaft erlebt und weiß, dass hier und jetzt eine Ära zu Ende geht. Der Ausstieg mag ihr persönlich etwas zu schnell erscheinen, aber sie kann damit umgehen.

Der Energiegigant Schwarze Pumpe hat die Landschaft radikal verändert. Die immense Luftverschmutzung gehört der Vergangenheit an, und vieles hat sich zum Besseren gewendet. In unmittelbarer Nachbarschaft des Werkes kann der Naturführer Carsten Nitsch heute Touren anbieten, da sich in ehemaligen Tagebauen eine neue Wildnis entwickelt hat. Die Narben der Braunkohleindustrie verheilen allmählich. Es braucht Zeit und Geduld, aber es passiert.

In mehr als 7 Jahrzehnten hat sich Schwarze Pumpe immer wieder neu erfunden und die Menschen in der Lausitz immer wieder aufs Neue gefordert. Die Reise geht weiter – in Richtung erneuerbare Energien und eine post-fossile Zukunft.

Vom Todesstreifen zum Grünen Band: Vogtlands Wandel seit 1989

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Vor fünfunddreißig Jahren fiel die Mauer, und das Vogtland, eine Region, die jahrzehntelang von der innerdeutschen Grenze geprägt war, erlebte einen fundamentalen Wandel. Doch während die physischen Mauern verschwanden, stellen sich heute viele die Frage: Tragen wir noch Mauern in uns? Der Transformationsprozess im Vogtland über drei bewegte Jahrzehnte war geprägt von Einbrüchen und Erfolgsgeschichten, von Euphorie und Ernüchterung, und er ist auch nach 30 Jahren noch nicht abgeschlossen.

Die Last der Vergangenheit: Ein Regime der Unterdrückung und Angst
Die DDR mauerte ihre Bürger vierzig Jahre lang regelrecht ein. Die innerdeutsche Grenze war ein Symbol für das nach innen geschlossene Gesamtsystem DDR. Wer versuchte, die Sperranlagen zu überwinden, riskierte sein Leben – Hunderte wurden an der Grenze getötet. Allein im Vogtland verlief die Grenze auf fast 1400 Kilometern. Die DDR war ein System, das auf Angst vor Verfolgung und Repressalien aufgebaut war. Schon der Gedanke an eine Flucht wurde vom SED-Regime nicht toleriert. Die Staatssicherheit (Stasi) beschäftigte allein in Plauen etwa 700 offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter. Viele entwickelten zwei Identitäten. Dieses Regime der Unterdrückung und Angst hat viele Menschen geprägt. Wie Mario Goldstein am eigenen Leib erfahren musste, konnte selbst das Sprechen über Fluchtpläne innerhalb des Freundeskreises schwerwiegende Folgen haben und das Vertrauen missbrauchen. Der Dienst bei den Grenztruppen konfrontierte die Soldaten direkt mit der unmenschlichen Härte des Systems. Jörg Schneider, 1986 zu den Grenztruppen einberufen, lehnte den Gedanken ab, auf Menschen zu schießen.
In den 1980er Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR drastisch – der totale Bankrott schien nur eine Frage der Zeit. Auch die einst blühende Textilindustrie im Vogtland, bekannt für die weltbekannte Plauener Spitze und ein wichtiges Devisenbringer für die DDR, litt unter veralteten Produktionsmethoden und Mangelwirtschaft. Die steigende Abwanderung von Fachkräften verschärfte die Probleme in allen Bereichen. Für den Großteil der Bevölkerung war nicht ersichtlich, wie schlecht es der Wirtschaft wirklich ging.

Der friedliche Herbst 1989 und die Hoffnung auf Einheit
Im Herbst 1989 entlud sich, was sich über 40 Jahre aufgestaut hatte. Als Anfang Oktober die Züge mit Flüchtlingen aus Prag durch das Vogtland fuhren, war die Stimmung aufgeheizt. Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, gingen in Plauen erstmals Tausende für Freiheit und Demokratie auf die Straße. Trotz des Einsatzes von Wasserwerfern gelang es der Staatsmacht nicht, die Menge aufzulösen. Ein Demonstrationszug mit mindestens 15.000 Menschen bildete sich. Dank der Vermittlung von Superintendent Thomas Küttler zwischen Demonstranten und Staatsmacht blieb die Situation friedlich. In Plauen gelang das Unfassbare: Die Staatsmacht lenkte ein und signalisierte Gesprächsbereitschaft. Bürger, angeführt von Superintendent Küttler, formierten die „Gruppe der Zwanzig“, die zum Sprachrohr der neuen Bürgerbewegung im Vogtland wurde und schnell politische Forderungen stellte.

