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Spurensuche im ehemaligen Sommerbad Zeisigwald Chemnitz

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Einst ein Ort lebendigen Treibens, heute eine stille Wiese mit Geschichte: Das Sommerbad Zeisigwald in Chemnitz war über Jahrzehnte hinweg eine beliebte Freizeiteinrichtung. Seine Geschichte spiegelt die Entwicklung der Stadt und die Freibadkultur wider, bis hin zu seinem endgültigen Verschwinden.

Die Anfänge des Bades reichen bis ins Jahr 1908 zurück. Damals wurde im Zeisigwald an der Fürstenstraße, neben dem bereits bestehenden Waldspielplatz, das erste städtische Freibad in Chemnitz errichtet. Es trug den Namen Luft- und Lichtbad und wurde 1909 eröffnet. Zunächst herrschte noch strikte Geschlechtertrennung, mit separaten Bereichen für Männer und Frauen, getrennt durch einen Zwischenbau für Umkleiden und Sichtschutz. Die ursprünglichen Becken waren mit 8 x 15 Metern und einer Tiefe von bis zu 1,40 Metern vergleichsweise klein. Jährlich zog das Bad in dieser Zeit rund 50.000 Besucher an.

Ein bedeutender Wandel vollzog sich 1928 mit einer kompletten Neugestaltung. Das Areal wurde Richtung Norden auf insgesamt 10.000 Quadratmeter erweitert. Durch den Auftrag von Mutterboden entstand eine ebene Liegewiese mit altem Baumbestand, die bis heute erhalten ist. Das Herzstück der Erweiterung war ein neues, großes Becken in einer sumpfigen Schlucht, das beeindruckende 20 x 50 Meter maß und eine Tiefe von 90 cm bis zu 3,20 Metern aufwies. Es war von einer 1,4 Meter breiten Fußspülrinne und einem mehrere Meter breiten Sandstreifen umgeben. Ein 3-Meter-Sprungturm und ein 1-Meter-Brett ergänzten das Angebot. Das umgebaute Bad verfügte zudem über einen 500 m² großen Spielplatz, eine Gaststätte und in den 1930er Jahren sogar einen bewachten Parkplatz. Mit einer Kapazität von 2000 Besuchern pro Tag und der Aufhebung der Geschlechtertrennung stiegen die Besucherzahlen rasant. 1931 wurden über 130.000 Besucher gezählt. In den 1930er Jahren erlangte das Freibad Zeisigwald durch seine idyllische Lage und die Annehmlichkeiten Sachsenweit Bekanntheit.

Das Ende dieser Blütezeit kam mit dem Zweiten Weltkrieg. 1945 war das Bad durch Bomben und Plünderungen nicht mehr betriebsfähig. Die Gebäude waren zerstört, nur die Becken noch intakt. Doch der Bedarf an Sport- und Freizeitstätten ebnete den Weg für einen Wiederaufbau. Anfang der 1950er Jahre wurde die Anlage durch freiwillige Arbeitseinsätze und städtische Mittel neu errichtet. Am 9. August 1953 konnte das Bad unter dem neuen Namen Sommerbad Zeisigwald wiedereröffnet werden. Das Wasser, teilweise aus dem Blauern bezogen, war mit durchschnittlich 18°C ohne Heizung eher kühl.

Anfang der 1980er Jahre begann der schleichende Niedergang. Die hygienischen Bedingungen verschlechterten sich rapide, und die technischen Anlagen bedurften einer Erneuerung. Die Mangelwirtschaft in der DDR und fehlende Geldmittel besiegelten das Schicksal des Bades. Mit der Badesaison 1983 erfolgte die Schließung.

Der Komplettabriss der Freibadanlage folgte schließlich 1987. Das einzige erhaltene Gebäude ist ein Pavillon, der vermutlich in den 1970er Jahren gebaut wurde. Er diente einst als Zugang und Ausgang zum Bad, heute als Wetterschutz auf dem Spielplatz. Nach kurzzeitigen Rummelveranstaltungen um 1990 verwilderte das Gelände zunehmend. Das Freibad wurde restlos abgerissen.

Heute erinnern nur noch wenige greifbare Spuren an das einstige Badeparadies: kleinere Löcher, eine große Senke, die den Standort des 50-Meter-Beckens markiert, sowie vereinzelte Ziegel- und Betonplattenreste. Die heutige Gestaltung des Areals, die den Zugang zum ehemaligen Gelände ermöglicht, erfolgte 2011. Was bleibt, sind der ehemalige Eingangspavillon und vor allem die große Liegewiese mit ihren hohen alten Bäumen. Das Zeisigwaldbad ist Geschichte, doch auf der Wiese, so scheint es, lässt sich der einstige Badbetrieb noch nachspüren.

9. November 1989: Die Mauer fällt – Ein historischer Tag, untermalt von Musik und Hoffnung

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Am Abend des 9. November 1989 geschah etwas, das viele für unmöglich hielten: Die Deutsche Demokratische Republik öffnete ihre Grenzen. Für Millionen Menschen in Ost und West war dies ein historischer Tag, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist.

Nach Jahrzehnten der Teilung und strenger Grenzkontrollen, bei denen Menschen starben, kündigte die DDR an, dass ihre grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und löste ungläubige Freude und Erleichterung aus. Plötzlich stehen die tore in der mauer weiter offen, symbolisch und bald auch ganz real.

Die Öffnung der Grenze setzte einer Ära ein Ende, in der die staatlichen Organe Gewalt anwandten, um die Ausreise zu verhindern. Der Wunsch, dass doch eine situation geschaffen wird in der schüsse an der grenze nicht mehr vorkommen, schien an diesem Abend in greifbare Nähe zu rücken. Ein Sprecher reflektierte über die Schüsse an der Grenze, wobei er auch auf die Situation in der Bundesrepublik verwies, wo angeblich so viele Schüsse fielen, dass er sie nicht abzählen wollte. Doch die Hoffnung auf ein Ende der tödlichen Schüsse an der innerdeutschen Grenze war zentral.

In den aufgewühlten Zeiten vor und während des Mauerfalls spielte auch die Musik eine wichtige Rolle, wie wir in unserem früheren Gespräch erörterten. Bands des Ostrocks, wie City oder Karat, hatten sich im System der DDR behaupten müssen. Ihre Texte waren oft ein Ventil für das, was nicht direkt gesagt werden konnte, Botschaften „zwischen den Zeilen“ für ein Publikum, das gelernt hatte, genau zuzuhören (Information aus Konversationsverlauf).

Im Umfeld dieses historischen Abends wird in den Quellen auch der Song „Albatros“ erwähnt, ein Titel der Band Karat (basierend auf Videotitel), der vielleicht das Gefühl der Sehnsucht nach Freiheit oder die Überwindung von Hindernissen einfing. Kommentare wie „das war sagte barlow von rocket möchtest du“ und weitere Anmerkungen im Zusammenhang mit Musik deuten darauf hin, dass Lieder und Kommentare zu den Klängen gehörten, die diese Momente begleiteten.

Der 9. November 1989 war ein historischer tag, der nicht nur die politische Landschaft, sondern auch das Leben der Menschen und die Kulturszene, einschließlich des Ostrocks, nachhaltig verändern sollte. Die grenzen… für jedermann geöffnet zu sehen, war ein Moment von unermesslicher Bedeutung, der Freiheit und einen Neuanfang versprach.

