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Spartakiade 1967: Sport, Propaganda und ein Hauch gesamtdeutscher Einheit

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Ost-Berlin, 1967. Die DDR inszenierte mit der Kinder- und Jugendspartakiade ein Mammutereignis, das weit über den sportlichen Wettkampf hinausging und als eindrucksvolle Demonstration der Stärke und des Selbstbewusstseins eines eigenen Staatsgebildes diente. Der Höhepunkt dieser Veranstaltung war eine „Mammutsportschau“ in Ost-Berlin, an der 13.000 Zwölf- bis Achtzehnjährige teilnahmen. Diese jungen Athleten waren die Elite, die sich in zuvor stattgefundenen Ausscheidungskämpfen qualifiziert hatten, an denen sich zwischen Ostsee und Erzgebirge unglaubliche zwei Millionen Kinder und Jugendliche beteiligt hatten.

Der immense Aufwand, der betrieben wurde, schien sich auf den ersten Blick zu lohnen: Bei der Spartakiade wurden 116 Kinder- und Jugendrekorde aufgestellt. Dies nährte in Mitteldeutschland berechtigte Erwartungen im Hinblick auf die kommenden Olympischen Spiele in Mexiko und München. Doch das Sportereignis war weit mehr als nur ein Kräftemessen junger Talente. Das Regime nutzte die Gelegenheit auf geschickte Weise, um seine Eigenstaatlichkeit zu demonstrieren und verstand es, „keine Chance ungenutzt zu lassen“.

Mit allen Mitteln der Propaganda und einer imponierenden Organisation gab das Regime den jungen Sportlern Anlass zu Stolz und jugendlicher Begeisterung. Die Absicht war klar: Der Stolz auf die eigene Leistung sollte „ganz von selbst auch zum Stolz auf einen eigenen Staat“ werden. Selbst die Volksarmee war präsent und warb auf „ganz unpolitische Weise“ mit sportlich-volkstümlichen Einlagen für sich.

Trotz aller Bemühungen und der „Erziehung zu einem separaten deutschen Nationalbewusstsein“ zeigte sich jedoch ein interessantes Phänomen: Das Gefühl gesamtdeutscher Zusammengehörigkeit war offenbar noch vorhanden. Ein bemerkenswerter Moment ereignete sich, als in einer Pause des Spartakiade-Geschehens das Fußball-Länderspiel England gegen die Bundesrepublik Deutschland im Fernsehen übertragen wurde. Die Reaktionen der Zuschauer waren unübersehbar: Sie vollführten bei jedem westdeutschen Tor „Luftsprünge vor Freude“.

Diese spontane Freude über die Tore des westdeutschen Teams war ein klarer Hinweis darauf, dass die innerdeutsche Teilung im kollektiven Bewusstsein noch nicht vollständig verankert war. Die mitteldeutsche Wirklichkeit war den Kindern „drüben“ aber naturgemäß näher als das westdeutsche Fernsehbild, insbesondere bei der Siegerehrung für die Kameraden aus ihrer eigenen Schule und ihren eigenen Sportkadern.

Die Kinder- und Jugendspartakiade 1967 war somit ein vielschichtiges Ereignis: Eine beeindruckende Leistungsshow des DDR-Sports und ein mächtiges Instrument der staatlichen Propaganda, das gleichzeitig unfreiwillig einen flüchtigen Blick auf das weiterhin vorhandene Gefühl der gesamtdeutschen Verbundenheit gewährte. Es war, als ob der Staat versuchte, ein neues Mosaik zu legen, doch einige Steine blieben hartnäckig in ihrem alten Muster verhaftet.

Jugenderziehung in der DDR: Zwischen Pionierstolz und staatlicher Lenkung

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Sozialistischer Staat deutscher Nation, wie die DDR in den 1960er Jahren genannt wurde, war die staatliche Erziehung der Jugend ein umfassendes und tiefgreifendes System, das weit über den Schulunterricht hinausging. Es handelte sich um eine zentral organisierte und einheitlich ausgerichtete Betreuung, die den Alltag, die Schule und die Ferien der Kinder bestimmte. Ziel war es, die Jugend von heute auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten und sie im Sinne der sozialistischen Weltanschauung zu formen.

Die Pionierorganisation – Das Fundament der Erziehung
Die „Pionierorganisation Ernst Thälmann“ spielte dabei eine zentrale Rolle. Ihr gehörten nahezu alle Kinder bis zum 14. Lebensjahr an. Sie war nicht nur für Paraden und Demonstrationen zuständig, sondern prägte das gesamte Leben der jungen Menschen. Die Losung „Uns gehört die Zukunft“ und die Forderung „Lernen, lernen und nochmals lernen“ waren dabei leitend.

Ein Paradebeispiel für die technische und ideologische Ausrichtung war das Kosmonautenzentrum in Karl-Marx-Stadt (ehemals Chemnitz). Hier wurden Weltraumflüge simuliert, und Jugendliche konnten in einem Kurzlehrgang die sowjetische Raumfahrt kennenlernen – amerikanische Erfolge wurden kaum erwähnt. Die jungen Pioniere mussten in diesem Zentrum mathematische Aufgaben lösen, Fragen zur Weltraumfahrt und Astronomie beantworten sowie physikalische Reaktions- und Leistungstests bestehen. Dies sollte nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Teamfähigkeit und Belastbarkeit trainieren.

Ferienlager und Pionierhäuser: Lenkung auch in der Freizeit
Auch die Ferien waren fest in das System integriert. Pionierlager waren eine gängige Form der Erholung, deren Angebot im Gegensatz zur Bundesrepublik zentral organisiert und einheitlich ausgerichtet war. Obwohl deutsche Kommunisten mit praktisch kostenlosen Aufenthalten in internationalen Pionierlagern warben, waren diese im August ausschließlich mit mitteldeutschen Kindern belegt. Der finanzielle Beitrag der Eltern war minimal, für Kinder von Betriebsangehörigen der Patenschaftsbetriebe war der Aufenthalt sogar kostenlos. Die Lager wurden oft von Volkseigenen Betrieben als Paten unterstützt und von Altkommunisten als Parteibeauftragte betreut. Die Pionierleiter, die für das gesamte Lagerleben, Arbeitsgemeinschaften, Spiele, Disziplin und Weltanschauung verantwortlich waren, hatten eine spezielle pädagogische und ideologische Ausbildung in Pionierschulen absolviert.

In den Lagern ging es nicht nur um Erholung; politische Probleme wurden spielerisch dargestellt. So gab es Geländespiele wie „13. August“ zur Sicherstellung feindlicher Flugblätter oder „Vietnam“, bei dem es darum ging, versteckte Notlandestellen amerikanischer Flieger einzunehmen. Auch Nachrichten in der Lagerzeitung wurden „im Sinne der Parteilinie“ ausgewählt, und das Hauptthema war immer wieder Vietnam. Die Kinder wurden zum persönlichen Einsatz für die Sache der vietnamesischen Kommunisten angehalten, etwa durch Spenden oder Altpapiersammeln.

Die Pionierhäuser, von denen es 107 in Mitteldeutschland gab, waren weitere zentrale Orte für die Jugend. Hier kamen junge Pioniere zu naturwissenschaftlich-technischen Arbeitsgemeinschaften zusammen, zum Lesen und für Veranstaltungen. Das Eisenbahnzimmer im Pionierhaus Karl-Marx-Stadt diente beispielsweise dem Anschauungsunterricht und der Nachwuchswerbung für die Reichsbahn. Trotz aller Bemühungen der Pionierleiter, das politische Bewusstsein zu festigen, bevorzugten die Kinder in Lesecafés jedoch Kriminal- und Abenteuerromane gegenüber politischer Literatur oder Biografien großer Kommunisten.

Kaderbildung und der neue Mensch: Der Rechner statt des Denkers
Ein besonderes Augenmerk lag auf der Kaderbildung, also der Heranbildung einer Elite. Im Pionierlager Kalinin wurde eine „Mathematik-Kader“-Gruppe gebildet, deren Mitglieder nach Leistung aus ihren Schulen ausgewählt wurden. Diese Elite hatte während der Ferien zwei bis drei Stunden Unterricht am Tag und konnte bei guten Leistungen mit beruflicher Förderung rechnen. Es galt als Auszeichnung, diesem Kader anzugehören, und die Kinder waren stolz darauf.

Der Schulunterricht selbst unterschied sich formal kaum von dem in der Bundesrepublik, inhaltlich gab es jedoch erhebliche Unterschiede. Fortschrittliche Landschulen waren gut für den naturwissenschaftlichen Unterricht ausgestattet. Die Schulform der Zukunft sollten „Kombinate“ sein – eine Verbindung von polytechnischem Kabinett mit Schule und Betrieben. Schon in unteren Klassen wurde großer Wert auf die Einführung in die Arbeitswelt und Technik gelegt, beispielsweise durch den Bau elektrischer Schaltanlagen. Ziel war es, den Spieltrieb der Kinder planmäßig im Interesse der Arbeitserziehung einzusetzen. Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde der Werkunterricht nicht primär als Entwicklung eigener schöpferischer Fähigkeiten verstanden, sondern sollte „elementare Kenntnisse über wichtige Produktionsprozesse“ vermitteln. Auch der Schulgartenunterricht war fast überall regelmäßig und praxisnah durchgeführt, wodurch die Kinder eigene Verantwortungsbereiche und feste Aufgaben erhielten.