Mit dem Fall der Mauer im November 1989 strömten Tausende in den Westen. Im Vogtland wurde der Wunsch nach der Einheit Deutschlands besonders früh ausgedrückt: „Deutschland einig Vaterland“ war die zentrale Forderung auf den Demonstrationen in Plauen. Die Richtung war klar: So schnell wie möglich Westgeld, so schnell wie möglich deutsche Einheit. Die Euphorie auf ein besseres Leben überwog.

Transformation, wirtschaftlicher Bruch und neue Mauern
Ein Meilenstein auf dem Weg zur Einheit war die Währungsunion. Die Einführung der D-Mark führte dazu, dass die Läden über Nacht leer waren, da die Menschen Westgeld in der Hand hatten und einkaufen wollten. Die Wirtschaft der DDR musste sich 1990 völlig neu ausrichten. Doch einen volkswirtschaftlichen Gegenwert für die D-Mark gab es in der Ostwirtschaft noch nicht.

Für das Vogtland kam erschwerend der Einbruch eines gigantischen Industriezweigs hinzu. Die Textilindustrie, die Tausenden Arbeit gegeben hatte, wurde weitgehend abgebaut und liquidiert. Nur wenige Betriebe konnten sich am neuen Markt etablieren, darunter teilweise die Plauener Spitze, die jedoch weiterhin mit angespannten Marktbedingungen und Investitionsbedarf kämpft. Viele Betriebe waren durch 40 Jahre Planwirtschaft ausgebeutet. Der Einbruch der Industrie hinterließ Narben und Industrieruinen. Bis heute lebt im Plauen eine Generation, die seit der Wende nicht mehr gearbeitet hat.

Nach der Wiedervereinigung versprach die Politik „blühende Landschaften“, doch der Weg dorthin erwies sich als Herausforderung ohne Beispiel. Viele stellten es sich leichter vor. Ansiedlungen von Industrie, wie die Ansiedlung des Neoplan Omnibus GmbH Werks in Plauen als eine Erfolgsgeschichte, gab es zwar, doch oft blieben der Osten und das Vogtland in der Wahrnehmung vieler ein „Billiglohnland“ für die Wirtschaft im Westen. Infrastruktur und Bausubstanz, die 40 Jahre DDR-Regime hinterlassen hatten, waren teils stark sanierungsbedürftig. Private Investoren und Förderprogramme führten zu einem Sanierungsboom, doch ein Konzept ging nicht immer auf: Zehn Jahre nach dem Umbruch standen beispielsweise in Plauen 12.000 Wohnungen leer.

Gegenwart: Unzufriedenheit, Ostalgie und die Suche nach Freiheit
Auch 30 Jahre nach dem Umbruch existiert bei vielen eine Stimmung der Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit. Der Glaube an die neu errungene Demokratie gerät bei einigen ins Wanken. Es ist bis heute nicht gelungen, ein im Herzen geeintes Deutschland zu schaffen. Viele fühlen sich als Ostdeutsche benachteiligt und nicht genügend anerkannt. Es gibt immer noch ein Ost-West-Gefälle, auch in der Denkweise.

Besorgniserregend ist die Zunahme rechter Tendenzen und die Bereitschaft, rechtspopulistisch oder extrem zu wählen. Expertenthesen sehen einen Zusammenhang zwischen rechter Szene und der DDR-Vergangenheit. Laut Ines Geipel hat sich Deutschland mit der Geschichte einer doppelten Diktatur nicht ausreichend auseinandergesetzt. Sie meint, der Osten mache sich erneut zum politischen Opfer und lasse sich missbrauchen, indem er sehenden Auges in eine Art „totalen Einschluss“ oder „eigenen Käfig“ laufe – eine Inszenierung einer eingeschlossenen DDR-Geschichte. Aufarbeitung der Vergangenheit wird als Lösungsansatz gesehen, doch das bedeute, Vergangenes zu einem Teil von sich selbst zu machen, und diese Energie aus dem diktatorischen Sozialismus sei noch nicht aufgelöst. Solange man das nicht anschaue, bestehe die Gefahr, dass es über Generationen beigetragen werde.