Vom Dornröschenschloss zum Kulturzentrum: Das Herrenhaus Dölitz erwacht zu neuem Leben

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Inmitten der sanft gewellten Landschaft der Mecklenburgischen Schweiz, einem Gebiet, das trotz seiner geringen Höhe die Kriterien eines „Sehnsuchtsortes“ erfüllt, liegen zahlreiche alte Gutshäuser. Einst Zentren großer landwirtschaftlicher Betriebe und prägende Elemente des mecklenburgischen Landes, fristeten viele nach historisch schwierigen Zeiten ein vergessenes Dasein. Doch private Initiativen erwecken diese historischen Anwesen wieder zum Leben und machen sie zugänglich. Eine besonders bemerkenswerte Geschichte ist die des Herrenhauses Dölitz.
Versteckt wie hinter einer Dornröschenhecke, im Hinterland Mecklenburgs abseits großer Verkehrswege, stand das Gutshaus Dölitz lange Zeit verlassen und verfiel. Es war so stark heruntergekommen, dass es von manchen als „sehr sehr sehr sehr hässlich“ und „komplett verbastelte Bude“ bezeichnet wurde, ein Objekt, das viele abschreckte. Ein offenes Dachfenster hatte über Jahre ein Loch vom Dachboden bis ins Erdgeschoss geschaffen, und es wuchsen sogar Bäume im ersten Stock. Im Dorf schien man fast vergessen zu haben, dass hinter dichtem Gestrüpp am Teich diese riesige Ruine stand.

Doch das Herrenhaus Dölitz ist ein Juwel mit einer reichen, über 360 Jahre alten Geschichte. Es ist eines der wenigen originalgetreu erhaltenen Beispiele barocker Baukunst im Land, erbaut ab 1665 auf mittelalterlichen Kellergewölben. Über die Jahrhunderte hinweg war es im Besitz verschiedener Adelsfamilien wie den von Levetzow, von Lehsten und von Behr-Negendank. Es erlebte Umbauten, wie die schlossartige Barockfassade um 1720 und den Altan 1901, diente als Landhotel, Gaststätte, Kindergarten und Wohnhaus, bevor es Anfang der 1990er Jahre leer stand.

Im Jahr 2013 entdeckten Knut Splett-Henning und Christina von Ahlefeldt das heruntergekommene Haus und begannen mit dessen Rettung. Sie richteten es zunächst provisorisch ein, luden zu Veranstaltungen wie einem Konzert einer jungen Musikantentruppe aus Neuseeland ein, obwohl es im Haus so kalt war, dass die Zuhörer draußen saßen. Christina hatte laut Quelle einen „ähnlichen Knall“ wie Knut und sah Potenzial in dem Haus. Sie suchten nach jemandem, der sich an das Projekt herantrauen würde.

Diesen unerschrockenen „Gutshausretter“ fanden sie in Ronald van der Starre, einem Architekten, der 2016 das Herrenhaus kaufte und seither mit seiner Familie dort lebt und es behutsam saniert. Ronald, der in Belgien, Holland und Deutschland aufwuchs und Architektur studierte, sah in Dölitz ein „sehr sehr sehr sehr verkanntes Objekt“, aber eines mit besonderem Charakter. Trotz des dramatischen Zustands nahm er sich der Aufgabe an, auch wenn er heute zugibt: „Noch einmal würde ich so etwas nicht anfangen!“.

Die Sanierung war und ist eine immense Herausforderung. Ein kalter Sommer, verfaulendes Eichenfachwerk, das unter dem Zementputz zum Vorschein kam, und sogar unangenehme Begegnungen mit dem Bürgermeister, etwa bezüglich eines Zauns am Park, machten das Leben im Gutshaus zur Prüfung. Auch die Partnerschaft von Ronald und Roland Tschersche hielt dem nicht stand. Doch Ronald hielt durch.

Sein Ansatz ist besonders einfühlsam: Er möchte das Gutshaus in seiner unveränderten barocken Form und Raumaufteilung erhalten. Dabei soll die Sanierung eine „Addition aller vom Haus durchwanderten Zeitepochen“ zur Schau stellen und mit den sich verändernden künstlerischen Nutzungen ein Gesamtkunstwerk bilden. Wie Ronald sagt: „Jeder Kratzer hat hier seine Bedeutung.“.

Heute ist das Herrenhaus Dölitz wieder ein Ort des Lebens und der Kultur. Es ist ein Familiensitz und steht kunst- und kulturinteressierten Besuchern sowie Feriengästen offen. Es finden Ausstellungen, Konzerte und Lesungen statt. Die barocke Raumstruktur wurde rekonstruiert und originale Details aus verschiedenen Epochen werden konserviert. Auch die barocke Parkanlage im Süden, ein seltenes Zeugnis mecklenburgischer Gartenkultur, ist öffentlich zugänglich und wurde behutsam wiederhergestellt.

Die Geschichte des Herrenhauses Dölitz, die auch in der NDR-Sendung „Schlossgeister mit Dachschaden“ dokumentiert wurde, steht exemplarisch für das Engagement vieler Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die alte Gutshäuser vor dem Verfall bewahren und ihnen neues Leben einhauchen. Es zeigt, wie aus einer totgeglaubten Ruine durch Mut, Fantasie und unermüdliche Arbeit ein lebendiger Ort für Kunst, Kultur und Erholung entstehen kann.

Mehr als nur Musik: Wie Ostrock Generationen verbindet und Identität prägt

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Der „Sound des Ostens“ lebt und funktioniert auch heute noch in vielen Klängen. Für viele ist er mehr als nur Musik – er ist ein tief verwurzeltes Lebensgefühl, das Erinnerungen an die Jugendweihe, Bratwurst am 1. Mai und die Kulthits der DDR weckt. Radiomoderator Thomas Ostermann spielt und moderiert seit zwei Jahren auf Antenne Thüringen Ostrock, Musik, die einst im Land hinter der Mauer streng zensiert wurde. Das Feedback nach Sendestart war phänomenal, da dieser Sound vielen Menschen offensichtlich gefehlt hat.

Damals im Sozialismus wurde Musik für Rockstars wie die Band City zur Nische. Sie mussten sich im politischen System zurechtfinden. Tony Krahl, der Frontmann von City, saß sogar selbst im Stasi-Gefängnis. Mit 19 Jahren wurde er wegen einer Protestaktion gegen die Panzer des Warschauer Paktes in Prag zu einer Haftstrafe verurteilt. Er erinnert sich an die Enge der Zelle und die Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis, die jedoch später in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Nach der Haft hatte ein politisch Verurteilter kaum Perspektiven in der DDR, weshalb Krahl sich eine Nische suchen musste – und diese in der Musik fand.

Mit der Band City mischte er die Musikwelt auf, besonders im Westen jenseits der Mauer. Ostbands machten dort ab den 70er Jahren Furore. Ihre Beatmusik auf Deutsch mit Texten, die mehr Inhalt als nur Liebe und Sonnenschein boten, war neu. Für City war dies ein riesiger Erfolg. Der wohl größte Hit des Ostrocks, „Am Fenster“, stand wochenlang auf dem ersten Platz der Hitparaden. Obwohl sie weltweit 10 Millionen Platten verkauften, wurden die Musiker finanziell kaum reich; die Einnahmen reichten gerade für den Aufenthalt in der Kantine.

Nicht nur Musik war im Osten politisch und zensiert. Für die Bands in der DDR war es eine Kunst aus Not. Texte wurden zu Ventilen „zwischen den Zeilen“ für das, was im Mauerstaat ungesagt bleiben musste. Das Publikum in der DDR war geübt darin, sich seine Botschaften selbst zwischen den Zeilen zu suchen. Die Texter mussten Großes leisten, um die Botschaft ans Volk zu bringen, ohne dass die zensierenden Kulturbehörden sie auf Anhieb durchschauten.

Auch im Radio gab es Vorgaben. DJs wie Thomas Ostermann, damals Schallplattenunterhalter, mussten eine Quote erfüllen: 60% der Titel mussten aus dem Ostblock und 40% aus dem nichtsozialistischen Ausland stammen. Allerdings wurde sich daran oft nicht gehalten, um das Publikum in den Discos nicht zu verlieren.