Tagesschulen und Sport: Kollektiv und Staatsstolz
Tagesschulen, in denen die Schüler von morgens bis abends unter Aufsicht waren, galten als die Schulform der Zukunft und waren ideal für berufstätige Eltern. Sie entsprachen auch der staatlichen Propaganda für die Berufstätigkeit der Frauen und das kollektive Aufwachsen der Kinder.

Auch der Sport spielte eine wichtige Rolle. Bei Großveranstaltungen wie der „Mammutsportschau“ in Ost-Berlin, an der zwei Millionen Kinder und Jugendliche teilgenommen hatten, wurden Rekorde aufgestellt und die Volksarmee warb auf „geschickte, ganz unpolitische Weise“ für sich. Solche Anlässe wurden auch genutzt, um die Eigenstaatlichkeit Mitteldeutschlands zu demonstrieren. Bemerkenswert war jedoch, dass trotz aller Erziehung zu einem separaten deutschen Nationalbewusstsein das Gefühl gesamtdeutscher Zusammengehörigkeit offenbar noch vorhanden war: Zuschauer bejubelten im Fernsehen Tore der westdeutschen Fußballmannschaft. Dennoch wurde betont, dass die mitteldeutsche Wirklichkeit den Kindern näher war.

Das Regime setzte alle Mittel der Propaganda und eine beeindruckende Organisation ein, um den jungen Sportlern „Anlass zum Stolz“ zu geben, in der Hoffnung, dass dieser Stolz auf die eigene Leistung ganz von selbst auch zum Stolz auf einen eigenen Staat werden würde. Obwohl von den Einzelheiten der ideologischen Erzählungen wenig haften blieb, sollten sich die ideologischen Parolen grundlegend im Unterbewusstsein festsetzen und das „Bild der Welt mit formen“, das später zur bewussten Weltanschauung werden sollte.

Die umfassende und gezielte Erziehung in der DDR kann man sich wie eine gigantische Kaderschmiede vorstellen: Jedes Zahnrad, von der Schulbank bis zum Ferienlager, war darauf ausgelegt, ein spezifisches, staatstreues Ergebnis zu produzieren – ein Volk von „Rechnern“ statt „Dichtern und Denkern“.

„FREE HANNA“: Ein Fall im Fokus

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Nürnberg/München – Der Fall der Kunststudentin Hanna S., die derzeit im sogenannten „Budapest-Komplex“ in München angeklagt ist, hat sich zu einem Brennpunkt der Diskussion über staatliche Repression und die Rolle des Antifaschismus in Deutschland entwickelt. Ihr Prozess beleuchtet nicht nur die spezifischen Vorwürfe gegen sie, sondern auch grundsätzliche Fragen zum Umgang der Justiz mit politischem Aktivismus.

Der „Tag der Ehre“ und die Auseinandersetzungen in Budapest
Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen Ereignisse, die sich im Februar 2023 in Budapest zugetragen haben. Dort findet jährlich der sogenannte „Tag der Ehre“ statt – eines der größten neonazistischen Events in Europa, bei dem Hunderte und Tausende Neonazis zusammenkommen, um an einem „Reenactment“ eines versuchten Ausbruchs von SS-Soldaten und ungarischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg zu gedenken. Dieses Treffen dient gleichzeitig als Vernetzungsplattform für die europäische extreme Rechte.

Seit Jahren kommt es im Umfeld dieses Events zu antifaschistischen Gegenprotesten. Im Jahr 2023 gab es dabei körperliche Auseinandersetzungen. Während die ungarische und deutsche Staatsanwaltschaft davon ausgehen, dass Antifaschistinnen gezielt rechtsextreme Teilnehmerinnen in koordinierten Gruppen angriffen, sprechen Aktivist*innen von ungeplanten Auseinandersetzungen. Recherchen von Antifa-Gruppen zufolge waren die angegriffenen Personen „relativ hochrangige und gut organisierte Neonazis“, darunter Laszlo Dudoc, ein Mitglied von Blood and Honor in Ungarn, und Personen aus der Gruppierung Legio Ungaria, die bereits durch Angriffe auf Synagogen und jüdische Menschen auffiel.

Schwere Vorwürfe und kritische Stimmen der Verteidigung
Hanna S., eine Kunststudentin aus Nürnberg, wurde im Mai 2024 in Nürnberg festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Ihr werden im Zusammenhang mit den Budapester Ereignissen gefährliche Körperverletzung, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und, was als besonders kritisch angesehen wird, versuchter Mord vorgeworfen.

Hannas Anwalt, Yunus Ziyal, weist insbesondere den Vorwurf des versuchten Mordes entschieden zurück. Er betont, dass der Geschädigte „innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen wieder komplett genesen“ war, es sich lediglich um „Platzwunden und Prellungen“ handelte. Der Mordvorwurf sei die „schärfste“ Anschuldigung, die das deutsche Strafgesetzbuch kennt, und lasse sich angesichts der Art und Weise, wie Antifaschist*innen agieren, schwer rechtfertigen. Es sei weder aus der Geschichte noch aus der jüngeren Vergangenheit abzuleiten, dass es die Absicht von antifaschistischen Aktionen sei, Nazis zu töten. Selbst die Generalbundesanwaltschaft gehe davon aus, dass die Taten dem Muster der sogenannten „Antiverst“ folgten, bei denen es explizit um Körperverletzungshandlungen ging, die nach einer bestimmten Zeit abgebrochen und nicht auf die Tötung des Gegners abzielten.

Hanna als Künstlerin und Aktivistin
Hanna S. wird als engagierte Studentin und Aktivistin beschrieben, die sich „stellvertretend für den Einsatz gegen Ungerechtigkeiten und den Rechtsdruck in unserer Gesellschaft“ einsetzt. Als Kunststudentin an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg war sie „total darauf fokussiert, dass man sich einbringt und guckt, dass diese Gemeinschaft läuft“. Thematisch fließen gesellschaftspolitische und politische Themen in ihre Arbeiten ein. Eine ihrer Arbeiten, „Wir dürfen niemals vergessen 2023“, basierte auf dem Buch „Kein Vergessen“ von Thomas Billstein, das die Todesopfer rechter Gewalt seit 1945 dokumentiert. Hanna schuf dafür Papierkarten, auf denen jedes Loch für ein Jahr und jeder Knoten für ein Lebensjahr eines Opfers rechter Gewalt stand, um der „Masse an Daten“ ein Gesicht zu verleihen und zur Auseinandersetzung mit dem Thema anzuregen. Hätte man all diese Karten an einer Wand präsentiert, so bräuchte man „über 100 Meter von der Wand“.

Der Umgang der Justiz – Zwischen Dämonisierung und Skandal
Der Umgang der Justiz mit dem Fall wird von den Unterstützer*innen Hannas als „Kriminalisierung von praktisch gewordenem Antifaschismus“ und „Dämonisierung“ bezeichnet. Es wird kritisiert, dass das Verfahren in einem Hochsicherheitssaal verhandelt wird, der eigentlich für Terrorverfahren gebaut wurde und direkt an die JVA München angeschlossen ist. Dies werde mit Sicherheitserwägungen und der „breiten Solidarisierung“ gerechtfertigt.

Besonders hervorzuheben ist die Art der Festnahme: Hanna wurde mit einem „wahnsinnig großen Polizeiaufgebot“, das ganze Straßenzüge absperrte, aus ihrer Wohnung abgeführt. Ihre Untersuchungshaft wird als fragwürdig empfunden, da sie an ihrem Wohnort anzutreffen war und kein Fluchtrisiko bestand. Die Vermutung, sie sei eine „Terroristin“, die „schlimmer als der IS“ sei, machte in der Haftanstalt die Runde, und Vergleiche zu Beate Zschäpe wurden gezogen. Diese Dämonisierung, so ein Sprecher des Solikreises Nürnberg, „setzt ja letztenendes diese ganze Dämonisierung und hier den Eindruck von dem Terrorverfahren eigentlich einfach fort“.

Die Verteidiger*innen befürchten zudem, dass die Verfahren in Ungarn nicht nach rechtsstaatlichen Bedingungen ablaufen und die Haftbedingungen katastrophal sind, mit Berichten über Bettwanzen, mangelhaftes Essen und schlechte Hygiene. Im Fall der Antifaschistin Maja, die trotz eines Eilantrags ans Bundesverfassungsgericht in Windeseile nach Ungarn ausgeliefert wurde, um effektiven Rechtsschutz auszuhebeln, sprechen die Quellen von einem „Justizskandal“. Maja musste unter katastrophalen Bedingungen leiden, wobei ihre Rechte als nonbinäre Person in einem „autoritären, rechtskonservativ regierten transfeindlichen System“ Ungarns nicht gewahrt wurden. Diese rechtswidrige Auslieferung wurde inzwischen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, doch ihre Rückholung gestaltet sich schwierig. Die Sorge vor einer ähnlichen Auslieferung hing lange wie ein „Damoklesschwert“ über Hanna.