Manche sehen heute im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat nicht selten nur noch das vermeintlich Gute und sagen „Es war nicht alles schlecht“. Dies birgt die Gefahr der Geschichtsklitterung und behindert den Weg, auf dem Westen und Osten zusammenfinden und das suchen, was verbindet. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, welches System hinter uns liegt und wofür 1989 gekämpft wurde: Freiheit und Demokratie. Die Verklärung der DDR durch Ostalgie vernebelt die Sicht auf das, was wirklich gequält hat. Steffen Kollwitz, der 1989 für freie Meinungsäußerung kämpfte, empfindet es als schmerzhaft, wenn heute behauptet wird, es gebe keine Meinungsfreiheit mehr und die Situation sei genauso schlimm wie früher – es sei kein Vergleich und man sollte aufhören, die heutige Zeit mit damals zu vergleichen.

Die Transformation ist ein Prozess, der Jahrzehnte braucht. Der Prozess ist schwierig und wird sich wohl noch hinziehen. Es ist ein riesiges Glückskapital, dass wir 1989 eine friedliche Revolution hatten und eine Demokratie errungen haben. Doch Demokratie ist kein Selbstläufer. Man muss sich engagieren, um zu verhindern, dass wir wieder in eine neue Diktatur rutschen. Es geht darum, die tiefsitzenden Mauern in uns selbst niederzureißen und unser Land als eines zu sehen.

Die jüngeren Generationen werden damit wohl kaum noch Probleme haben. Für diejenigen, die die Zeit erlebt haben, ist die Aufarbeitung, das bewusste Hinschauen auf die Vergangenheit, entscheidend. Wie Mario Goldstein feststellte, kann die Suche nach Freiheit und Glück heute auch bedeuten, nicht wegzulaufen, sondern im Hier und Jetzt nach innen zu gehen. Es ist ein Prozess, der Zeit kostet, aber notwendig ist, um die Mauern in uns selbst zu überwinden und wirklich frei zu sein.

Die Ostsee in der DDR: Zwischen Urlaubsidylle und streng bewachter Grenze

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Für viele Menschen in der DDR war die Ostsee das Sehnsuchtsziel schlechthin. Jeden Sommer schien „die ganze DDR in Richtung Ostsee zu streben“. Sie verkörperte den Traum von Sommer, Sonne und Ferien. Doch die Küste war weit mehr als nur ein Urlaubsort – sie war auch ein wichtiger Wirtschaftsraum und eine streng gesicherte Grenze, die sowohl Idylle als auch Bedrückung symbolisierte.

Der jährliche Sommerurlaub an der See war begehrt. Wer Glück hatte, erhielt über seinen Betrieb einen der begehrten FDGB-Ferienplätze. Andere nutzten betriebseigene Ferienheime. Allerdings war dies nicht jedermanns Sache, da man riskierte, sogar mit dem Chef am Mittagstisch sitzen zu müssen. Viele bevorzugten daher das Campen, das für ein Gefühl von Freiheit, Abenteuer und Unabhängigkeit stand.

Die Ostsee und das Meer im Allgemeinen hatten für viele Menschen in der DDR einen besonderen Reiz, der mit der Sehnsucht nach der „großen Reise“ verbunden war. Diese Sehnsucht nach der weiten Welt blieb für die meisten jedoch ein Wunschtraum. Souvenirs, wie sie auch in einer Sonderausstellung zu finden sind, zeugten von dieser unerfüllten Sehnsucht.

Doch die Ostsee war nicht nur Urlaubsparadies und Sehnsuchtsort. Sie war auch ein bedeutender Wirtschaftsraum für die DDR. Rostock spielte hier eine zentrale Rolle mit seiner Werftindustrie und der Hochseefischerei, die wesentlich zur Versorgung der Bevölkerung beitrug.

Gleichzeitig war die Ostseeküste eine sensible Grenzregion, die besonders gesichert werden musste. Sie stellte die Frontlinie zwischen NATO und Warschauer Pakt dar. Täglich überflogen Kampfbomber vom Typ Suchoi 22 der Nationalen Volksarmee die FKK- und Textilstrände auf Rügen, Binz und Usedom.