Ende der 80er Jahre waren die DDR-Songs nicht nur der Klang des Ostens, sondern auch Begleitmusik einer extrem bewegten Zeit, als die Ostdeutschen Geschichte schrieben und die Mauer fiel. Die Wende bedeutete auch eine Wende für die Musiker. Sie wurden nicht „abgewickelt“, sondern einige gaben selbst auf, weil sie nicht mehr daran glaubten, mit der Westkonkurrenz mithalten zu können. Mit den 90ern kam neue Musik aus den Radios, und die ostdeutschen Bands suchten ihre Hörer.

Doch über die Jahre feierte der Ostrock ein Comeback und entwickelte sich zur Marke. Plötzlich gab es in Plattenläden ein eigenes Fach für Ostrock. Was früher ein Makel war, wurde zu einem Qualitätsstempel. Während „Ostalgie“ oft als Nische betrachtet wird, geht der Sound der DDR für viele darüber hinaus. Er weckt „unkaputtbare Erinnerungen“ und klingt Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wieder nach Jugend, Heimat und Gemeinschaft.

Frontmann Tony Krahl macht bis heute Musik, auch wenn seine größten Erfolge vor dem Mauerfall liegen. Er wünscht sich mehr Anerkennung für die ostdeutsche Identität. Er kritisiert, dass bei Feiern zu Jahrestagen des Mauerfalls oder des Tags der Einheit, die von gewöhnlichen Ostlern durchgesetzt wurden, oft keine ostdeutschen Künstler auf der Bühne stehen, sondern internationale Acts. Dies vermittle den Menschen fremde Gefühle und Lebensgefühle. Tony Krahl besingt bis heute das Lebensgefühl eines ganzen Landes und das der Ostdeutschen. Er erhielt 2024 den Bundesverdienstorden. Krahl möchte aktiv bleiben und sich einmischen, besonders da die Gesellschaft wieder Risse zeige. Er betont die Verantwortung jedes Einzelnen für die Schlüsse, die aus Unzufriedenheit gezogen werden, und positioniert sich klar gegen extremistische Tendenzen.

Obwohl Tony Krahl das Ost-West-Denken, das ihn nervt, hinter sich lassen möchte, scheint es offensichtlich noch Bedarf für die Musik des Ostens zu geben. Wenn Musik etwas kann, dann sei es das Verbinden und Massen Mobilisieren. So bleibt der Sound des Ostens für viele mehr als nur Musik.

Spektakuläre Flucht vor 60 Jahren: Elektromonteur fliegt mit Agrarflugzeug in die Freiheit

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Ilsen/Mecklenburg, 17. September 1964 – Es war ein Tag, der den kleinen Ort Ilsen bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Genau vor 60 Jahren, am 17. September 1964, wagte der damals erst 23-jährige Manfred Lorenz eine atemberaubende Flucht aus der DDR. Sein Mittel zur Freiheit: Ein Agrarflugzeug der staatlichen Fluggesellschaft Interflug.

Lorenz, von Beruf Elektromonteur und Pilot, nutzte an jenem Donnerstagmorgen die Chance seines Lebens. Er entführte eine Antonov AN-2 mit der Kennung DMSKH, ein ziviles Flugzeug sowjetischer Bauart, das eigentlich zur Schädlingsbekämpfung aus der Luft eingesetzt wurde.

Der Flug begann in Jabel bei Waren in Mecklenburg. An diesem Tag fiel ein solcher Einsatz witterungsbedingt aus. Als der erste Pilot und ein Techniker nach Anklam fuhren, um Ersatzteile zu holen, ergriff Manfred Lorenz gegen 9 Uhr die Gelegenheit.

Seine Flucht führte ihn in Richtung BRD. Um der Radarüberwachung zu entgehen, flog Lorenz streckenweise nur zwei Meter über den Baumwipfeln. Bei Dannenberg überflog er erstmals die Zonengrenze und stieß einen Jubelschrei aus. Doch aus Unsicherheit landete er nicht sofort, sondern erst etwas später bei Ilsen.

Gegen kurz nach 10 Uhr setzte er die kleine Maschine auf einem aufgeweichten Acker an der Bundesstraße 71 zwischen den Gemeinden Hanstedt und Großliedern im Kreis Ilsen auf. Trotz heftiger Windböen gelang ihm eine glatte Landung.

Die Nachricht von der geglückten Flucht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Stadt und Kreis. Ein Ilsener rief bereits um 10:25 Uhr in der Redaktion der AAZ an und meldete die spektakuläre Landung. Mitarbeiter der AAZ eilten sofort zum Landeort. Bei ihrer Ankunft waren bereits Polizisten und Bundesgrenzschützer vom Heinberg vor Ort. Die Fluchtmaschine mit Bundesgrenzschutzbeamten und auch der junge Pilot selbst wurden von Wilhelm Franz in Schwarzweiß-Fotos festgehalten. Die Maschine flimmerte sogar über die Bildschirme der ARD Tagesschau.

Auf der Titelseite der AAZ-Ausgabe vom 18. September 1964 stand: „Tollkühne Tiefflüge von Waren in Mecklenburg in den Kreis Ilsen“. Auf zwei Seiten weiter hieß es: „Tollkühner Flug unter dem Radarschirm in die Freiheit“.

Manfred Lorenz selbst wurde zitiert mit den Worten: „Ich habe schon lange auf eine Gelegenheit zur Flucht in die Bundesrepublik gewartet“. Dem Reporter der AAZ sagte der ehemalige Copilot: „Ich bin geflohen, weil ich mit Leib und Seele [bin] und drüben kein rechtes Fortkommen sehe“. Ursprünglich sei er vom System überzeugt gewesen und habe dafür gestanden, dass alle Menschen gleich behandelt werden und es allen gleich gut gehen sollte. Doch die Praxis und Wirklichkeit hätten dort ganz anders ausgesehen.

Als Reisegepäck hatte Lorenz nur eine Handtasche mit seinen Papieren bei sich. Den Boden der Bundesrepublik betrat der Mann aus der DDR in Hausschuhen.

Die Flucht hatte auch Folgen für seine Familie in der DDR. Er hatte seine Frau und seinen gerade einmal eineinhalbjährigen Sohn bei Berlin zurückgelassen, aus Angst, das Flugzeug könne von sowjetischen Jägern abgeschossen werden. Seine Ehefrau wurde wiederholt verhört. Sie berichtete von einem Telegramm ihres Mannes aus Ilsen, in dem er schrieb, sie solle nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen und sich scheiden lassen.

Der Fluchtpilot selbst wurde ins Flüchtlingsaufnahmelager Gießen überstellt. Später soll er für Airbus gearbeitet haben. Einzelheiten zu seinem weiteren Leben seien jedoch nicht zu ermitteln gewesen, schreibt Autor Uwe Hanak im Heimatkalender für Stadt und Landkreis Ilsen 2024, der die Flucht über den Eisernen Vorhang zusammengefasst hat.

Die spektakuläre Landung bei Ilsen bleibt ein markantes Ereignis in der Geschichte der Fluchten aus der DDR, die in einer Doku-Serienreihe mit dem Namen „Spektakuläre Fluchten aus der DDR“ beleuchtet werden.

Glashütte: Stadt der Uhrmacher feiert 180 Jahre Tradition und blickt in die Zukunft

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Glashütte im Landkreis Sächsische Schweiz Osterzgebirge ist mehr als nur eine Stadt mit rund 6600 Einwohnern. Sie ist bekannt als die „Stadt der Uhrmacher“, ein Ort, an dem die Uhren nicht nur ticken, sondern „besonders ticken“. Diese besondere Identität wird im Jahr 2025 groß gefeiert, denn Glashütte begeht dann 180 Jahre Uhrmachertradition.