Es wird die Frage aufgeworfen, warum ein „sehr viel höherer Ermittlungseifer“ bei politisch linken Aktivistinnen an den Tag gelegt wird als bei rechten Gewalttätern. Das Oberlandesgericht München begründet die Härte des Vorgehens gegen Hanna damit, dass ihre vermeintliche Tat „das Ansehen Deutschlands in Gefahr“ sehe. Kritikerinnen entgegnen, dass dies angesichts der Tatsache, dass sich Menschen Faschist*innen entgegenstellen, absurd sei und vielmehr auf den „Stand des Rechtsrucks in Deutschland“ hinweise.

Der Knastalltag und die Kraft der Solidarität
Hanna berichtet selbst über ihren Knastalltag, der von strikten Routinen geprägt ist: Wecken um 6:30 Uhr, Instant-Kaffee, Schreiben, Lesen und eine Folge „Hubert und Staller“ schauen. Sie vermisst vor allem die Freiheit und die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen. Doch die größte Unterstützung erhält sie durch die breite Solidarität von außen: „Ich habe gegrinst wie ein Honigkuchenpferd, es waren sicher 100 Postkarten und 30 Briefe, wenn ich sogar mehr“. Diese Unterstützung gibt ihr „die Kraft und den Mut, das hier Stück für Stück durchzustehen“.

Der Film „FREE HANNA – Solidarität im Budapest-Komplex“ versucht, Hanna auch jenseits der Schlagzeilen zu porträtieren und die Macht der Solidarität zu zeigen. Seit Mitte Februar finden an den Prozesstagen in München kontinuierlich Solidaritätsbekundungen statt, oft mit über 100 anwesenden Menschen. Diese breite Unterstützung dient als „Gegenbild zu diesem Versuch der Dämonisierung“ von Antifaschist*innen als „besonders gefährliche Subjekte“. „Solidarität ist die stärkste Waffe, die die Menschen generell, die keine Macht haben, haben“, heißt es in der Videoquelle.

Der Fall Hanna S. ist somit mehr als ein individuelles Strafverfahren; er ist eine „Projektionsfläche“ für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Zeiten des Rechtsrucks. Er stellt die Frage, ob der Staat zulassen will, dass die Justiz „immer weiter den Fokus nach links richten“ und Widerstand gegen rechte Entwicklungen mürbe machen soll. Für viele ist Hannas Mut zu handeln, selbst wenn die Mittel umstritten sind, ein „Leuchtturm“ in dieser Auseinandersetzung. Praktischer Antifaschismus wird dabei als „nicht nur legitim, sondern auch von Tag zu Tag notwendiger“ angesehen.

Was wäre aus der DDR ohne Wiedervereinigung geworden?

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Ein kontroverser Blick auf die Wendezeit und die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus

Die Ereignisse von 1989/90, die zur Deutschen Wiedervereinigung führten, werden oft als Triumph des freien Willens der ostdeutschen Bevölkerung gefeiert. Doch ein alternativer Blickwinkel, wie er von Wilhelm Domke-Schulz vom Overton Magazin dargelegt wird, hinterfragt diese Erzählung und skizziert ein Szenario, in dem die DDR einen anderen Weg hätte einschlagen können – und vielleicht sogar gesollt hätte.

Die Fahnen-Kontroverse und mutmaßliche Einflussnahme
Ein zentraler Punkt der Kritik betrifft die Demonstrationen im Herbst 1989. Besonders hervorgehoben wird die große Leipziger Demonstration am 4. Dezember 1989 auf dem ehemaligen Karl-Marx-Platz (später umbenannt), bei der massenhaft nagelneue Deutschlandfahnen zu sehen waren. Diese Fahnen waren in der DDR nicht hergestellt worden, und das Problem war, dass sie völlig neu waren, ohne das für DDR-Fahnen typische Staatsemblem und ohne Loch, wo dieses Emblem hätte entfernt werden können.

Die Teilnehmer, die zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Begrüßungsgeld abgeholt und ausgegeben hatten – oft für Güter wie Bananen und Persil – hätten kaum die Möglichkeit gehabt, sich diese Fahnen im Westen zu besorgen, indem sie mit DDR-Mark über die Grenze fuhren. Stattdessen stellte sich später heraus, dass die CDU zwei Lieferautos mit diesen Fahnen gesponsert und den Demonstranten in die Hand gedrückt haben soll.

Dies wird als „völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten“ interpretiert, da die UNO die DDR als souveränen deutschen Staat anerkannte, während die Bundesrepublik dies nie tat. Parallelen werden zu späteren Ereignissen gezogen, bei denen westliche Politiker Demonstranten in Georgien und auf dem Maidan in der Ukraine zur Absetzung ihrer gewählten Regierungen aufgerufen haben.

War es der „reine Wille“ des Volkes?
Die Vorstellung, dass der Wunsch nach Wiedervereinigung und der D-Mark der „reine Wille“ der DDR-Bevölkerung war, wird vom Sprecher bezweifelt. Es wird die These aufgestellt, dass eine Volksabstimmung im Jahr 1990 darüber, ob man der Bundesrepublik beitreten wolle, „sehr knapp ausgefallen“ wäre. Die Konzentration auf die D-Mark, Bananen und das Begrüßungsgeld habe die Perspektive verzerrt.

Die verpasste Chance eines demokratischen Sozialismus?
Trotz der Probleme hätte die DDR nach Ansicht des Sprechers überleben und einen eigenen Weg gehen können, möglicherweise in Richtung eines „demokratischen Sozialismus“. Die wirtschaftliche Grundlage sei „nicht schlecht“ gewesen, mit einer funktionierenden Schwer- und Chemieindustrie sowie weltweitem Handel.

Was die Menschen in der DDR jedoch massiv gestört habe, sei nicht der Sozialismus an sich gewesen, sondern die „bürokratisch-vormundschaftliche“ Natur des Staates. Dinge wie geschlossene Grenzen, Einschränkungen der Reisefreiheit, Zensur und die Angst vor Abhörung („Vormundschaftlicher Staat“ war auch der Titel eines bekannten Buches in der DDR) seien die eigentlichen Gründe für Unmut gewesen.

Der „Hass“ der westdeutschen Eliten auf die DDR seit ihrer Gründung wird auf eine Hauptursache zurückgeführt: die Enteignung von Eigentum in der DDR, was zu einem Wirtschafts-, Diplomatie- und Ideologiekrieg geführt habe. Zugleich werden Vorteile des DDR-Systems hervorgehoben, wie die Vollfinanzierung der Gesundheitsversorgung durch eine einzige Krankenkasse, bei der keine Zuzahlungen nötig waren – im Gegensatz zu den vielfältigen und zuzahlungsintensiven Krankenkassen im Westen.

Die Voraussetzungen für einen eigenständigen Weg, basierend auf einer funktionierenden Industrie und dem Wunsch nach mehr Freiheit, anstatt einer „feindlichen Übernahme“, waren demnach gegeben.

Die Frage, was aus der DDR ohne Wiedervereinigung geworden wäre, bleibt somit mehr als nur eine akademische Übung. Sie wirft ein Licht auf eine Gabelung im historischen Pfad, an der ein weniger begangener Weg andere Möglichkeiten des Aufbaus und der Selbstbestimmung bot, jenseits des Lockrufs von D-Mark und Bananen.

Eisenbahnstraße Leipzig: Zwischen Wandel und Widerstand – Ein Viertel im Umbruch

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Die Leipziger Eisenbahnstraße ist seit Langem ein Sinnbild für den Leipziger Osten. Lange Zeit hatte sie mit einem schlechten Ruf zu kämpfen und wurde oft auf ihre Problematik als Waffenverbotszone reduziert. Doch wie der Filmemacher Birg Poscker in seinem Film „Hütten sind für alle da“ aufzeigt, ist die Eisenbahnstraße weit mehr als das. Sie ist ein Ort voller vielfältiger Soziokultur, interessanter Menschen und spannender Projekte.

Vom Brachland zum begehrten Hotspot
Als Birg Poscker 2018 in den Leipziger Osten zog, war er fasziniert von der dortigen Vielfalt und dem Freiraum. Das Viertel, das lange Zeit brachlag und bis in die 2000er Jahre hinein noch viel Leerstand aufwies, zog mit seinen günstigen Preisen und der Möglichkeit, sich mit kleinen Läden, Cafés, Bars und Nachbarschaftsgärten auszuprobieren, junge, kreative Menschen an. Doch dieser Freiraum geht zunehmend verloren.
Die Eisenbahnstraße und der Leipziger Osten durchlaufen einen rasanten Wandel. Was einst von vielen als „zweites Berlin“ bezeichnet wurde, ist heute fast vollständig saniert. Die Freude über noch ursprünglich erhaltene Gebäude weicht der Realität einer umfassenden Durchsanierung, die erhebliche Veränderungen mit sich bringt.