Die Küste war zudem die Grenze der DDR, an der die Staatsmacht stets befürchtete, dass Menschen versuchen würden, ihr Land zu verlassen. Es gab tragische Fluchtversuche; in den kalten Wintern der 60er-Jahre versuchten manche, über das Eis zu entkommen. Sogar der letzte bekannte DDR-Flüchtling ertrank in der Lübecker Bucht.

Die Ostseeküste verkörpert somit in der Geschichte der DDR einen tiefen Widerspruch: Sie steht für die Urlaubsidylle, die schönen Erinnerungen und die Sehnsucht nach Freiheit, aber auch für die Beschränkungen, Bedrückungen und die allgegenwärtige Grenzsituation. Diese Dualität macht sie zu einem faszinierenden Thema für eine Sonderausstellung.

Archivfund offenbart: Seltene Prototypen in Zwickauer Halle entdeckt

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Ein unerwarteter Archivfund hat kürzlich das Licht der Öffentlichkeit erblickt: Aufnahmen, die bereits vor acht Jahren entstanden sind, dokumentieren eine bemerkenswerte Entdeckung in einer Halle in Zwickau. Die Videoaufnahmen, die im Rahmen des 19. itt in Zwickau im Jahr ihrer Entstehung gemacht wurden, zeigen eine Ansammlung von Fahrzeugen, die vom Entdecker als „einige interessante Prototypen“ beschrieben werden und einen faszinierenden Einblick in möglicherweise wenig bekannte Kapitel der Fahrzeugentwicklung gewähren.

Bei der Erkundung der Halle stieß man unter anderem auf das Trabantmodell 1.1 E. Hierbei ist die Bezeichnung „E“ nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, ein Hinweis auf einen Elektroantrieb, sondern kennzeichnet eine „Weiterentwicklungsstufe“ des bekannten Trabant. Besonders bemerkenswert an diesem Modell ist offenbar sein Design. Die Quelle deutet an, dass die Meinungen auseinandergehen, wenn es um die Frage geht, ob dieses Fahrzeug in dieser Form hätte gebaut werden sollen – „da scheiden sich die Geister“.

Neben dem Trabant-Prototyp war auch ein Kübelwagen zu sehen. Dieser Fahrzeugtyp ist insbesondere durch seinen Einsatz bei den Grenztruppen bekannt. Der in den Aufnahmen gezeigte Wagen präsentiert sich nach Ansicht des Entdeckers in einem „guten Zustand“ und wird als „sehr hübsches Fahrzeug“ bezeichnet.

Ein Highlight der Sammlung stellte zweifellos ein weiteres Fahrzeug dar, das als besonders „spektakulär“ hervorgehoben wird: Ein originaler 1.1 Kübelwagen. Die Authentizität und historische Bedeutung dieses Wagens wird durch die Information unterstrichen, dass er „sogar bei den Grenztruppen zugelassen oder man wollte den zulassen“. Dies sei am Kennzeichen erkennbar. Das Fahrzeug wird enthusiastisch als „wirklich ein tolles Auto“ gelobt. Die Existenz eines solch originalen Modells mit direktem Bezug zu den Grenztruppen scheint von besonderem Interesse für Kenner der Automobilgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik zu sein.

Für Freunde historischer Fahrzeuge gibt es die gute Nachricht, dass der erwähnte originale 1.1 Kübelwagen heute zugänglich ist. Er befindet sich laut der vorliegenden Informationen derzeit im Fundus des August Horch Museums in Zwickau. Dies sichert das Fahrzeug für die Nachwelt und ermöglicht Interessierten, dieses seltene Exemplar selbst zu besichtigen, auch wenn die genauen Umstände seiner Entdeckung und seines Weges ins Museum in der vorliegenden Quelle nicht weiter ausgeführt werden.