Die Stadt, die erstmals 1445 urkundlich erwähnt wurde – angeblich wegen einer Glashütte vor Ort – wird heute vom Bild der Uhrenmanufakturen dominiert. Stolze elf Uhrenmanufakturen sind derzeit in Glashütte zu Hause, eine Zahl, die nach Wunsch der Verantwortlichen gerne noch wachsen darf. Diese Unternehmen sind von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Stadt, für Investitionen in die Infrastruktur und natürlich auch als Arbeitgeber. Viele ihrer Mitarbeiter sind bereits Bürger Glashüttes, und man hofft, dass dies in Zukunft noch mehr werden.

Glashütte blickt nicht nur auf eine reiche Geschichte zurück, sondern gestaltet auch aktiv seine Zukunft. Aktuell stehen mehrere wichtige Projekte im Fokus: Die Sanierung der größten Kindertageseinrichtung für über 100 Kinder, die kurz vor der Wiedereröffnung steht, sowie der bevorstehende erste Spatenstich für eine neue Kindertageseinrichtung im drittgrößten Ortsteil Reinharz Krimmer. Ein weiteres zukunftsweisendes Projekt ist die gemeinsame Investition mit der Sachsenenergie in den Ausbau von schnellem Internet, das in den nächsten zwei bis drei Jahren Haushalten in Glashütte und seinen Ortsteilen zur Verfügung stehen soll.

Neben der industriellen und infrastrukturellen Entwicklung lebt Glashütte auch vom starken Engagement seiner Bürger. Besonders stolz ist man auf die ehrenamtlichen Aktiven. Mit 16 Ortsteilen verfügt die Stadt über mehr als 70 Vereine, in denen sich Jung und Alt einbringen und für ein lebendiges Miteinander sorgen.

Für Besucher ist Glashütte ein lohnendes Ziel. Das Deutsche Uhrenmuseum wird als touristisches Herzstück der Stadt bezeichnet und bietet ein umfassendes, multimediales Erlebnis rund um Uhren und die Geschichte der Uhrenindustrie seit 180 Jahren. Darüber hinaus laden die „Spuren der Zeit“ in der Stadt dazu ein, anhand von Informationstafeln an Häusern mehr über die Geschichte zu erfahren. Auch die umliegenden Ortsteile bieten reizvolle Ausflugsziele, sei es eine Wanderung auf dem Welig mit Blick aufs Erzgebirge, ein Spaziergang in Schlottwitz am Lederberg oder der Besuch des Schlosses mit englischem Park bei Hirschbach. Ein besonderer Tipp zum Verweilen ist der Barockschlosspark in Reinharz Krimmer, ein im englischen Stil angelegter Park, der mit seiner Pflanzenwelt und Architektur zum Entspannen einlädt.

Glashütte präsentiert sich so als eine Stadt, die ihre Tradition ehrt, ihre Wirtschaft stärkt und aktiv in ihre Zukunft und die Lebensqualität ihrer Bürger investiert. Es ist ein Ort, an dem Geschichte und Moderne Hand in Hand gehen und die Zeit auf ganz eigene Weise tickt.

Wie der DEFA-Kultfilm „Schwester Agnes“ in Waltersdorf lebendig bleibt

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Waltersdorf im Zittauer Gebirge ist mehr als nur eine idyllische Kulisse. Fast ein halbes Jahrhundert nach den Dreharbeiten zum DEFA-Film „Schwester Agnes“ ist die Geschichte der engagierten Gemeindeschwester hier noch immer erstaunlich präsent. Der Film von 1974, der im fiktiven Ort Krumbach spielt, fand seine Heimat im echten Waltersdorf und prägt das Dorfleben bis heute.

Eine der Hauptfiguren dieser fortwährenden Geschichte ist heute Justin Birnstein, ein 28-jähriger Altenpfleger in Waltersdorf. Ähnlich wie die Hauptdarstellerin im Film, fährt auch er auf einer Schwalbe von Haus zu Haus, um zu helfen. Früher kannte Justin den Film gar nicht, wurde aber durch ein Schild in Waltersdorf darauf aufmerksam. Die Idee, eine Schwalbe als Dienstfahrzeug zu nutzen und den Film „Schwester Agnes“ einzubeziehen, kam ihm als „sehr tolle Werbung“. Der Plan ging auf. Mit der Schwalbe weckt Justin bei seinen Patienten Erinnerungen. Viele von ihnen haben die Dreharbeiten hautnah miterlebt. Justin stellt fest, dass er die Leute auf diese Weise aktivieren kann; sie erzählen, vergessen kurz ihre Sorgen und lächeln dabei. Er findet es „klasse, dass sich junge Leute finden, die alte unterstützen und pflegen“.

Die Titelrolle der Schwester Agnes war eine Paraderolle für die Schauspielerin Agnes Kraus. Sie sah die Rolle als „richtige Hauptrolle“, „eine richtige Frau, die im Leben steht, arbeitet und gute Arbeit macht“. Im Film kümmert sich Schwester Agnes um die Bewohner ihrer Gemeinde Krumbach. Sie hilft auf ihre ganz eigene Weise, wo immer sie kann, und ist gleichzeitig Gemeinderätin, was den Bürgermeister regelmäßig in den Wahnsinn treibt. Sie setzt sich beispielsweise verzweifelt im Kampf um Wohnraum für eine junge Familie ein.

Obwohl Agnes Kraus die Rolle der Moped fahrenden Gemeindeschwester so überzeugend spielte, gab es bei den Dreharbeiten ein entscheidendes Problem: Agnes Kraus konnte weder Fahrrad noch Moped fahren. Der ehemalige Abschnittsbevollmächtigte Horst Helle sollte ihr das Mopedfahren beibringen, beschrieb es aber als „sehr sehr anstrengend“ und stellte fest, dass es „absolut unmöglich“ war, sie überhaupt auf dem Moped in Bewegung zu versetzen. Da das Lernen nicht klappte, baute der Schmiedemeister Millerlaus ein Gestell mit Rädern, auf das das Moped gestellt wurde, um die Aufnahmen zu ermöglichen. Für spektakuläre Fahrszenen mussten sich die DEFA-Leute zusammen mit den Einheimischen noch einiges mehr einfallen lassen. Wer genau hinsieht, merkt, dass im Film nicht Agnes Kraus auf der Schwalbe sitzt. Stattdessen übernahm Joachim Seipt die Standrolle, wofür ihm die Beine rasiert und mit denen von Frau Kraus verglichen wurden. Dieses trickreiche Vorgehen mit Unterstützung der Einwohner machte den Film zu etwas Besonderem und trug zu seinem Kultstatus bei.

Die Dreharbeiten im Sommer 1974 im Zittauer Gebirge und insbesondere in Waltersdorf brachten einen „Hauch von Hollywood“ ins Dorf. Neben den Stars spielten auch Einheimische als Komparsen mit. Matthias Weiß war damals als Kind dabei, nachdem die DEFA-Leute von Klasse zu Klasse gingen und Kinder für den Film aussuchten. Für ihre Mitwirkung erhielten die Komparsen und Stand-Ins Geld: 40 Mark für eine Standrolle wie die von Joachim Seipt, 20 Mark für einfache Komparsen. Auch bei den Filmszenen wurde getrickst, etwa als Äpfel für eine Szene auf einen Walnussbaum gedrahtet wurden.