Der Kampf um Wohnraum und Freiräume
Ein wiederkehrendes Thema in Posckers Dokumentation ist der Kampf um Wohnraum. Die Leidtragenden sind Menschen mit geringem Einkommen, aber auch Orte des Zusammentreffens, die nach und nach verschwinden. So manche Schauplätze, die Poscker in seinem dreijährigen Dreh begleitete, sind bereits gentrifiziert worden, andere sehen sich durch steigende Mieten bedroht. Das einst charmante „Goldhorn“, in dem gedreht wurde, ist heute ein „steriler Ort“ geworden. Der „Hitnesscub“ hingegen, an der Ecke Hermann-Liebmann-Straße/Eisenbahnstraße, bleibt ein Ort für Konzerte mit besonderer Stimmung.

Besonders deutlich wird der Druck durch die Spekulation mit unbebauten oder ungenutzten Flächen. Die „Prache“, eine bekannte Brachfläche im Leipziger Osten und sinnbildlich für das Viertel, wo sich Anwohner trafen und versammelten, ist ein Beispiel dafür. Obwohl die Stadt Leipzig bis zu einer Million Euro für das Grundstück bot, wurde sie immer wieder überboten. Zwischenzeitlich geplante Projekte wie ein Biergarten scheiterten an fehlenden Genehmigungen. Aktuell ist die Fläche wieder ungenutzt, doch langfristig wird auch hier ein Wohnhaus entstehen, „wenn sich’s wieder lohnt“.

Auch die Hausbesetzung in der Ludwigstraße 71 durch die Gruppe „Leipzig besetzen“ verdeutlicht den Widerstand gegen den Verlust von Freiräumen. Trotz der Solidarität von Anwohnern und Unterstützern ist das Haus fünf Jahre später immer noch unbewohnt und ungenutzt.

Gegen das Klischee: Authentische Geschichten zählen
Für Birg Poscker war es ein zentrales Anliegen seines Films, die einseitige Darstellung der Eisenbahnstraße zu widerlegen. Er wollte die Menschen, die dort leben, selbst zu Wort kommen lassen und das Viertel nicht auf Kriminalität reduzieren. Poscker kritisiert, dass Menschen mit Migrationsgeschichte oft erst dann thematisiert werden, wenn es Probleme gibt, obwohl der Großteil ihrer Geschichten „ohne Probleme“ und „toll“ ist. Es sei nicht schwer, diese Geschichten zu finden und zu zeigen, man müsse nur darüber berichten.

Der Filmtitel „Hütten sind für alle da“ ist inspiriert von einer Regel auf einem Bauspielplatz, den ein kleiner Junge mit Einwanderungsgeschichte den Zuschauern im Film zeigt. Die erste Regel des Bauspielplatzes lautet: „Hütten sind für alle da“. Diese Regel spiegelt das Kernanliegen des Films wider: Jeder soll zu Wort kommen.

Der Film „Hütten sind für alle da“ ist in den kommenden Wochen noch mehrmals im Sommerkino auf der Feinencoss, im Kassymuseum und im Conne Island zu sehen. Er bietet einen tiefen Einblick in ein Viertel, das sich zwischen seinem Ruf, seiner rasanten Entwicklung und dem beharrlichen Geist seiner Bewohner behauptet.

„Zur See“: Wie der Osten das Traumschiff erfand

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Im Sommer 1974 stach ein Fernsehprojekt in See, das die Zuschauer in der DDR und sogar im Westen begeistern sollte: die TV-Serie „Zur See“, gedreht an Bord des Ausbildungsschiffs „Johann Gottlieb Fichte“. Was heute als „zeitloses“ Kritikerformat und „größter Wurf des DDR-Fernsehens“ gilt, war eine achtwöchige Drehreise voller Herausforderungen, politischer Überwachung und unvergesslicher Geschichten.

Die „Fichte“: Ein „Schrottlieb“ mit Geschichte
Die Wahl des Drehorts war bereits ein Kompromiss. Produzenten wie Regisseur Wolfgang Luderer wollten ursprünglich das neueste und modernste Schiff der Flotte, die „Karl Marx“ oder „Friedrich Engels“, nutzen, die klimatisiert waren und über 20 Knoten liefen. Doch die „Johann Gottlieb Fichte“, ein alter Dampfer aus zweiter Hand, der bereits in den 60er Jahren erworben wurde und einst als französischer Truppentransporter diente, hatte den benötigten Platz für die rund 30-köpfige Filmcrew. Bei Seeleuten war das Schiff wegen seines Zustands liebevoll als „Schrottlieb Fichte“ bekannt. Der Matrose Jürgen Schumann beschrieb das Schiff sogar als „Fehler“ und teilweise „auf Bewährung“.

An Bord waren die Lebensbedingungen für die Schauspieler teils beengt und hart: Koch Bern Storch und Bootsmann Jürgen Zartmann wohnten vorne unter dem Bug, oft direkt auf oder unter dem Wasser, was bei Seegang, besonders in der Biskaya bei Windstärke 11, zu starker Übelkeit führte. Das Schwimmbecken an Bord entleerte sich durch einen Riss in die Offiziersmesse, und in Kuba herrschte in den Kabinen „Affenhitze“, da es keine Klimaanlage gab.

Eine Reise voller unvorhergesehener Ereignisse
Die Reise der „Fichte“ führte von Rostock nach Havanna und zurück. Ursprünglich sollte die Route über Schweden nach Mexiko und Kuba verlaufen, doch das DDR-Fernsehen erwirkte eine direkte Fahrt, was auch der Staatssicherheit sehr wichtig war. Dennoch kam es zu einem ungeplanten Stopp: Kurz nach dem Ablegen versagte ein Hilfsdiesel, was Kapitän Horst Rinder dazu zwang, aus Sicherheitsgründen den nächsten Hafen Aalborg in Dänemark anzulaufen. Dort durften die Filmleute drei Tage an Land gehen und einkaufen, obwohl die Spesen mit 10 D-Mark pro Mann und Tag denkbar knapp kalkuliert waren. Chefbeleuchter Hans-Gerhard Veit brachte seiner Tochter von dort einen kleinen Radiergummi mit, ein unvorstellbares Mitbringsel in DDR-Zeiten.

Die Dreharbeiten selbst waren extrem fordernd. Das Team musste das Material für neun Folgen in nur neun Wochen aufnehmen, da das Schiff nur für diese eine Reise zur Verfügung stand. Regisseur Wolfgang Luderer nutzte jeden möglichen Drehtag voll aus, und es wurde täglich die doppelte Menge an Filmmaterial gedreht wie im Studio zu Hause. Dabei mussten unberechenbare Faktoren wie Wetter, Sonneneinstrahlung und Wellengang berücksichtigt werden.

Realität und Fiktion: Konflikte an Bord und kuriose Geschichten
Die Serie zeichnete sich durch die Darstellung realer Konflikte aus, insbesondere zwischen „oben und unten“, Brücke und Maschine, die die Zuschauer fesselten. Die spektakulärste und meistdiskutierte Szene war der Kolbenwechsel bei schwerem Seegang. Diese Geschichte basierte auf einem realen Vorfall mitten im Schwarzen Meer, als ein Kolben stillgelegt werden musste und das Schiff eigentlich hätte abgeschleppt werden müssen.

Auch kuriose Begebenheiten flossen in die Drehbücher ein. Eine davon war die Geschichte der zwei Bullenkälber „Max und Moritz“, die als „blinde Passagiere“ an Bord waren. Diese Tiere wurden seekrank und bereiteten dem Team Verdruss. Requisiteur Harald Meyer, der nebenbei auch Tierpfleger war, musste extra frische Möhren für sie besorgen. Kurz vor Kuba wurden die Bullen geschlachtet und bei einem großen Grillfest von der gesamten Besatzung verzehrt.

Eine weitere feste Tradition auf DDR-Handelsschiffen, die in der Serie inszeniert wurde, war die Äquatortaufe. Hierfür wurden viele Statisten aus der echten Mannschaft rekrutiert, die dafür 720 Mark erhielten – genug, um die Getränkerechnung für die ganze Reise zu decken. Jürgen Zartmann spielte dabei nicht nur den Bootsmann und Parteisekretär, sondern auch den Meeresgott Neptun.

Die Staatssicherheit: Ein ständiger Schatten
Die gesamte Produktion stand unter genauer Beobachtung der Staatssicherheit und der Kaderabteilungen des DDR-Fernsehens und der DSR. Die Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit verzögerte den Drehbeginn sogar um ein ganzes Jahr. Die übliche Angst war die „Republikflucht“. Bestimmte Mitglieder der Aufnahmegruppe, darunter Regisseur Wolfgang Luderer, sollten während der Reise „operativer Kontrolle“ unterliegen. Luderer geriet sogar ins Visier, weil er seine Lebensgefährtin als Regieassistentin mit ins Ausland nehmen wollte, was die Stasi als „politisch operativ“ bewertete und die Einstellung des gesamten Filmvorhabens empfahl. Als seiner Freundin die Nachreise nach Havanna verwehrt wurde, drohte Luderer sogar, die Dreharbeiten einzustellen.

Die Serie sollte auch als Werbefilm dienen, da die DSR permanent Personal suchte – nicht weil niemand zur See fahren wollte, sondern weil zu wenige die strengen Überprüfungen bestanden.

