Es sind die Bilder, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben: Trabis auf dem Ku’damm, Sektkorken auf der Mauer, wildfremde Menschen in den Armen. Doch während im November 1989 auf den Straßen Geschichte geschrieben wurde, prallten hinter den Kulissen zwei Realitäten aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Eine Rekonstruktion eines Monats, in dem der Osten ums ökonomische Überleben kämpfte und der Westen zwischen Euphorie und Kalkül schwankte.
Wer heute auf den Herbst 1989 blickt, sieht oft nur das glückliche Ende. Doch blendet man den Freudentaumel aus, wird der Blick frei auf zwei deutsche Staaten, die im November 1989 zwar die gleiche Sprache sprachen, aber nach völlig unterschiedlichen Drehbüchern agierten. Hier die DDR, die nicht nur politisch, sondern vor allem finanziell am Abgrund stand. Dort die Bundesrepublik, die versuchte, das historische Momentum in geordnete Bahnen zu lenken – mal mit Tränen der Rührung, mal mit dem harten Rechenschieber.
Der Osten: Die Illusion der Stärke und der Bankrott der Realität
Noch im Oktober hatte Erich Honecker sein Land vollmundig zu den „zehn leistungsfähigsten Industrienationen der Welt“ gezählt. Im kalten Licht des Novembers entpuppte sich dies als eine der dreistesten Lebenslügen der SED-Diktatur. Hinter der Fassade klaffte ein Loch von 49 Milliarden Valutamark Auslandsschulden. Die DDR war faktisch pleite, und die nachfolgenden Regierungen unter Krenz und Modrow wirkten angesichts der Zahlen paralysiert.
Für die Bürger war der Staatsbankrott abstrakt, die Perspektivlosigkeit jedoch konkret. Was als Ruf nach Freiheit begann, wandelte sich in rasender Geschwindigkeit zu einem Ruf nach Wohlstand. Die Parole „Wir sind das Volk“ wich dem pragmatischen Ultimatum: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“
Es war eine Abstimmung mit den Füßen, die jede politische Planung überrollte. Allein im November kehrten 73.000 Menschen der DDR den Rücken – ein Aderlass an jungen, qualifizierten Arbeitskräften, der die Wirtschaft endgültig in die Knie zu zwingen drohte. Die Botschaft der Straße war unmissverständlich: Keine Experimente mehr, kein „Dritter Weg“ eines demokratischen Sozialismus. Die D-Mark wurde zum Symbol der Hoffnung, zur einzigen Währung, in der die Zukunft gehandelt wurde.
Der Westen: Zwischen Rührung, Mahnung und Bedingung
Während im Osten die Existenzangst regierte, bot der Deutsche Bundestag im Westen ein Bild der Zerrissenheit. Die Debatte nur eine Woche nach dem Mauerfall spiegelte das ganze Spektrum der westdeutschen Seele wider.
Auf der Regierungsbank saßen die Strategen. Für Kanzler Helmut Kohl und Finanzminister Theo Waigel war der Moment eine historische Chance – aber eine, die Bedingungen hatte. Ihre Rhetorik war von protestantischer Nüchternheit: „Hilfe zur Selbsthilfe“. Finanzspritzen ja, aber nur gegen fundamentale Reformen, freie Wahlen und die Einführung der Marktwirtschaft. Die Botschaft war klar: Wer zahlt, bestimmt die Musik.
Die Opposition hingegen kämpfte mit den Emotionen. Willy Brandt, der alte Mann der Ostpolitik, konnte seine Tränen kaum zurückhalten. Doch neben der Euphorie gab es in der SPD auch mahnende Stimmen wie die von Walter Momper, der vor westdeutscher Arroganz warnte. Die DDR-Bürger sollten nicht vereinnahmt werden, der Traum vom demokratischen Sozialismus sollte nicht unter den Rädern des Bonner Ordnungspolitik geraten.
Noch grundsätzlicher war die Kritik der Grünen: Sie stellten das nationale Konzept der Wiedervereinigung selbst in Frage, warnten vor neuem Nationalismus und forderten stattdessen radikale Abrüstung zugunsten ganz Osteuropas.
Der Zusammenprall: Politik schlägt Ökonomie
Am Ende diktierten nicht die Bedenkenträger das Tempo, sondern die Dynamik der Ereignisse. Um die Massenflucht zu stoppen und das Zeitfenster der Geschichte zu nutzen – Moskau war labil, die Gelegenheit günstig –, entschied sich die Bundesregierung für die Flucht nach vorn: die schnelle Währungsunion.
Es war eine Entscheidung wider die ökonomische Vernunft. Experten wie der Sachverständigenrat und die Bundesbank warnten eindringlich: Eine Währungsunion ohne vorherige Sanierung sei Selbstmord. Die Produktivität der Ost-Betriebe war für den Weltmarkt zu schwach, die Löhne im 1:1-Umtauschkurs zu hoch.
Doch Kohl entschied politisch. Die „Schocktherapie“ zum 1. Juli 1990 schuf unumkehrbare Fakten. Der Preis dafür war hoch: Nach einem kurzen Konsumrausch kollabierte die ostdeutsche Industrie, die Produktion brach um 50 Prozent ein, Millionen verloren ihre Jobs. Aus der Euphorie wurde im Osten schnell die „Grande Peur“, die Angst vor dem sozialen Absturz.
Der Blick auf beide Seiten zeigt: Die Einheit war ein politisches Meisterstück, erkauft mit einem ökonomischen Wagnis, dessen soziale Narben bis heute sichtbar sind.