Die Schauplätze des Films sind in Waltersdorf bis heute erkennbar. Der Charme der traditionellen Umgebindehäuser eignete sich perfekt als Kulisse. Diese Häuser sind eine einzigartige Volksbauweise in der Oberlausitz, bei der ein slawisches Blockhaus von einem fränkischen Fachwerkhaus umbaut wird. Dieser Aufbau hat den Vorteil, dass tragende Holzbalken restauriert oder ausgetauscht werden können, ohne das Haus abreißen zu müssen. Viele Häuser in Waltersdorf wurden schon zu DDR-Zeiten von den Einwohnern mit wenig Geld und Baumaterialien selbst restauriert und nicht verändert. So gibt es heute über 200 solcher wunderschöner, originalgetreu erhaltener Häuser im Ort.

Das Quirlerhäusel, das im Film der Konsum war, wo Schwester Agnes einkaufen ging, ist heute ein Haus, das von den Schlagersängern Katrin und Peter saniert wurde. Auch das ehemalige Gemeindeamt von Krumbach im Film war ein echtes Haus in Waltersdorf, das Haus Helene. Harald Nagel wuchs dort auf und erinnert sich, wie das Haus für die Dreharbeiten dekoriert wurde. Das Wohnhaus von Schwester Agnes im Film befand sich im benachbarten Jonsdorf; der Eingangsbereich war eine Konstruktion der Filmarchitekten, die bis heute erhalten ist. Während der Dreharbeiten lebten die Bewohner des Hauses sogar einen Monat lang in einer Wohngemeinschaft mit Agnes Kraus. Jens Steffensen, damals 10, erinnert sich an Agnes Kraus‘ ausgeprägte Tierliebe; Szenen wurden unterbrochen, wenn eine Katze kam.

Die Darstellung der Arbeit einer Gemeindeschwester im Film ist allerdings nicht in allen Aspekten authentisch, wie die letzte Gemeindeschwester aus Waltersdorf, Birgit, erklärt. Sie hatte keinen „Knallkopp“-Bürgermeister und ihre Arbeit umfasste nicht so sehr Beziehungsprobleme. Auch sie hatte Probleme mit dem Mopedfahren und nutzte stattdessen ihr Fahrrad, da sie Angst hatte.

Die Figur der Gemeindeschwester berührt auch aktuelle Themen. Während die Gemeindeschwestern damals Zeit hatten, von Patient zu Patient zu fahren und nicht nur medizinische Hilfe leisteten, sondern auch für Gespräche da waren, ist dies heute aufgrund des Hausarztmangels und wenig Zeit für Hausbesuche schwierig. Es gab zwar Modellversuche mit Namen wie AGnES (die für verschiedene Programme stehen), doch die Qualifikationsanforderungen können zum Hindernis werden. Thomas Giebel, von Kollegen liebevoll „Schwester Thomas“ genannt, war als gelernter Rettungsassistent regelmäßig in Waltersdorf auf Hausbesuch, konnte aber aufgrund seiner Ausbildung keine Förderung für solche Programme erhalten. Er musste den Job aufgeben. Anders als im Film, hatte diese Geschichte „keinen Happy End“. Waltersdorf hat derzeit keine Gemeindeschwester mehr, und die Hausarztpraxis musste schließen. Die Bevölkerung auf dem Dorf werde vollkommen ignoriert, da immer weniger Menschen dort leben. Daher bewundert man junge Leute wie Justin, die bereit sind, sich um die alten Menschen zu kümmern.

Agnes Kraus selbst war 60 Jahre alt, als sie zum Fernsehstar wurde. Sie wurde achtmal zum Fernsehliebling gewählt. Viele Leute erkennen sie bis heute. Ursula Stark, die damals eine Touristin im Film spielte, traf Agnes Kraus auch privat und beschreibt sie als sehr mütterlich und mit einem tollen Charakter; sie sagte, was sie dachte, auch wenn sie damit aneckte. Agnes Kraus freute sich sehr darüber, dass die Leute sie kennen und gerne haben und dass sie Kontakt zu den Leuten hat.

Der Erfolg von Agnes Kraus und des Films scheint kein Ende zu nehmen. Der von ihr gespielte Charakter sei „zeitgemäß und modern“. Auch die Aufnahmen mit der Schwalbe tragen zur Popularität bei, da viele junge Leute im Osten wieder eine Schwalbe fahren wollen. Auf YouTube widmet „Oldtimer Blondie“ dem Film sogar ein eigenes Kapitel.

Waltersdorf, die Umgebindehäuser und die Erinnerungen der Einwohner halten die Geschichte von „Schwester Agnes“ lebendig. Und mit Justin Birnstein auf seiner Dienstschwalbe lebt ein Stück des Filmgeistes – die Idee der fürsorglichen Betreuung und des persönlichen Kontakts – in moderner Form weiter.

Burg Posterstein: Eine Reise durch 800 Jahre bewegter Geschichte

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Zwischen Gera und Altenburg, eher unscheinbar, thront sie über dem Tal: die Burg Posterstein. Seit dem Mittelalter hat sie eine bewegte und wechselvolle Geschichte erlebt – mal Herrschaftssitz, mal Verwaltungsmittelpunkt, später Museum.

Wurzeln im Slawenland
Bereits im sechsten Jahrhundert siedelten sich slawische Gruppen im heutigen Altenburger Land an und prägten die Kulturlandschaft. Vor allem sorbische Stämme nutzten waldfreie Flächen für Ackerbau und Viehzucht. Die Wurzeln der Burg reichen jedoch weiter zurück, bis in die Zeit Kaiser Friedrichs I. Barbarossa. Mitte des 12. Jahrhunderts dehnten die Staufer ihren Machtbereich auf das Altenburger Land aus.

Barbarossas Strategie und die Gründung der Burg
Um ihre Herrschaft zu festigen, verfolgte Barbarossa eine gezielte Strategie: Er erhob seine Ministerialen, unfreie Dienstleute, in den Ritterstand. Deren Aufgabe war es, die neu besiedelten Gebiete zu verwalten, slawische Einflüsse zurückzudrängen und das Land militärisch zu sichern. So entstanden im 12. und 13. Jahrhundert zahlreiche kleinere Befestigungen im Pleißenland, darunter auch die Burg Posterstein.

Erste Erwähnung und frühe Anlage
Die erste urkundliche Erwähnung der Burg stammt aus dem Jahr 1191. Damals werden ein Gerhardus von Nöbdenitz und seine Mutter Mechthilde de Stein als Besitzer genannt. Gerhardus gehörte zu den Reichsministerialen Kaiser Barbarossas. Die Burg wurde als Befestigungsanlage auf einem Felsvorsprung über dem Fluss Sprotte, einem Nebenarm der Pleiße, errichtet. In Dokumenten jener Zeit ist sie unter dem Namen „Stein“ verzeichnet. Aus dieser frühen Periode sind noch Teile der Ringmauer sowie der mächtige Bergfried erhalten.

Wandel zur Wohnburg und Namensgebung
Im Jahr 1422 erwarb Nickel Puster die Burg. Seine Familie wurde im Altenburger Register als „Puster zum Stein“ geführt. In dieser Zeit veränderte sich das Erscheinungsbild der Anlage deutlich: Aus der einstigen Wehranlage wurde allmählich eine Wohnburg. Die Burg erlebte zahlreiche Umbauten, die sie komfortabler und repräsentativer machten. Obwohl sie offiziell bis ins 16. Jahrhundert „Stein“ hieß, verdankt sie der Familie Puster ihren heutigen Namen: aus „Puster zum Stein“ wurde Posterstein.

Im 16. Jahrhundert erhielt die Burg ihr bis heute charakteristisches Aussehen. Die Fassade wurde mit weißem Putz versehen und die Ecken in markantem Rot abgesetzt. Dieses Erscheinungsbild war ein deutliches Zeichen für den Übergang von der Wehr- zur Wohnburg. Ebenfalls aus dieser Zeit stammt ein architektonisches Highlight: der Erker an der Westseite, der auf kunstvoll angeordneten, gewölbten Konsolen ruht und die einst nüchterne Wehranlage aufwertete.