Ein „Straßenfeger“ mit West-Charme
Trotz aller Widrigkeiten wurde „Zur See“ ein riesiger Erfolg und zu einem „Event“ in der DDR. Es war ein „Straßenfeger“, der selbst West-Seher vom „Ochsenkopf“ (West-Fernsehen) weglockte. Viele Zuschauer schätzten, dass die Serie „endlich etwas ohne Politik“ war. Wolfgang Rademann, der verstorbene West-Berliner Filmproduzent des „Traumschiffs“, bekannte sich als begeisterter Fan von „Zur See“ und ließ sich für seine eigene Erfolgsserie von ihr inspirieren. Jürgen Zartmann war sogar der einzige Schauspieler, der auf beiden „Traumschiffen“ – der „Fichte“ und dem ZDF-„Traumschiff“ – anheuerte. Während „Zur See“ die realen Geschichten der Seefahrer und ihre harte Arbeit beleuchtete, konzentrierte sich das „Traumschiff“ auf Liebesgeschichten und den Reichtum an Bord.

Heute, 40 Jahre nach seiner Erstausstrahlung, hat „Zur See“ nichts von seinem Reiz verloren. Es wird immer noch verlangt, und bei Seemannstreffen erklingt die Titelmelodie. Es ist ein „gutes Zeitdokument“ der 70er Jahre, das Einblicke in den Alltag auf hoher See und die spezifischen Verhältnisse in der DDR bietet.

Die Geschichte der „Fichte“ und ihrer Filmcrew ist wie eine Flaschenpost aus einer vergangenen Zeit. Sie trägt nicht nur spannende Geschichten über Abenteuer und Widrigkeiten mit sich, sondern auch die subtilen Botschaften und Zwänge einer Gesellschaft, die das Fernweh ihrer Bürger im Zaum halten musste, während sie ihnen gleichzeitig die weite Welt vor Augen führte. Ein echtes Stück Fernsehgeschichte, das immer noch nachklingt.

Die Narben der Diktatur: Gerhard Bauses unvergessene Haft in Bautzen II

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BERLIN. Die Erinnerung an die Haft im Stasi-Knast Bautzen II und anderen DDR-Gefängnissen prägt das Leben von Gerhard Bause bis heute. Seine Geschichte ist ein erschütterndes Zeugnis von Mut, Widerstand und den tiefen Wunden, die ein totalitäres Regime hinterlassen kann. Ein zentraler Wendepunkt in seinem Leben war die Verfassung einer Protesterklärung im Jahr 1988, die er gemeinsam mit zwei Freunden verfasste und die zu seiner Inhaftierung führte.

Die Protesterklärung war eine klare Forderung nach Freiheit: Gerhard Bause und seine Mitstreiter verlangten die Freilassung von Bürgerrechtlern wie Stephan Krawczyk, Freya Klier, David Vera Lengsfeld, die während einer Rosa-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 verhaftet worden waren. Der Mut, diese Forderung öffentlich zu machen, hatte sofortige und dramatische Konsequenzen. Die Erklärung wurde an einem Freitag persönlich in der Erlöserkirche in Berlin an Generalsuperintendent Kruschel übergeben, zudem wurden Abschriften an das Ministerium des Inneren und an den Kirchenanwalt Wolfgang Schnur gesendet. Bause wusste, dass er mit einer „Zuführung“ rechnen musste.

Die Verhaftung, die am darauffolgenden Montag geschah, war ein zutiefst traumatisches Erlebnis für Bause. Er hatte sich innerlich darauf vorbereitet, doch die Verhaftung seiner eigenen Frau vor seinen Augen brach für ihn eine Welt zusammen. Die Herren der Staatssicherheit, die sich als solche auswiesen, fragten gezielt nach dem Arbeitsplatz seiner Frau, und Bause musste miterleben, wie sie im weißen Kittel aus ihrem Arbeitsplatz geführt und keine zehn Meter entfernt von ihm im Fahrzeug Handschellen angelegt bekam. Dieses Erlebnis, das die Trennung von der Familie und die damit verbundenen Vorwürfe einschloss, beschäftigte ihn innerlich maßlos.

Gerhard Bauses Haftweg führte ihn durch mehrere gefürchtete Anstalten der DDR:

• Ein Jahr und zehn Monate verbrachte er zunächst in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Erfurt (Andreasstraße).
• Anschließend folgte ein Monat in Cottbus.
• Daraufhin einige Monate in Chemnitz, dem damaligen Karl-Marx-Stadt.
• Schließlich wurde er im Februar 1989 nach Bautzen II verlegt, wo er bis zur Wende und der Amnestie inhaftiert blieb. Insgesamt war Gerhard Bause ein Jahr und neun Monate inhaftiert.

Während der langen Haftzeit halfen Bause verschiedene Strategien, um zu überleben. Er setzte sich etappenweise Ziele, oft mit dem Blick auf den Entlassungstag, und hoffte auf einen „Freikauf“ in den Westen. Was ihm jedoch am meisten Kraft gab, war sein Glaube als Christ. Er richtete all seine Sorgen, Nöte, Wünsche und Hoffnungen im Gebet an den „Herrgott“. Eine weitere wichtige Form der Selbsthilfe war das Schreiben von Gedichten, womit er bereits in Bautzen begann und die er nach seiner Freilassung fortsetzte. Sein Gedichtband mit dem Titel „Ohne hohe rollt das Meer“ beschreibt die Situation des Eingesperrtseins, die Diktatur und die gesamten Hafterlebnisse. Das Schreiben half ihm, einen Großteil der seelischen Wunden aufzuarbeiten.

Die Zeit nach der Haft war eine weitere Herausforderung. Gerhard Bause musste die DDR innerhalb von 24 bis 48 Stunden verlassen, er wurde „quasi noch regelrecht rausgeschmissen“. Der Übergang von der „Beengtheit“ der Haft in die „Licht- und Glitzerwelt“ des Westens führte zunächst zu einem „kompletten Zusammenbruch“.

Heute empfindet Gerhard Bause, dass die Erfahrungen dieser Zeit einen sehr großen Einfluss auf ihn haben. Er sieht es als seine Pflicht an, die Geschichte der Willkür und Diktatur an die jüngere Generation weiterzugeben, damit sich so etwas nicht wiederholt. Er kritisiert jedoch die heutige Gesellschaft, die seiner Meinung nach „zu müde, zu satt“ sei, um aufzustehen. Insbesondere äußert er Bedenken, dass die politische Bildung und die Vermittlung der Geschichte in Gedenkstätten durch „links-grün ausgerichtete Stiftungen und Politiker“ so gesteuert werden, wie sie es gerne hätten, was die authentische Weitergabe der Geschichte gefährde.

Gerhard Bauses Leben ist wie ein Leuchtturm in stürmischer See: Er hat die Dunkelheit der Diktatur durchlebt und leuchtet nun, um nachfolgende Generationen vor den Gefahren der Unfreiheit zu warnen und die Bedeutung der historischen Erinnerung zu betonen.

Einblicke in die psychologische Kriegsführung der Stasi in Hohenschönhausen

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Berlin-Hohenschönhausen war kein gewöhnliches Gefängnis, sondern ein Ort der „Zersetzung der Seele“. Hartmut Richter, einer der Zeitzeugen und Betroffenen, berichtet von seiner Inhaftierung und den perfiden Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die darauf abzielten, die Persönlichkeit von Häftlingen zu zerstören und sie zu brechen. Seine Erlebnisse, beginnend mit seiner Verhaftung 1975, zeichnen ein beklemmendes Bild dieser „operativen Methode“ der Stasi.

Der Beginn der Alptraums: Eine plötzliche Verhaftung
Die Verhaftung erfolgte ohne Vorwarnung: Im Februar 1963 wurde Hartmut Richter morgens auf dem Weg zu seiner Dienststelle von zwei Männern angesprochen. Noch bevor er seinen Ausweis zeigen konnte, packten sie ihn, drückten ihn in eine schwarze Limousine und brachten ihn nach Berlin-Lichtenberg, Magdalenenstraße. Richter, der sich zu diesem Zeitpunkt noch als unschuldig ansah, hoffte, dass sich die Angelegenheit schnell klären würde – vielleicht nur eine Einschüchterung, ein „Schuss vor den Bug“. Nach 22 Stunden in Berlin-Lichtenberg wurde er in einem dunklen Transportwagen an einen unbekannten Ort gebracht, der sich später als Berlin-Hohenschönhausen herausstellte. Dort angekommen, wurde er sofort entwürdigt: „Sie sind die Nummer 48, merken Sie sich das“, brüllte ein Wärter, und von diesem Zeitpunkt an wurde er nur noch mit dieser Nummer angesprochen.

Entmenschlichung und totale Kontrolle
Die Ankunft in Hohenschönhausen war der Beginn einer systematischen Entmenschlichung. Gefangene mussten sich entkleiden, und jede Körperöffnung wurde inspiziert. Die Zellen waren fensterlos oder hatten nur „zwei Reihen Glasziegel, dazwischen einen Spalt“, was das Atmen erschwerte. Persönliche Dinge gab es nicht, und jegliche Form der Beschäftigung, wie Lesen, Schreiben oder das Recht zu liegen oder zu sprechen, war während der Untersuchungshaft untersagt. Informationen von außen drangen nicht ein, und Informationen nach außen gelangten nicht hinaus. Die Wärter, speziell geschultes Personal, die sich als „Schild und Schwert der Partei der Arbeiterklasse“ verstanden, hatten die Aufgabe, die Gefangenen zu dominieren und zur Unterordnung zu zwingen.

