In der Geschichte des DDR-Widerstands dominieren oft die lauten Töne: die offenen Konfrontationen, die Ausbürgerungen, die Proteste. Doch abseits des Lärms gab es eine andere Frequenz des Widerstands. Gerhard Schöne, der populärste Liedermacher des Ostens, perfektionierte die Kunst der subtilen Subversion. Ein Porträt über einen Mann, der Fahrradketten ölte, um das System zu befriedigen, und Kinderlieder sang, um Erwachsenen die Wahrheit zu sagen.
Von unserem Kulturkorrespondenten
Es ist der 4. November 1989. Auf dem Berliner Alexanderplatz drängen sich eine halbe Million Menschen. Es ist der Tag, an dem die Angst die Seiten wechselt. Auf der Ladefläche eines LKW steht ein Mann mit Schnurrbart und einer akustischen Gitarre. Er sieht nicht aus wie ein Revolutionär, eher wie der freundliche Nachbar, der einem Sonntags die Brötchen mitbringt. Doch als Gerhard Schöne anstimmt, wird es still. Er singt „Mit dem Gesicht zum Volke“, ein Lied, das die hohlen Phrasen der SED-Führung aufgreift und sie wie einen Bumerang zurückwirft. In diesem Moment wird der „leise Rebell“ zur Stimme einer friedlichen Revolution.
Doch der Weg auf diese Bühne war kein Zufall. Er war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Strategie – einer Gratwanderung zwischen Anpassung und Auflehnung, die Schöne wie kaum ein anderer beherrschte.
Die Bassow-Methode: Widerstand im Postamt
Um die Strategie Gerhard Schönes zu verstehen, muss man weit vor 1989 zurückblicken, in die grauen Amtsstuben der 1970er Jahre. Schöne hatte sich früh entschieden, nicht mit dem Strom zu schwimmen. Er verweigerte den Dienst an der Waffe und wurde Bausoldat. Die Quittung des Staates folgte prompt: Der ersehnte Studienplatz für Schauspiel blieb ihm verwehrt. Um nicht als „asozial“ kriminalisiert zu werden, musste er arbeiten. Er wurde Briefträger.
Schon hier zeigte sich jenes Muster, das später seine Kunst prägen sollte: formaler Gehorsam bei inhaltlicher Verweigerung. Schöne weigerte sich standhaft, die Uniform der Post zu tragen – ein Affront in einem durchmilitarisierten Staat. Seine Kolleginnen fürchteten um den Status ihres „sozialistischen Kollektivs“ und die damit verbundenen Prämien.
Schönes Lösung war so absurd wie genial: Er trat der Gewerkschaft bei und berief sich auf die sogenannte „Bassow-Methode“. Diese sowjetische Arbeitsnorm verlangte im Kern lediglich die pflegliche Behandlung der Arbeitsmittel. Schöne interpretierte dies auf seine Weise: Er ölte penibel und regelmäßig die Kette seines Dienstfahrrades. Das System war zufrieden – die Norm war erfüllt, das Kollektiv gerettet, und Schöne musste keine Uniform tragen. Das Fahrradöl wurde zum Symbol seines Überlebensprinzips: Gib dem System das Minimum an Form, um dir das Maximum an Inhalt zu bewahren.
Das Trojanische Pferd im Kinderzimmer
Diese Taktik verfeinerte er in seiner künstlerischen Laufbahn. Während andere Liedermacher ins offene Messer der Zensur liefen, wählte Schöne den Umweg über das Kinderzimmer. „Jule wäscht sich nie“ oder der „Popel“ wurden Hits in den Kindergärten der Republik. Doch für Schöne war das Genre des Kinderliedes kein Rückzug ins Idyll, sondern ein strategischer Schutzraum.
Die Logik war bestechend pragmatisch: Wer eine offizielle Schallplatte bei „Amiga“ vorweisen konnte, galt als unbedenklich. Für ängstliche Kulturhausleiter in der Provinz war die bloße Existenz einer solchen Platte die offizielle Legitimation. „Da hat er schon ’ne Platte gemacht, da passiert nichts Schlimmes“, war der Gedankengang, der Schöne Türen öffnete, die anderen verschlossen blieben.
Einmal auf der Bühne, nutzte er diesen Vertrauensvorschuss für das, was er seine Prise „Pfeffer und Salz“ nannte. Seine Kinderprogramme waren nie reine Unterhaltung. Sie waren Trojanische Pferde. Mit Liedern wie „Mein Papa tom Falschgeld den Keller“ (eine kindliche Verballhornung von „Mein Papa trägt Falschgeld in den Keller“) säte er Zweifel an der heilen Welt der Erwachsenen und der Unfehlbarkeit von Autoritäten. Er brachte Kindern – und ihren Eltern – bei, dass die Welt ambivalent ist. In einer Diktatur, die nur Schwarz und Weiß kannte, war das Zeigen von Grautönen ein revolutionärer Akt.
Das Schweigen des Privilegierten
Vielleicht die größte Ambivalenz in Schönes Biografie ist seine Reisefreiheit. Als einer der wenigen kritischen Geister gehörte er zum „Reisekader“. Der Staat brauchte Devisen und kulturelle Aushängeschilder, und so durfte der Mann, der im Osten subtil Kritik übte, regelmäßig in den Westen fahren.
Es ist ein Privileg, das andere korrumpiert hätte. Schöne jedoch reagierte mit einer instinktiven moralischen Integrität: Er schwieg. Bei seinen Konzerten in der DDR verlor er kein Wort über seine Erlebnisse jenseits der Mauer. Er wusste, dass jede Anekdote aus Paris oder Hamburg wie ein Schlag ins Gesicht für jene gewesen wäre, die in der DDR eingemauert waren.
Dieses Schweigen war kein Verschweigen, sondern ein Akt der Solidarität. Es verhinderte, dass sich eine Kluft zwischen ihm und seinem Publikum auftat. Er blieb „einer von uns“, obwohl er die Freiheit hatte, zu gehen. Dass er immer wieder zurückkam, verlieh seiner Kritik erst das wirkliche Gewicht.
Wenn man heute auf Gerhard Schönes Wirken zurückblickt, erscheint er als Meister des „Möglichen im Unmöglichen“. Er hat nicht die Mauer eingerissen, das haben andere getan. Aber er hat den Mörtel porös gemacht, Lied für Lied, Konzert für Konzert. Seine Geschichte lehrt uns, dass Widerstand nicht immer laut sein muss. Manchmal reicht es, eine Fahrradkette zu ölen, um die Maschinerie einer Diktatur für die eigenen Zwecke zu nutzen – und am Ende auf dem Alexanderplatz zu stehen und das richtige Lied zur richtigen Zeit zu singen.