
Sie saßen im Machtzentrum des DDR-Bauwesens und planten die Städte von morgen: Die Mitarbeiter der Bauakademie der DDR. Ein Zeitzeugengespräch über digitale Pionierarbeit, politische Selbstzensur und die bittere Nachwende-Ernüchterung in einem verschwundenen Institut.
Von unserem Korrespondenten
Berlin. Wer heute die Ecke Unter den Linden und Friedrichstraße passiert, sieht Luxusgeschäfte und Touristenströme. Vor gut 35 Jahren stand hier das „Blaue Wunder“ – das Ministerium für Bauwesen der DDR. Ein Gebäude, das Modernität ausstrahlen sollte, mit Großraumbüros, schallschluckenden Wänden und Vierer-Reihen von Schreibtischen. Hier, im Institut für Städtebau und Architektur (ISA) der Bauakademie, begann in den 1980er Jahren die Karriere einer jungen Baufacharbeiterin und späteren Absolventin der Hochschule Weimar.
Ihre Erinnerungen, die nun Teil eines Zeitzeugenprojekts der Bundesstiftung Bauakademie und des IRS Erkner sind, zeichnen das Bild einer Institution, die zwischen wissenschaftlichem Anspruch und ideologischem Korsett gefangen war.
Vektoren und Visionen
„Das Beste an diesem Institut war der Standort“, erinnert sich die Zeitzeugin. Doch hinter der blauen Fassade wurde nicht nur repräsentiert, sondern hart gearbeitet. Die junge Planerin landete in der Abteilung Generalbebauungsplanung. Was trocken klingt, war in den späten 80ern Pionierarbeit: Die Digitalisierung der gesamtstädtischen Planung. An großen Tafeln wurden analoge Pläne „abgepinnt“ und mittels Vektordigitalisierung in Daten verwandelt.
Inhaltlich stand die DDR-Stadtplanung damals vor einer Zäsur. Das Zauberwort hieß: Übergang von der extensiven zur intensiven Stadtentwicklung. Weg vom Neubau auf der grünen Wiese, hin zur Verdichtung und Altbaumodernisierung. Eine Strategieänderung, bei der die Bauakademie oft als „Beschützer“ von Reformgedanken gegenüber den starren Strukturen des Magistrats auftrat.
Die Schere im Kopf
Doch die Grenzen der Wissenschaft waren dort erreicht, wo die Partei ins Spiel kam. Die Zeitzeugin beschreibt ein „merkwürdiges System der Selbstzensur“. Forschungsberichte wurden beschönigt, Erkenntnisse abgeschwächt, damit sie vom Auftraggeber – meist dem Bauministerium oder der Partei – überhaupt angenommen wurden. „Schere im Kopf“, nennt sie diesen Zustand heute. Die eigene Arbeit nicht in der notwendigen Klarheit zu Ende bringen zu dürfen, war der Preis für den Verbleib im System.
Dennoch gab es Momente des Stolzes, die auch die breite Bevölkerung erreichten. Etwa zur 750-Jahr-Feier Berlins, als auf der Bauausstellung eine „Gläserne WBS 70“ rotierte – jener Plattenbautyp, der das Zuhause von Millionen war, hier aber wie ein technisches Wunderwerk inszeniert wurde.
Gleichberechtigung am Limit
Als junge Frau in einer technischen Domäne fühlte sie sich gleichberechtigt: „Es spielte keine Rolle, ob man Mann oder Frau ist.“ Die Hürden lagen woanders. Der Alltag einer berufstätigen Mutter in der DDR war minutiös getaktet. Das Kind um 6:30 Uhr in die Krippe, ein langer Arbeitstag, um 16:45 Uhr abholen – oft als Erste und Letzte zugleich. Die Vereinbarkeit von „Voll arbeiten sollen“ und Familie war ein logistischer Kraftakt, der wenig Spielraum ließ.
1990: Das Jahr der Illusionen
Mit dem Fall der Mauer brach im Institut zunächst keine Depression, sondern Euphorie aus. „Das Jahr 1990 war das Jahr der positiven Erwartungen“, beschreibt sie die Stimmung. Man glaubte an neue inhaltliche Herausforderungen, an Reformen ohne ideologische Scheuklappen.
Der Kater folgte Ende 1991. Die Abwicklung. Das Institut verlor sein Gebäude, zog um, wurde schließlich aufgelöst und als Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) neu gegründet.
Der Austausch der Eliten
Während die Zeitzeugin als Berufsanfängerin gut durch die Transformation kam, beobachtete sie bei älteren Kollegen Tragödien. Die neuen Führungsstellen wurden fast ausnahmslos mit Westdeutschen besetzt. Ein Evaluierungsprozess, der für gestandene DDR-Wissenschaftler oft als Demütigung empfunden wurde. Dass jemand, der die Arbeit und die Umstände nie erlebt hatte, plötzlich über den Wert eines Lebenswerks urteilte, hinterließ Narben.
„Es hatte mit Augenhöhe nichts zu tun“, resümiert sie bitter. Dass das neue Institut nicht mehr so heißen durfte wie früher und auch inhaltlich eine klare Trennlinie zog, empfindet sie bis heute als Unsinn.
Was bleibt, ist der Wunsch nach Differenzierung. Die DDR-Bauakademie war mehr als ein verlängerter Arm der SED. Sie war ein Ort der Arbeit, der Reibung und der Biografien. „Es ist lohnend, sich damit auseinanderzusetzen, weil es unsere gemeinsame Geschichte betrifft“, sagt sie. Ein Satz, der angesichts der Debatten um den Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie aktueller denn je ist.