Die Überwachung war allgegenwärtig und total:
• Ständige Beobachtung: Überall waren Kameras, und Posten sahen mit einem Auge durch einen Spion in die Zellen.
• Schlafentzug als Folter: Fluoreszierende Röhren im Flur und Lampen über den Türen sorgten dafür, dass es nie wirklich dunkel wurde. Die Posten kontrollierten die Zellen alle paar Minuten, was ein „permanenter Schlafentzug auch eine psychische Folter“ war.
• Geplante Isolation: Es war untersagt, anderen Gefangenen zu begegnen. Selbst Unkraut wurde entfernt, damit Häftlinge kein Grün zu Gesicht bekamen. Diese Isolation führte bei Hartmut Richter dazu, dass er nach seiner Freilassung Kreislaufbeschwerden bekam, wenn er versuchte, „weit zu schauen“.

Psychologische Kriegsführung: Die Methode der „Zersetzung“
Die Stasi nutzte das, was sie „Zersetzung“ nannte – eine „operative Methode zur wirksamen Bekämpfung subversiver Tätigkeit“. Das Ziel war es, „feindlich negative Einstellungen und Überzeugungen“ von Zielpersonen zu erschüttern und zu verändern, um „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich negativer Kräfte“ zu erreichen. Dabei setzten sie an der „schwächsten Stelle“ an, um eine „Kettenreaktion“ auszulösen.

Zu den perfiden Methoden gehörten:
• Induktion von Schuldgefühlen: Vernehmungen zielten darauf ab, den Gefangenen einzureden, dass sie gegen Gesetze der DDR verstoßen und sich schuldig fühlen müssten.
• Manipulation und Demütigung: Vernehmer nutzten vielfältige Taktiken – freundlich, schmeichelnd, witzig, gehässig – um Gefangene zu verunsichern und zum Reden zu bringen. Es ging darum, „Bedingungen gestellt, die du zu erfüllen hast“, wie die Bitte um eine Zigarette, um „Devotion Unterordnung Zweck Verhalten zu erreichen“. Sie wollten sehen, ob man bereit war, sich zu demütigen.
• Zerstörung der Orientierung: Richter erfuhr an seinem Geburtstag, 14 Tage nach seiner Verhaftung, beiläufig, dass sein Ehemann ebenfalls in Haft sei und es ihm „wesentlich besser“ ginge, was darauf abzielte, ihn „eifersüchtig zu machen“ und „Stimmung“ in ihm zu erzeugen. Die Stasi wollte „eine Orientierung zerstören“ und „den eigenen Menschen Wert… zweifelhaft erscheinen“ lassen.
• Das Spiel mit der Hoffnung: Die Stasi spielte gezielt mit der Hoffnung der Gefangenen. Die Aussage „Dein Feind heißt Hoffnung Amnestie Entlassung vielleicht schon morgen er will dich fertig machen du sollst hoffen enttäuscht werden und zerbrechen“ fasst diese Strategie zusammen. Hartmut Richter wurde nach drei Wochen Isolation das Angebot gemacht, seinen Sohn in Westberlin zu besuchen – unter der Bedingung, dass er einem „unbekannten Studenten zur Flucht verhelfen“ sollte, was er als potenzielle Beihilfe zu einer Entführung erkannte und ablehnte.

Die Rolle der „inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM)
Ein besonders erschütternder Aspekt war der Einsatz von „inoffiziellen Mitarbeitern“ (IMs) im Gefängnis selbst. Dies waren Gefangene, die sich „verpflichtet hatten, wieder gut zu machen“, in der Hoffnung auf Vorteile oder vorzeitige Entlassung. Sie wurden in „wohnzimmerähnlich eingerichteten“ Zellen untergebracht, bekamen Kaffee und Kuchen und schrieben Berichte über ihre Mitgefangenen. Die Stasi baute „vertrauliche Beziehungen“ auf, bei denen der IM Vertrauen vortäuschte, während er die Zielperson aushorchte. Richter selbst erfuhr viel später, dass seine Zellen-Nachbarin, die Privilegien wie Liegeerlaubnis und heimliche Verpflegung genoss, eine solche IM war. Dies führte zu einem tiefen Misstrauen und dem Verlust von Freundschaften nach der Wende.

Widerstand und die „imaginäre Mauer“
Trotz der extremen Bedingungen suchten die Gefangenen Wege, sich abzulenken und Widerstand zu leisten. Hartmut Richter baute „diese imaginäre Mauer um mich gebaut und dann ging nichts mehr vor nichts mehr zurück“, wenn es „ganz dick“ wurde. Eine andere Methode war das simulierte Schreiben auf Tischplatten, um Gedanken zu Ende zu denken und Gefühle zu beschreiben, auch wenn es nicht sichtbar war. Richter formulierte Gedichte und reproduzierte diese im Kopf.

Nach der Haft: Unsichtbare Wunden und die Suche nach Antworten
Nach 5 Jahren und 6 Monaten wurde Hartmut Richter 1980 im Rahmen des „Freikaufs“ nach Westberlin entlassen. Doch die Befreiung war nicht das Ende der Geschichte: Die Stasi observierte ihn und seine Familie weiterhin. Er erfuhr später aus seiner Stasi-Akte, dass er als „feindlich negatives Objekt“ eingestuft und sogar eine „Maßnahme planen Vorfahren aus dem hervorging das liquidieren im Sinne von umbringen“ für 1984 erwogen wurde. Diese Erkenntnis, dass er die Stasi unterschätzt hatte, schockierte ihn zutiefst.

Die Erfahrungen in der Haft hinterließen tiefe, oft unsichtbare Spuren:
• Misstrauen und Bindungsängste: Hartmut Richter beschreibt „dieses Misstrauen da dieses Schreckens abschicken weiß jetzt Bindungsängste“.
• Psychische Nachwirkungen: Das „Verhärten“ und „Verbittern“ sind dauerhafte Gefahren, wie ein Gedicht im Video beschreibt.
• Umgang mit der Vergangenheit: Hartmut Richter sucht bis heute das Gespräch mit seinem ehemaligen Vernehmer, der jedoch „mauert“. Er möchte „in Augenhöhe“ reden, aber die „Feigheit“ der Täter frustriert ihn.

Der Fall von Jürgen Fuchs, einem Schriftsteller und Psychologen, der 1976 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ inhaftiert und nach neun Monaten Haft nach Westdeutschland abgeschoben wurde, unterstreicht die extremen Maßnahmen der Stasi. Fuchs starb 1999 mit nur 48 Jahren an einer seltenen Form von Leukämie und äußerte vor seinem Tod den Verdacht, im Gefängnis radioaktiv bestrahlt worden zu sein. Obwohl der Umgang der Stasi mit radioaktiven Substanzen nachgewiesen wurde, konnte eine Tötungsabsicht durch Bestrahlung nicht bewiesen werden.

Das Erbe der Zersetzung
Die „Zersetzung der Seele“ war eine subtile, aber verheerende Form der Gewalt, die auf den Intellekt zielte, um Individuen „unschädlich zu machen“. Sie wirkt lange nach der physischen Freilassung und prägt das Leben der Überlebenden. Es ist ein stilles Trauma, dessen „Spuren auf der Seele“ auf den ersten Blick unsichtbar sind. Diese Methoden erinnern daran, wie ein Baum, der unsichtbar unter der Erde Schaden nimmt, seine Früchte oder sein Wachstum beeinträchtigt sieht, selbst wenn er oberirdisch gesund erscheint. Die Zersetzung zielte darauf ab, die Wurzeln der Persönlichkeit zu untergraben.

Wie der Ostschnapskult das Leben prägte und die Wende überlebte

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Zwischen Rostock und Suhl war er mehr als nur ein Getränk: der Schnaps der DDR. Er war ein Stück Alltag, ein Begleiter durch Freud und Leid, ein Ritual. Heute sind viele dieser Spirituosen fast vergessen, doch einige feiern eine stille Rückkehr und werden heimlich wieder zum Kultgetränk. Sie erzählen Geschichten von Planwirtschaft und Pioniergeist, von festen Feiern und harten Zeiten. Tauchen wir ein in die Welt der unvergesslichen Ost-Spirituosen.

Der verlässliche Begleiter: Nordhäuser Doppelkorn und Goldbrand
Der Nordhäuser Doppelkorn war eine Institution. Er stand auf Familientreffen neben dem Sahnekuchen und war Pflicht beim Frühshoppen. Mit 38% Alkohol war dieser klare, ehrliche Tropfen nicht extravagant, sondern einfach immer da, verlässlich produziert vom VEB Nordbrand in Nordhausen. Er war kein Partyschnaps, sondern ein Ritual, das selbst auf Trauerfeiern nicht fehlen durfte. Sein direkter, schroffer Geschmack hatte Charakter, und er überlebte die Wende als eine der wenigen Ostmarken. Heute gehört er zu Rotkäppchen Mumm und wird noch immer gebrannt, fast wie damals schmeckend, weil er sich nie verstellen wollte.