Der Bergfried: Schutz und Verteidigung
Ursprünglich als klassische Ringburg mit einem zentralen Bergfried im Inneren errichtet, ragt dieser Turm heute 42 Meter hoch. In Zeiten größter Gefahr bot der Bergfried den letzten sicheren Rückzugsort – sowohl für die Burgbewohner als auch für Menschen aus umliegenden Dörfern. Hinter seinen bis zu drei Meter dicken Mauern konnten sie Schutz suchen. Der ursprüngliche Zugang zum Turm lag, gut geschützt auf der dem Feind abgewandten Seite, in rund 12 Metern Höhe. Möglicherweise gelangte man damals nur über eine Strickleiter hinein. Ein Absatz im Mauerwerk lässt vermuten, dass hier im Mittelalter eine hölzerne Balkendecke als Teil einer Zwischenetage eingezogen war.

Auf mehreren Zwischenetagen konnten sich die Menschen provisorisch einrichten, um eine Belagerung abzuwarten. Damals stand der Turm noch frei im Zentrum der Wehranlage, was ihn zum sichersten Ort machte. Wer sich dort verschanzt hatte, war schwer zu bezwingen; Angreifern blieb oft nur die Möglichkeit, die Insassen auszuhungern oder sie durch Rauch und Feuer zur Aufgabe zu zwingen.

Der Bergfried war nicht nur Rückzugsort, sondern auch strategisch bester Verteidigungspunkt. Von hier hielt ein Türmer Ausschau nach Feinden. Bei Gefahr konnten Verteidiger mit Pfeil und Bogen oder Armbrust aus schmalen Schießscharten feuern. Zinnen und eine schützende Brüstungsmauer boten Deckung. Wenn der Feind zu nahe kam, konnten Steine von oben herabgeworfen werden.

Die Ära der Familie Pflugk
Seit dem 16. Jahrhundert taucht der Name Pflugk regelmäßig in Besitzverzeichnissen auf. Dieses Adelsgeschlecht war regional bedeutend. Im Jahr 1528 kam es zu einem folgenreichen Verkauf: Nickel von Ende veräußerte das Rittergut Posterstein für 17.500 Gulden an seine Vetter, die Brüder von Pflugk.

Damit begann die Ära der Familie Pflugk auf Posterstein, die die Geschichte der Region über Generationen prägte. Bekannte Vertreter waren Julius Pflugk, Bischof in Naumburg und Gegenspieler der Reformatoren, sowie Haubold Pflugk. Haubold trat in den Staatsdienst Kurfürst Johann Friedrichs ein und übernahm ritterliche Pflichten. Im Schmalkaldischen Krieg kamen aus Posterstein vier Pferde, ein Heerwagen, zwei Bogenschützen und ein Langspießer zum Einsatz. Das Rittergut wuchs in dieser Zeit, und die Burg wurde in ein Schloss verwandelt.

Haubold von Pflugk vergrößerte 1554 seinen Einfluss erheblich durch den Erwerb der Gerichtsbarkeit über 14 weitere Orte. Die niedere Gerichtsbarkeit regelte Alltägliches, die obere Gerichtsbarkeit erlaubte das Richten über „Hals und Hand“, also über Leben und Tod. Ein faszinierendes Relikt dieser Zeit ist der massive Gerichtsschrank aus dem 17. Jahrhundert, der bis heute im Gerichtsraum erhalten ist. Er diente zur Aufbewahrung von Akten und Gerichtsbüchern und verbirgt eine Treppe, die wohl als geheimer Fluchtweg genutzt wurde.

Der Musenhof auf Schloss Tannenfeld
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in der Nähe, auf Schloss Tannenfeld (etwa 2 km von Posterstein entfernt), ein Zentrum des geistig-kulturellen Lebens. Der „Musenhof“ der Herzogin Anna Dorothea von Kurland gehörte zu den bekanntesten seiner Art. Sie pflegte enge Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten ihrer Zeit und machte ihre Landsitze zu Treffpunkten der europäischen Elite.

Künstler, Philosophen und führende Politiker waren Gäste an ihrem Hof. Vermutlich zählte sogar Zar Alexander I. von Russland zu den bekanntesten Besuchern. Die Herzogin wählte die Standorte bewusst, da die Schlösser an wichtigen Reiserouten lagen und in der Nähe geistiger Zentren wie Weimar und Jena sowie des Kurortes Ronneburg.

Der Alltag am Musenhof war von Offenheit und Kultur geprägt. Ein besonderer Höhepunkt war die tägliche Zusammenkunft um 17 Uhr in der Teestube von Schloss Tannenfeld. Es wurde philosophiert, diskutiert, musiziert und getanzt. Gemeinsam wurden Theaterstücke verfasst und aufgeführt, Choräle komponiert und vorgetragen.

Die Burg Posterstein blickt somit auf eine facettenreiche Geschichte zurück, die von mittelalterlicher Wehrhaftigkeit über adlige Herrschaft bis hin zur Nähe zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum reicht.

Die Kultlebensmittel der DDR, die ein Lebensgefühl konserviert haben

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Für viele, die in der DDR aufwuchsen, waren bestimmte Lebensmittel nicht einfach nur lecker, sondern ein Teil ihrer Geschichte. Produkte wie Nudossi, Bambina, Würzfleisch oder das erste Softeis im Sommer waren mehr als nur Essen – es war Kindheit, es war zu Hause. Auch wenn viele dieser Produkte heute noch existieren, sprechen kaum noch Menschen darüber. Dieses Phänomen zeigt, wie diese 20 Kultlebensmittel ein ganzes Lebensgefühl konserviert haben.

Süße Erinnerungen und kleiner Luxus
Ein herausragendes Beispiel ist der Zetti Bambina Riegel. Er war kein Riegel, sondern Magie in rotem Papier. Wer ihn in der Brotdose hatte, war „König auf dem Pausenhof“. Mit seinem weichen Karamell, das auf der Zunge schmolz, dem knackenden Haselnusskrokant und der perfekten Schokolade war Bambina mehr als nur Nascherei – es war Belohnung, Trost und kleiner Luxus zugleich. Heute gibt es ihn wieder, doch damals schmeckte er nach zu Hause, nach Sicherheit, nach Kindheit. Bambina war „ein Stück Herz in Schokoladenform“.

Eine weitere stille Heldin der Süßwarenabteilung war die Schlagersüßtafel. Sie zerging im Mund wie eine kleine Pause vom Alltag, war leicht, cremig und hatte einen sanften Kakaoton. Für viele war sie die erste Süßigkeit, die man ganz allein genießen durfte. Sie zeigte: Man braucht keinen Überfluss, um Genuss zu erleben. Die Schlagersüßtafel ist bis heute ein stilles Denkmal für diese Haltung.

Anders und unvergesslich war auch Crackers. Mit Knäckebrot, Kakaoglasur und Zucker – keine Schokolade, aber ein Geschmack, der sofort Erinnerungen weckte. Er war krümelig, süß, ein bisschen rau und ein echtes DDR Original. Besonders begehrt waren die Sammelbilder – Tiere, Märchen, Technik – die ihn begleiteten. Crackers war ein Snack mit Charakter, Ecken und Seele, der stolz auf das war, was er war.

Zarte Zuneigung verkörperte die Wiba-Nougatstange. Dieser schlichte, edle Riegel mit cremigem, nussigem Nugat schmolz auf der Zunge wie ein Versprechen. Wer ihn verschenkte, meinte es ernst, und wer ihn bekam, fühlte sich besonders. Die goldene Hülle glänzte und war ein stiller Luxus im Alltag. Die Wiba gehörte zur DDR wie das gute Porzellan und wer sie einmal probierte, vergisst diesen Moment nie.