Die Entdeckung dieser Fahrzeuge, dokumentiert in den nun wiedergefundenen, acht Jahre alten Aufnahmen, bietet somit einen wertvollen Einblick in die Existenz seltener Prototypen und spezifischer, historisch relevanter Fahrzeugmodelle in Zwickau. Sie zeigt Entwicklungsschritte des Trabant sowie die Existenz besonderer Varianten wie des originalen 1.1 Kübelwagens, dessen Geschichte bis zu den Grenztruppen reicht und der nun Teil einer bedeutenden Museumssammlung ist. Der Archivfund wirft ein Licht auf verborgene Schätze der Automobilgeschichte in der Region und erinnert an die Vielfalt und die unentdeckten Geschichten, die oft in Archiven oder unscheinbaren Hallen schlummern. Die Aufnahmen dienen als Beleg für diesen spannenden Fund, der damals im Rahmen einer Veranstaltung zur Automobilgeschichte Zwickaus gemacht wurde.

Sachsens Spagat beim Windkraftausbau: Zwischen bundesweiten Zielen und lokalem Widerstand

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Windräder sind nicht nur ein prägender Anblick in der Landschaft, sondern sorgen auch politisch für intensive Diskussionen. Vergangenen Freitag befasste sich der Ausschuss für Umwelt und Energie in Sachsen mit den Herausforderungen und möglichen Lösungen für die gesetzten Windkraftflächenziele. Der Druck auf den Freistaat wächst, denn der Bund schreibt vor, dass bis 2032 2% der Landesfläche für Windkraft ausgewiesen werden müssen. Derzeit liegt Sachsen jedoch bei lediglich 0,3%.

Um das vorgegebene Ziel zu erreichen, hat Sachsen das bundesweit geltende Schlussziel von 2,0% bereits auf Dezember 2027 vorgezogen – eine vorfristige Erfüllung um fünf Jahre. Dieses ehrgeizige Ziel bedeutet, dass derzeit intensiv nach neuen Flächen gesucht wird, auch in Regionen, die bisher unberührt blieben.

Alle Träger der Regionalplanung in Sachsen sind dabei, ihre Planwerke durch Teilverschreibungen auf diese Zielstellung auszurichten. Die Region Leipzig-Westsachsen hat beispielsweise eine erste Anhörungsrunde dazu absolviert und dabei über 1000 Einwendungen erhalten. Aktuell befindet sich die Region in der Offenlegungsphase der konkreten Flächen. Es wird betont, dass es größte Anstrengungen erfordert hat, die 2,0% Flächen für den Planentwurf nachzuweisen.

Die politischen Parteien im sächsischen Landtag haben unterschiedliche Ansätze. Die Fraktionen von CDU und SPD wollen den Ausbau nicht stoppen, sondern ihn praktikabler gestalten. Ihr Gesetzentwurf setzt auf mehr Zeit für die Planung und einen Abbau von Bürokratie. Um die Akzeptanz vor Ort zu stärken, schlagen sie eine zusätzliche finanzielle Beteiligung von Einwohnerinnen und Einwohnern im Umkreis von bis zu 2500 Metern um eine Windenergieanlage vor, zusätzlich zur Beteiligung der Kommunen. Diese Ausweitung der Beteiligungsmöglichkeiten wird als tragfähiger und zukunftsorientierter Ansatz zur Stärkung der gesellschaftlichen Akzeptanz gesehen.

Die AfD verfolgt hingegen das Ziel, den Ausbau der Windkraft auszubremsen und neue Anlagen möglichst zu verhindern. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass der Windenergieausbau weitgehend bundesrechtlich vorgegeben ist und aus Landesperspektive grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden kann – es gehe vielmehr um Detailfragen.

Das Thema Windkraftausbau stößt vielerorts auf Widerstand. Sorgen um Natur, Lärm, den Wert von Grundstücken oder fehlende Mitsprache bei der Planung sind Gründe für den Unmut. Dieser Unmut wird auch von politischen Akteuren aufgegriffen. Die rechtsextreme Gruppierung Freie Sachsen organisierte beispielsweise gezielt Protestaktionen gegen Windkraftprojekte, um neue Anhänger zu gewinnen.

Doch trotz der Proteste und kontroversen Debatten wird die Grundzielrichtung zum Ausbau der erneuerbaren Energien von den Expertinnen und Experten größtenteils nicht in Frage gestellt. Es gehe vielmehr darum, eine Nachjustierung des bestehenden gesetzlichen Regelungswerkes vorzunehmen, um die Praktikabilität und Akzeptanz in der Bevölkerung zu verbessern.

Der Ausbau der Windkraft ist und bleibt ein zentraler Bestandteil der sächsischen Energiepolitik und wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.