Wer den Doppelkorn zu stark fand, griff zum Nordhäuser Goldbrand. Auch als „14 Mark 50er“ bekannt, war dieser Verschnitt aus Weinbrand und neutralem Alkohol mil süßer und gefälliger. Er war die flüssige Gewohnheit für alle Lebenslagen, sei es in der Kneipe, auf Gartenpartys oder im Altbauflur. Seine Verfügbarkeit und Versorgungssicherheit waren entscheidend, nicht der Hochgenuss. Hergestellt unter anderem von VEB Bärensiegel Berlin, schmeckte er fast überall gleich – ein Zeichen der Planwirtschaft. Auch er hat überlebt und steht heute noch unter Namen wie Goldkrone im Regal, ein Symbol der Sehnsucht nach einer einfachen Zeit.

Vom Werkzeug zur Erinnerung: Kristall Wodka, Saschenka und Solotov
Der Kristall Wodka, oft „der blaue Bürger“ genannt, war kein Freund, sondern ein Werkzeug. Mit 40% und einem scharfen, direkten Geschmack zielte er auf schnelle Wirkung. Er war billig und absichtlich so konzipiert, eine „Planerfüllung in flüssiger Form“ oder ein „Grundnahrungsmittel mit Nebenwirkung“. Man fand ihn überall, vom Spind auf dem Bau bis zum FDJ-Zeltlager. Heute ist er selten, eine Erinnerung an harte Zeiten oder ein Symbol eines Systems, das seine Menschen eher dämpfen als ihnen zuhören wollte.

Die Wodkas Saschenka und Solotov waren die verlässlichen Nebendarsteller. Sie standen im Schrank neben dem Goldbrand, wurden auf Betriebsfeiern und Geburtstagen getrunken. Saschenka klang russisch und trug eine sowjetische Aura, während Solotov aus Wilden stammte. Beide verkörperten die Handschrift der Planwirtschaft: verlässlich, neutral, unnachgiebig. Sie waren der Versuch, Stil innerhalb des Systems zu behaupten, doch nach der Wende verschwanden sie fast vollständig.

Farbenfrohe Rebellion und stiller Genuss: Pfeffi und Kristall Angelique
Der Pfeffi war anders. Grün wie Leuchtmoos, süß wie Kindheit, scharf wie Menthol – er war der Rebell in grüner Flasche. Besonders bei Jugendlichen beliebt, wurde er heimlich hinter dem Schulgarten getrunken. Nach der Wende fast verschwunden, wurde er von Hipstern neu entdeckt und ist heute Kult, ironisch oder ernsthaft in Bars zwischen Gin und Rum serviert. Er hat sich nicht angepasst, was ihn so besonders macht.
Die Kristall Angelique war das genaue Gegenteil: kein Getränk für nebenbei, sondern ein Anlass, ein Moment der Eleganz. Dieser bernsteinfarbene Kräuterlikör aus dem VEB Bockau im Erzgebirge war sanft verpackt in einer filigranen Flasche. Mit ihrem leicht kräuterigen Geruch und dem Hauch von Blume war sie ein Geschenk für besondere Anlässe, für die Kaffeetafel oder die Frauenrunde am Sonntagnachmittag. Sie war nicht nur ein Likör, sondern ein stilles Fest, das heute meist nur noch in der Erinnerung existiert.

Die harte Realität und das Nischengetränk: Kumpeltod und Mampe Halb und Halb
Eine der bittersten Geschichten erzählt der Kumpeltod. Offiziell „Trink Brandwein für Bergleute“, war dieser klare, scharfe Brandwein ein Sonderposten für die Bergarbeiter der DDR, bis zu 6 Liter im Monat. Sein Spitzname „Kumpeltot“ war bitter: „Kumpel“ als Ehrentitel im Bergbau, „tot“ als Preis für den Alkohol, der sich wie der Staub in die Knochen fraß. Er war kein Genuss, sondern Routine und oft eine Flucht vor der harten, lebensgefährlichen Arbeit unter Tage. Der Kumpeltod ist heute vollständig verschwunden und bleibt eine Mahnung an eine Zeit, in der Alkohol Teil des Systems war und viele keine Wahl hatten.

Mampe Halb und Halb war ein Statement. Mit seiner unverwechselbaren Flasche, die zwei Kammern – eine bernsteinfarben, eine fast schwarz – enthielt, mischten sich Süße und Bitterkeit erst im Glas. Er war ein Getränk für Menschen, die lieber schwiegen als brüllten, ein Nischengetränk in einer Welt der Normierung. Auch im Westen gab es Mampe, doch im Osten hatte er ein anderes Gewicht, eine greifbare Verbindung zwischen zwei Systemen. Nach kurzer Verschwundenheit wurde er wiederbelebt und steht heute mit Retroetikett in Bars.

Der Basteldrink und der Kräuterlikör mit Seele: Grüne Wiese und Röhntropfen
Die Grüne Wiese war keine Fertigmischung, sondern eine Idee: ein Cocktail aus Blue Curaçao, Orangensaft und Sekt. Sie war ein „sozialistischer Basteldrink mit Charme“, grellgrün und künstlich, aber genau darin lag ihr Reiz. Ein Getränk für Feste, das die Tanzfläche eroberte und aus wenig viel machen konnte. Sie verschwand nach der Wende, tauchte aber auf Ostpartys und in Szenebars wieder auf – heute ist sie Kult und ein Stück Hoffnung.

Der Röhntropfen, ein Kräuterlikör mit Seele, wurde in Meiningen im Thüringer Wald hergestellt. Dunkel, zähflüssig, würzig – er war ein Getränk für ruhige Momente, wenn der Tisch abgeräumt war und die Stimmung ruhig wurde. Er wollte nicht allen gefallen, nur den richtigen. Auch er geriet fast in Vergessenheit, erlebt aber heute eine stille Rückkehr in ausgewählten Läden.

Diese Spirituosen waren mehr als nur Alkohol; sie waren Spiegel der Gesellschaft, des Alltags und der Träume in der DDR. Sie waren wie die Notizbücher einer Epoche, in denen jede Flasche ein Kapitel über das Leben schrieb – manche laut und deutlich, andere leise und nachdenklich, aber alle mit unvergesslichem Nachhall.

Der 17. Juni 1953: Ein Tag, der die DDR in ihren Grundfesten erschütterte

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Der Aufstand vom 17. Juni 1953 markiert einen Wendepunkt in der frühen Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und offenbarte die tiefe Spaltung zwischen der regierenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und großen Teilen ihrer Bevölkerung. Was als Arbeiterprotest begann, entwickelte sich zu einem landesweiten Volksaufstand, der nur durch massive sowjetische Militärintervention niedergeschlagen werden konnte.

Die Gründung der SED und erste Widerstände
Die Wurzeln der SED-Herrschaft reichen zurück bis in den April 1945, als die „Gruppe Ulbricht“, benannt nach ihrem Leiter Walter Ulbricht, aus Moskau nach Berlin eingeflogen wurde. Ihr Ziel war die Errichtung der Alleinherrschaft einer Partei unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht. Ein Jahr später, im Frühjahr 1946, hielt Walter Ulbricht dieses „Herrschaftsinstrument“ in der Hand, nachdem die SPD und die KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zwangsvereinigt worden waren. Das erklärte Ziel der SED war eine planorientierte Zentralverwaltungswirtschaft nach sowjetischem Vorbild und die Überführung aller Produktionsmittel in staatliches und kollektives Eigentum – die „sozialistische Revolution“ in Etappen.

Doch die Geschichte der SED ist auch die Geschichte der Opposition, und das von Anfang an. Wolfgang Leonhard, ein Angehöriger der Gruppe Ulbricht, der als Sohn deutscher Kommunisten in der Sowjetunion aufgewachsen war, bemerkte erste Anzeichen parteiinterner Opposition bereits im Juni 1945. Er berichtete von Gründungsveranstaltungen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Berlin, wo Diskussionen nicht über das Programm, sondern über die schauderhaften Vergewaltigungen und Übergriffe sowjetischer Soldaten stattfanden. Ein Genosse forderte gar, den Kommunismus in Deutschland „ohne die Rote Armee als notwendig, ja gegen die Rote Armee“ aufzubauen – eine Haltung, die Leonhard damals noch scharf ablehnte, ihn aber später zum Nachdenken brachte.

Vielfältige Oppositionsströmungen

Leonhard identifizierte mehrere frühe Strömungen der Opposition, die sich ab 1947 herauszubilden begannen:

• Sozialdemokraten: Jene, die in die SED gegangen waren, bemerkten mit Enttäuschung, Schrecken und Entsetzen, wie die Partei immer mehr in ein „kommunistisch-stalinistisches Fahrwasser“ geriet und sehnten sich nach den „guten Zeiten der Sozialdemokratie“ zurück.