Auch die Liebesperlen in Minibachdosen gehörten zu den süßen Seelentröstern. Die winzigen Zuckerperlen waren bunt wie das Leben, verpackt in Dosen, die so schön gestaltet waren, dass man sie sammelte. Jede Dose mit Tieren, Märchen oder Lokomotiven war ein kleines Kunstwerk. Sie waren Tauschobjekt und Geheimversteck, und das Klappern der Dosen weckte Erinnerungen an Pausenhöfe und Kinderlachen. Die Liebesperlendose war nicht nur Süßkram, sondern Erinnerung in Metall.

Eisgenuss und kühle Erfrischung
Eis hatte in der DDR einen besonderen Stellenwert. Hexeneis war „Zauberei auf der Zunge“, ein Wirbel aus Vanille, Erdbeer oder Schoko, frisch gezogen. Serviert in Muschelwaffel oder Papiertüte. Besonders waren die Löffel, bedruckt mit Sternen oder einer Hexe, die gesammelt wurden wie Schätze. Ein Biss war Sommer, Freibad, ein perfekter Tag. Hexeneis war kein Produkt, sondern ein Erlebnis.

Das Pückler-Eis war „wie ein kleines Versprechen auf Glück“. Drei Farben, drei Sorten – Schokolade, Vanille, Erdbeere – in klaren Streifen, oft serviert auf Omas bestem Porzellan. Man aß es mit Gabel und Messer, langsam und andächtig, als wäre es ein Festessen. Pückler-Eis war kein Luxus, sondern Kultur und stand für Sorgfalt, Gemeinsamkeit und Genuss ohne Eile.

Grünfant war „Eis mit Persönlichkeit“. Knallgrün, frech, unverwechselbar – schon der Name klang nach Pausenhof. Der Waldmeister-Vanille-Mix im Becher war cremig und nicht zu süß. Grünfant war mehr als nur Eis, es war eine Figur im Theater der Kindheit. Bis heute ist dieser Geschmack fest im Herzen verankert.

Auch das Muscheleis war ein kleiner Schatz. Eine Waffel in Muschelform, gefüllt mit cremigem Eis. Man hielt sie stolz fest, und der erste Biss war ein kleines Abenteuer. Muscheleis war Alltagsfreude pur und deshalb so kostbar.

Das Ilka Softeis war „mehr als eine Erfrischung“. Es war der Moment vor der Maschine, das Geräusch, wenn das Eis spiralförmig in die Waffel floss. Weiß, braun oder gemischt, Hauptsache frisch, cremig, weich. Es zerging auf der Zunge und war immer richtig, ob nach dem Einkauf oder dem Schwimmen. Ilka Softeis war die DDR in einer Waffel – ehrlich, einfach, unvergesslich.

Deftiges und Getränke mit Haltung
Verlässlichkeit im Dosenformat boten die Halberstädter Würstchen. Sie waren immer da, wenn es schnell gehen musste, im Küchenschrank oder im Rucksack. Fein geräuchert, zart im Biss, in Lake, die vertraut schmeckte. Ob kalt, warm oder heimlich direkt aus der Dose – sie waren ein Stück Alltag, das nie langweilig wurde. Halberstädter auf der Dose, DDR im Herzen. Das Knacken des Deckels weckt Erinnerungen an Lagerfeuer und gedeckte Tische.

Kraft aus dem Kessel lieferte die NVA Feldsuppe. Deftig, sättigend, ehrlich. Kartoffeln, Kohl, Möhren, manchmal Wurst – mehr brauchte es nicht, aber es steckte alles drin, was zählte. Sie schmeckte nach Zusammenhalt, nach Lagerfeuer Nachmittagen und Geschichten unter freiem Himmel. Diese Suppe stärkte nicht nur den Bauch, sondern auch das Wirgefühl. Die DDR konnte Gemeinschaft kochen, und sie schmeckte wunderbar.

Für den Start in den Tag oder die Brotzeit gab es die Schmelzkäseecken. Acht kleine Dreiecke in einer Runddose, einzeln verpackt. Sie waren cremige Verlässlichkeit, mild und streichzart. Für viele Kinder war es der erste Schritt in die Unabhängigkeit, eine eigene Ecke ganz ohne Hilfe. Sie gehörten zur großen DDR Frühstückswelt, praktisch und familienauglich.

Eine rauchig-würzige Alternative fürs Brot war die Bücklingspaste. Direkt aus der Tube aufs Brot gedrückt. Der Duft erinnerte an Fischhallen. Sie gehörte zum Abendbrot wie das Brotmesser. Bücklingspaste war DDR pur – praktisch, vollwertig, unverwechselbar. Sie war kein Snack, sondern ein Lebensgefühl direkt aus der Tube.

Bei den Getränken stach die Brockenhexe hervor. Sie war keine Limo, sondern ein Zaubertrank. Knallgrün, süß, spritzig und geheimnisvoll, der Name weckte Abenteuerlust. Sie schmeckte nach Waldmeister und Fantasie. Brockenhexe war mehr als Limonade, sie war ein Gefühl, ein Stück Kindheit in flüssiger Form.

Club Cola war „unser Geschmack von Freiheit im Glas“. Weniger süß, dafür mit mehr Charakter. Wer sie trank, wollte nicht imitieren, sondern etwas Eigenes genießen. Sie war auf jedem Fest und in jedem Jugendclub präsent. Ein eisgekühlter Schluck weckte das Gefühl, dass man in der DDR eine eigene Cola hatte, die „richtig gut schmeckte – ehrlich, erfrischend, unverwechselbar“.

Ein weiteres Getränk mit Haltung war Pfeffi. Pfefferminzgrün, klar im Kopf, kühl im Abgang. Kein Getränk zum Angeben, sondern zum Anstoßen. Für viele war Pfeffi der erste Schluck Freiheit, grün wie Hoffnung, süß wie der Moment. Er war unkompliziert, ehrlich, ein Getränk, das zusammenbringt.

Der Klassiker auf jedem Tisch
Und dann gab es noch den Senf, der Heimat im Glas war: Bautz’ner Senf. Mild, cremig, mit dem richtigen Hauch Schärfe. Keine Mahlzeit war komplett ohne ihn. Ob auf der Bockwurst, zum Eierkuchen oder in der Soljanka – er passte immer. In jeder DDR-Küche stand er griffbereit. Auch heute noch landet er regelmäßig im Einkaufswagen und ist Erinnerung zum Genießen, ein Glas Geschichte.

Eis der weiten Welt und bunter Kuchen
Ein Hauch der weiten Welt auf der Hand war das Moskauer Eis. Zwei knusprige Waffeln und dazwischen pures Vanilleglück. Wer es bekam, fühlte sich reich. Es war ehrlich, ohne Schnörkel – nur Eis und Liebe. Der Name klang groß, doch das Erlebnis war ganz nah. Moskauer Eis war kein Luxus, es war besser – es war Erinnerung in Vanille.

Zuletzt der Papageienkuchen. Er war kein Kuchen, sondern ein Feuerwerk auf dem Blech. Bunt, mutig, voller Leben. Gebacken mit Götterspeise, Fantasie und viel Herz. Wer ihn anschnitt, hörte Kinder lachen; wer ihn aß, schmeckte Geburtstag, Schule, Gemeinschaft. Es war der Kuchen, den jede Oma konnte, den jedes Kind liebte. Er zeigte: Man braucht kein exotisches Superfood, um Freude zu backen – nur Teig, Farbe und Liebe. Papageienkuchen war DDR pur.

