Kurt Hager und die tödliche Ideologie des Stillstands

Ein einziger Satz im April 1987 wurde zum Symbol für den Untergang der DDR. Kurt Hager, der mächtige Chefideologe der SED, wollte mit seiner berühmten „Tapetenmetapher“ die Stabilität des Staates retten. Doch seine Weigerung, den Reformen aus Moskau zu folgen, besiegelte das Schicksal der Republik.

Berlin, Mitte der 80er Jahre. Wer durch die Straßen der „Hauptstadt der DDR“ ging, erlebte eine seltsame Mischung aus Routine und Anspannung. Nach außen präsentierte sich der Arbeiter- und Bauernstaat als festgefügte Welt, ein Bollwerk der Beständigkeit. Doch hinter den dicken Vorhängen der Ministerien und in den schallgedämpften Büros des Zentralkomitees stapelten sich Berichte, die eine andere Sprache sprachen. Die Produktivität stagnierte, die Importmöglichkeiten waren ausgereizt, die Abhängigkeit von sowjetischen Rohstoffen wuchs bedrohlich. Die DDR-Wirtschaft lief gegen die Wand. Doch aussprechen durfte das niemand.

In dieser Atmosphäre der verordneten Stille herrschte ein Mann, der wie kein anderer für das konservative Rückgrat der Partei stand: Kurt Hager. Er war nicht irgendein Funktionär. Als „Cheftheoretiker“ und Mitglied des Politbüros war er der Wächter über das Denken von 17 Millionen Menschen.

Der unsichtbare Filter
Wer in der DDR ein Buch schrieb, ein Theaterstück inszenierte oder einen Lehrplan entwarf, bekam es früher oder später mit dem „System Hager“ zu tun. Sein Einfluss reichte tief in die Kapillaren der Gesellschaft. Hager betrachtete Kultur und Bildung nicht als Freiräume für Experimente, sondern als Instrumente zur Formung des sozialistischen Bewusstseins. Zwischen dem Manuskript und der Veröffentlichung stand ein unsichtbarer Filter – Hagers Ideologie.

Diese Härte war kein Selbstzweck. Sie speiste sich aus Hagers Biografie: Geprägt von den Wirren der Zwischenkriegszeit, der Erfahrung des Exils und dem mühsamen Aufbau nach 1945, war für ihn Stabilität gleichbedeutend mit Sicherheit. Jede Veränderung roch für den alten Kader nach Chaos. Sein Ziel war die absolute Geschlossenheit. Was Zweifel säte, musste draußen bleiben.

Der Wind aus Moskau und die Angst in Berlin
Doch Anfang der 80er Jahre drehte sich der Wind – und er kam ausgerechnet aus der Richtung, aus der man bisher nur Weisungen empfangen hatte: aus Moskau. Michail Gorbatschow sprach plötzlich von Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung). Worte, die in den Ohren der Ost-Berliner Führung wie Bedrohungen klangen.

Während die Bevölkerung hoffnungsvoll in den Osten blickte, reagierte das Politbüro mit nervöser Abwehr. Für Hager waren Reformen keine Chance, sondern Warnsignale. Er fürchtete, dass eine Öffnung die Grundfesten des sozialistischen Lagers erschüttern würde. Die Ironie der Geschichte: Die DDR, einst der Musterschüler Moskaus, igelte sich nun gegen ihr Vorbild ein. Man schuf eine eigene, starrere Interpretation des Sozialismus, um sich vor der „Ansteckung“ durch die Freiheit zu schützen.

Der Satz, der Mauern zementierte
Der Höhepunkt dieser Abkapselung ereignete sich in einem Interview mit dem westdeutschen Magazin Stern. Eigentlich sollte es um Kulturfragen gehen. Doch als Hager auf die Reformen in der Sowjetunion angesprochen wurde, antwortete er mit jener Arroganz, die später als Symbol einer geistigen Mauer in die Geschichte eingehen sollte:

„Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“

Die „Tapetenmetapher“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Im Westen wurde sie als definitive Absage an jede Reform verstanden. In den Parteikreisen der SED sorgte sie für ein stilles Aufatmen – endlich gab es eine Sprachregelung, eine Linie, an der man sich festhalten konnte. Doch für die Bevölkerung der DDR war der Satz verheerend. Er signalisierte: Egal, was in der Welt passiert, hier bleibt alles beim Alten. Die Hoffnung auf Wandel war offiziell für beendet erklärt.

Der Preis der Starheit
Hagers Triumph war ein Pyrrhussieg. Indem er ideologische Reinheit über wirtschaftliche Notwendigkeit stellte, nahm er dem System die Luft zum Atmen. Er lehnte Reformvorschläge ab, weil sie das Fundament angreifen könnten, und akzeptierte dafür den schleichenden ökonomischen Niedergang. Theaterstücke wurden entschärft, kritische Stimmen gedämpft, Probleme ignoriert.

Der Cheftheoretiker glaubte bis zuletzt, dass die wirtschaftlichen Engpässe nur temporär seien und durch noch mehr Disziplin überwunden werden könnten. Er irrte.

Als 1989 die Bürger auf die Straßen gingen und Transparenz forderten, stand Kurt Hager vor den Trümmern seines Lebenswerks. Er verstand die Welt nicht mehr. Für ihn waren die Proteste das Ergebnis äußerer Einflüsse und innerer Ungeduld, nicht die logische Konsequenz seiner Politik. Sein Abgang erfolgte still, fast geräuschlos.

Die historische Bilanz Kurt Hagers bleibt ambivalent, aber tragisch: Er war der Garant einer Stabilität, die am Ende zur Totenstarre führte. Die Tapeten blieben an der Wand – bis das ganze Haus einstürzte.