• Selbstständig denkende, kritische Kommunisten: Diese hatten die These vom „selbstständigen Weg zum Sozialismus“ ernst gemeint und bemerkten nun, wie die SED immer mehr zu einem Sprachrohr der sowjetischen Besatzungsmacht wurde und sich dagegen aufzulehnen begann.

• Potenzielle Trotzkisten und Angehörige früherer Oppositionen.

Wolfgang Leonhards eigener Weg zur bewussten Opposition war ein Prozess:

• Kritische Regungen hatte er bereits in der Sowjetunion während der Großen Säuberung (1936-1938) und beim Hitler-Stalin-Pakt (August 1939).

• Der Übergang zur bewussten Opposition erfolgte jedoch an einem Tag im Oktober 1948. Als er jugoslawische Broschüren auf dem Gelände der SED-Parteischule versteckte, verstand er plötzlich am eigenen Leibe, was Unterdrückung ist: „Ich erkannte, dass das ein diktatorisches System ist, dass man Dinge verstecken muss“.

• Das entscheidende Ereignis, das seine kritischen Gedanken zu bewusster Opposition werden ließ, war der Bruch Titos mit der Sowjetunion am 28. Juni 1948. Jugoslawien weigerte sich, Stalins Anschuldigungen anzuerkennen, und stellte zum ersten Mal ein „selbstständiges sozialistisches Land“ dar, das sich nicht der stalinistischen Führung unterordnete. Diese mutige Haltung brachte viele Menschen innerhalb der Partei, insbesondere langjährige Kommunisten, zum Nachdenken.

• Leonhard versuchte daraufhin, als „bewusst kommunistischer Oppositioneller“ alternative Ideen zum Stalinismus zu besprechen und konspirative Freundesgruppen aufzubauen. Als seine Aktivitäten aufflogen, floh er am 12. März 1949 unter Lebensgefahr aus der sowjetischen Zone nach Jugoslawien. Er betonte, dass er nicht in den Westen fliehen wollte, sondern eine „Alternative zum Stalinismus auf dem Boden von Marx, Engels und Lenin“ suchte.

Die Eskalation vor dem Aufstand
Währenddessen festigte die SED ihre Macht. Der bürgerliche Widerstand, etwa von Jakob Kaiser, dem Vorsitzenden der Ost-CDU, gegen Enteignungen und die Planwirtschaft, wurde 1948 von der sowjetischen Militäradministration unterdrückt. Die bürgerlichen Parteien wurden in die „Zwangsjacke des antifaschistisch-demokratischen Blocks“ gepresst.

Im Juli 1952 proklamierte Walter Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus in der DDR“. Die Folgen waren verheerend: Zwischen Herbst 1952 und Frühjahr 1953 verließ eine halbe Million Menschen die DDR, vertrieben durch Zwangsmaßnahmen in der Landwirtschaft, Boykottpolitik gegen kleinere Unternehmen, erhöhten politischen Terror und zunehmenden Mangel an Lebensmitteln. Die Fluchtbewegung in den Westen nahm ungeahnte Ausmaße an.

Der Tod Stalins am 5. März 1953 brachte einen neuen Kurs in Moskau mit sich, der auf Entspannung und Zugeständnisse an die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zielte. Dies traf Ulbricht und die SED völlig unvorbereitet, da sie gerade die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent bei gleichem Lohn beschlossen hatten. Obwohl die SED-Führung am 11. Juni 1953 gezwungen war, einen „Neuen Kurs“ mit Verbesserungsversprechen zu verkünden, hielt sie an den erhöhten Arbeitsnormen fest. Dies schuf eine „hochexplosive Lage“, die sich in dem Ausspruch „die SED ist pleite“ zusammenfasste.

Der 16. und 17. Juni 1953: Tage des Aufruhrs
Der 16. Juni, ein Dienstag, war der Tag der Politbürositzungen. Bauarbeiter von der Stalinallee zogen zur Regierung, um ihre Forderungen nach Rücknahme der Lohnerhöhungen vorzutragen. Die SED-Führung, deren Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung bereits zutiefst erschüttert war, wurde beschuldigt, sich nicht im Regierungsgebäude aufzuhalten, was den Unmut weiter anheizte.

Die sogenannte Volkspolizei war „moralisch gebrochen“ und wagte es nicht, gegen die Demonstration vorzugehen. Die Arbeiter sahen, dass sie sich frei formieren konnten, und die Demonstration wuchs unaufhaltsam an. Fritz Schenk, damals persönlicher Berater des Vorsitzenden der staatlichen Planungskommission, erlebte, wie sich die Menschen „wie von einer inneren Kraft getrieben“ fühlten und sich ihrer kollektiven Stärke bewusst wurden.

Am Abend des 16. Juni waren die „hohen Genossen“ alarmiert. In der Nacht zum 17. Juni beriet das SED-Politbüro im Hauptquartier des sowjetischen Hochkommissars in Karlshorst und traf die Entscheidung, die Sowjetarmee zu Hilfe zu rufen.

Am Morgen des 17. Juni rollten bereits in den frühen Stunden sowjetische Panzer nach Ost-Berlin. Das Regierungsgebäude wurde von sowjetischen Sondereinheiten abgeriegelt, und die Fenster wurden von den Demonstranten mit Steinen beworfen. Im Laufe des Vormittags erschienen die ersten sowjetischen Panzer mitten unter den Demonstranten. Die Losungen begannen sich zu verändern: Es war zum ersten Mal von „freien Wahlen“ und dem „Rücktritt der Regierung“ die Rede. Die Forderungen gingen über rein materielle Anliegen hinaus. Schüsse fielen, Panzer setzten sich in Bewegung und drängten die Demonstranten ab.

Der Journalist I Brand, damals Mitglied der Berliner Bezirksleitung der SED, erlebte den Aufstand bei Bergmann-Borsig. Dort strömten Tausende Arbeiter spontan zusammen und äußerten konkrete Schilderungen von Rechtsverletzungen, Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und Prügeln. Um 13 Uhr verkündete der russische Militärchef den militärischen Ausnahmezustand. Sowjetische Truppen lösten die Demonstrationen auf, verhafteten und verprügelten Arbeiter – ein „grausiges und absurdes“ Schauspiel, da die angebliche „Rätemacht“ ihre eigenen Arbeiter auseinandertrieb.

Die bleibende Erkenntnis
Ohne die russischen Panzer wäre das SED-Regime in Stunden hinweggefegt worden. Die oft verbreitete „Agentenlegende“, wonach der Aufstand von westlichen Agenten initiiert wurde, ist laut I Brand ein „SED-Märchen“ und „absolut unsinnig“. Während natürlich immer Agenten konkurrierender Mächte bei inneren Unruhen anwesend sein könnten, hätten sie ohne die „Zündmasse“ und die „eigenständige originäre Arbeitererhebung“ nichts ausrichten können.

Der 17. Juni 1953 war eine Tragödie. In 250 Ortschaften der DDR wurde gestreikt oder demonstriert. Es gab 21 Todesopfer und über 1300 Verurteilungen, darunter sechs Todesstrafen. Der Aufstand hatte keine zentrale Führung, sondern entstand spontan aus der Verbitterung über ein unfähiges und gewalttätiges Regime. Er offenbarte auch eine tiefe Spaltung in der SED-Führung, doch Walter Ulbricht, der die Katastrophe ausgelöst hatte, blieb mit voller Deckung der sowjetischen Führung an der Macht.

Für Fritz Schenk führte die Desillusionierung, die bereits im Frühjahr 1952 eingesetzt hatte, zu der Erkenntnis, dass das von der Sowjetunion übernommene sozialistische System niemals ein demokratischer Sozialismus werden könnte, solange die sowjetische Bevormundung anhielt. Er wurde später wegen Verbindungen zum Ostbüro der SPD und der Verbreitung „hetzerischer Schriften“ (wie Milovan Djilas‘ „Die Neue Klasse“) verhaftet, konnte aber nach seiner Freilassung im Rahmen eines Disziplinarverfahrens fliehen.

Für I Brand war der 17. Juni die vollständige Abkehr von der Vorstellung, dass es sich beim sowjetischen Gesellschaftssystem um eine Form des Sozialismus handelte; er sah es als eine „andere Art von Ausbeutung und Unterdrückungssystem“. Die Erfahrungen des 17. Juni und die darauf folgende Machtlosigkeit angesichts der sowjetischen Bevormundung führten dazu, dass sich nach den späteren Ereignissen in Ungarn 1956 oder dem Prager Frühling 1968 keine stärkeren oppositionellen Gruppen in der DDR bildeten, da „alles Auflehnen hinterher wahrscheinlich wieder mündet in noch tiefere Demütigung“.

Der 17. Juni 1953 bleibt ein Denkmal der Volksverbitterung und des mutigen Aufstands gegen ein diktatorisches System, dessen Fundamente ohne die Stütze fremder Panzer wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen wären. Er war ein lauter Schrei nach Freiheit und Selbstbestimmung, der von der Macht brutal erstickt wurde, aber die tiefe Risse im Gebilde der DDR hinterließ. Es war, als ob ein Ventil bei übermäßigem Druck gewaltsam verschlossen wurde, statt den Druck abzulassen – die Explosion wurde verhindert, aber das System blieb unter immenser Spannung.