Diese Lebensmittel waren mehr als nur Produkte; sie waren feste Anker im Alltag, Symbole für Gemeinschaft, kleine Freuden in oft einfachen Zeiten. Wer heute daran denkt oder sie wiederfindet, schmeckt nicht nur den Geschmack, sondern spürt vor allem das Gefühl von damals – Kindheit, Heimat, Zusammenhalt.

Das sozialistische Traumschiff der DDR – die MS Völkerfreundschaft

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Schon zu Zeiten der DDR stachen von der Hansestadt Rostock Urlauberschiffe in See. An Bord gingen die werktätige Bevölkerung und verdiente Aktivisten, die in den Ostseeraum oder zum Schwarzen Meer reisten. Auch Sportler der Olympiamannschaft der DDR nutzten die Gelegenheit, an Bord zu gehen. Die MS Völkerfreundschaft war das erste dieser sozialistischen Traumschiffe.

Gemeinsam mit der Fritz Heckert, dem einzigen Neubau eines Kreuzfahrtschiffes für die DDR, wurde die Völkerfreundschaft ab 1960 eingesetzt. Später kam noch die MS Arkona hinzu, die vielen als TV-Traumschiff des ZDF bekannt war. Doch die Völkerfreundschaft hatte schon vor ihrer ersten Fahrt unter DDR-Flagge im Februar 1960 eine traurige Berühmtheit erlangt. Am 25. Juli 1956 kollidierte das Schiff, damals noch als Stockholm unter schwedischer Flagge unterwegs, in einer Nebelbank vor der US-Ostküste mit dem doppelt so großen Liner Andrea Doria. Während das italienische Schiff sank, kamen 51 Menschen bei dem Unglück ums Leben, davon fünf auf der Stockholm. Der beschädigte Havarist erreichte New York und wurde repariert. 1960 kaufte die DDR das Schiff für 20 Millionen Kronen.

Vor ihrer Jungfernfahrt am 24. Februar 1960 ins Mittelmeer wurde das Schiff von der damaligen Deutschen Seereederei Rostock (DSR) betrieben und umfassend umgebaut. Es sollte in puncto Luxus den Bauten des „Klassenfeindes“ in nichts nachstehen. An Bord gab es ein Außen- und Innen-Schwimmbad, einen Frisiersalon, Rauchsalon und ein verglastes Kaffee mit großer Tanzfläche. In einem Kinosaal für 180 Besucher wurden die neuesten Filme aus DEFA-Produktionen gezeigt. Wer sportlich aktiv sein wollte, konnte Tischtennis spielen oder auf dem Oberdeck Volleyball spielen, wobei der Ball an einer Sehne befestigt war, damit er nicht über Bord ging. Allerdings, so erinnert sich Reinh Brand, der von 1975 bis 1981 als Steward auf dem Schiff arbeitete, gab es das heutige Entertainment moderner Kreuzfahrtschiffe noch nicht.

Brand erinnert sich gerne an die Zeit zurück. Es sei eine „sehr interessante Zeit Seefahrt zu den Bedingungen der DDR“ gewesen. Es war die „einzige Möglichkeit, das Land legal zu verlassen“. Als Steward war es Brands Aufgabe, sich um die Gäste zu kümmern, eine von morgens bis abends schwere Arbeit.

Im Frühjahr und Herbst standen Reisen für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) auf dem Programm. Im Winter wurde das Schiff zeitweilig an die schwedische Stena Line verchartert. Dies geschah, weil die DDR chronisch unter Devisenmangel litt und die Westkundschaft gut zahlte. Anfang Mai begann die Hauptsaison. Eine Reise dauerte stets zwei Wochen und führte in Häfen der befreundeten sozialistischen „Bruderstaaten“. So ging es von Rostock über die Ostsee bis ins frühere Leningrad und zurück. Als Besatzung war man sechs bis acht Wochen mitgefahren und hatte danach etwa vier Wochen frei. Im September und Oktober steuerte das Schiff südlichere Gefilde an. Rundreisen durch das Schwarze Meer führten von Varna über Jalta nach Sotschi und zurück. Später wurden diese Fahrten verkürzt, da die Fahrten durch das Mittelmeer nicht mehr so häufig stattfanden.

Auf diesen Fahrten durften nur ganz bestimmte Leute mitfahren. Denn stets fuhr bei den Staatsrepräsentanten ein Politoffizier der Staatssicherheit mit an Bord. Die Stasi war immer präsent, aus Sorge, dass Passagiere oder Besatzungsmitglieder die Gelegenheit zur Flucht nutzen könnten. Dies geschah tatsächlich in einigen Fällen. Deshalb hielten bei engen Passagen wie etwa der Durchfahrt durch den Bosporus immer Leute von der Besatzung Wache, damit keiner über Bord sprang.

Später folgten auch Reisen nach Kuba, bevor wieder die Charterreisen der Schweden anstanden. Im Frühjahr nahm das Schiff in der Regel eine mehrwöchige Werftzeit in Wismar in Anspruch, denn es war „schon etwas betagter“. Die Charterfahrten, meist mit skandinavischen Gästen an Bord, gefielen Brand besonders gut. Dabei gab es sehr interessante Häfen zu sehen: die gesamten Kleinen Antillen, die Karibik von Grenada bis zu den Jungferninseln, die Kanarischen Inseln und das gesamte Mittelmeer. Brand erinnert sich: „Es war jeder Tag ein Highlight. Wir haben es uns schon schön gemacht.“. Gelegentlich durfte die Besatzung beim Volleyball gegen die Gäste antreten, und wenn einmal sämtliche Passagiere von Bord gegangen waren, feierte die Besatzung auch mal eine kleine Party, wie einen „bayerischen Abend“.

Doch das eisige Klima des Kalten Krieges war auch an Deck spürbar. Auf ihren Fahrten zwischen Ostsee und Westindischen Inseln geriet die Völkerfreundschaft mehrmals zwischen die Fronten des Ost-West-Konflikts. Auf dem Weg nach Kuba im Oktober 1962 durchfuhr das mit FDGB- und tschechischen Urlaubern besetzte Schiff die amerikanische Blockadelinie. Drei Stunden lang wurde es von einem US-Zerstörer in zwei Seemeilen Abstand begleitet, bevor das Kriegsschiff abdrehte und die Völkerfreundschaft unversehrt Havanna erreichte. Sechs Jahre später kam es in der Ostsee zu einem Zwischenfall, als das Kreuzfahrtschiff mit einem westdeutschen U-Boot-Jäger kollidierte, der gerade einen Republikflüchtling aufnehmen wollte. Ebenfalls in der Ostsee stieß die Völkerfreundschaft 1983 mit einem U-Boot der Bundesmarine zusammen. Die Vorfälle gingen glimpflich aus.

Doch der Zahn der Zeit nagte unverkennbar an dem Schiff. Zudem rentierte sich der Betrieb des Schiffes nicht mehr, die Völkerfreundschaft wurde zum Zuschussgeschäft für die klamme DDR-Staatskasse. Kurz vor ihrer Außerdienststellung wurde ihr noch eine besondere Ehre zuteil: Das Urlauberschiff diente als Kulisse für die Außenaufnahmen des DFF-Streifens „Die Rache des Kapitäns Mitchel“.

Im Januar 1985 wurde die renovierungsbedürftige Völkerfreundschaft nach 25 Jahren auf den Weltmeeren verkauft. In dieser Zeit hatte sie 117 Häfen in 51 Ländern angelaufen und eine Strecke zurückgelegt, die acht Erdumrundungen entspricht. In den Jahren darauf folgten mehrfache Umbauten unter wechselnden Namen und Eigentümern. Bis heute ist sie das am längsten im Dienst befindliche Transatlantikschiff der Welt. Die MS Völkerfreundschaft bleibt damit ein faszinierendes Kapitel der DDR-Geschichte auf See.