Berlin, November 1989. Während auf den Straßen noch der Freudentaumel über den Mauerfall herrscht, wird in einer Kirche in Treptow bereits die politische Zukunft verhandelt. Es geht um mehr als Reisefreiheit – es geht um die Freiheit zu atmen.
Es ist ein Sonntag in Berlin-Treptow, und die Luft in der Bekenntniskirche ist geladen. Nicht mit Weihrauch, sondern mit dem Drang nach Veränderung. Das 6. Berliner Ökologie-Seminar geht zu Ende, doch der eigentliche Anfang steht erst bevor. An einem improvisierten Präsidiumstisch sitzen sie zusammen: die Vertreter einer Bewegung, die jahrelang im Untergrund, unter dem Schutz der Kirche, über saurem Regen und vergifteten Flüssen brütete. Jetzt treten sie ins Rampenlicht.
Der doppelte Weg: Partei und Liga
Die Szene an diesem Nachmittag markiert eine historische Zäsur. Die DDR-Umweltbewegung spaltet sich auf – nicht im Streit, sondern arbeitsteilig. Auf der einen Seite formiert sich die Grüne Partei. Ihr Ziel ist klar: raus aus der Nische, rein ins Parlament. Sie wollen politische Verantwortung übernehmen, Programme schreiben, Gesetze ändern.
Auf der anderen Seite steht die Grüne Liga. Sie versteht sich als das dringend benötigte Netzwerk, das die unzähligen verstreuten Umweltgruppen der Republik bündelt. Ihr Gründungstreffen ist bereits für den 3. Februar avisiert. „Kein Widerspruch“, heißt es vom Podium. Man brauche beides: den parlamentarischen Arm und den außerparlamentarischen Druck der Basis.
Schluss mit „Sündern“ – her mit den Straftätern
Die Sprache der Aktivisten hat sich gewandelt. Jahrelang sprach man in kirchlichen Kreisen vorsichtig von „Umweltsündern“. Damit ist es vorbei. In Treptow wird Klartext geredet: Wer die Umwelt zerstört, ist kein Sünder, sondern ein „Umweltstraftäter“.
Die Forderungen sind konkret und radikal pragmatisch. Ein Umweltfonds soll her, gespeist aus den Strafgeldern der Verschmutzer. Und man hat auch schon eine Idee, wo die Ressourcen für den Umweltschutz herkommen sollen. Die maroden Kläranlagen in Dresden und Wittenberg – Städte, die ökologisch am Abgrund stehen – brauchen sofortige Hilfe. Der Vorschlag der Grünen klingt wie eine Ironie der Geschichte: Die Bautechnik der Staatssicherheit, jene Kapazitäten, die einst Mauern und Bunker bauten, sollen nun für den Bau von Klärwerken umgeleitet werden. Schwerter zu Pflugscharen, Beton zu Filteranlagen.
Die Abrechnung mit Minister Reichelt
Der Zorn der Versammelten richtet sich personalisiert gegen einen Mann: Hans Reichelt, den Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Ihm wird die Verantwortung für die katastrophalen Meliorationsmaßnahmen zugeschoben, die riesige Gebiete der DDR ökologisch ruiniert haben.
Der Ruf nach einem neuen Ministerium wird laut. Ein Ressort für „ökologische Sicherheit“, das nicht mehr, wie bisher, der Wirtschaft dienen muss, sondern die Natur vor der Ökonomie schützt. Ein Zwischenruf eines ungarischen Gastes sorgt für bitteres Gelächter und Hoffnung zugleich: „Unser Umweltminister ist vergangene Woche zurückgetreten. Wie wäre es mit einem Erfahrungsaustausch?“
Vision einer grünen Metropole
Zum Abschluss des Seminars richten die Teilnehmer den Blick über die noch existierenden Staatsgrenzen hinweg auf Berlin als Ganzes. Die Stadt steht am Scheideweg: Wird sie eine Betonwüste mit noch mehr Autos, oder wagt sie den „ökologischen Umbau“?
Das Manifest, das an diesem Sonntag verabschiedet wird, liest sich wie eine Blaupause für das 21. Jahrhundert: Gemeinsame Müllkonzepte für Ost und West, Vorrang für den Nahverkehr, Alternativen zum Flugverkehr. Und die Finanzierung? Die soll durch eine radikale Entmilitarisierung beider deutscher Staaten gesichert werden. Die „Grünen“ in der Bekenntniskirche haben an diesem Novembertag nicht weniger vor, als die DDR nicht nur zu demokratisieren, sondern sie zu sanieren – bevor es zu spät ist.