Reformversuche im Umbruch: Wie die NVA 1989/90 um ihre Zukunft rang

Als im Herbst 1989 die politischen Fundamente der DDR ins Wanken gerieten, geriet auch eine ihrer stabilsten Institutionen in Bewegung: die Nationale Volksarmee. Über Jahrzehnte hinweg war sie eine geschlossene, klar hierarchisierte Struktur gewesen, fest verankert im Machtgefüge der SED. Nun musste sie sich einem historischen Moment stellen, der keine Blaupause kannte: dem Übergang von einem autoritär geführten Staat hin zu einem System, das erstmals demokratische Kontrolle, Transparenz und gesellschaftliche Mitsprache einforderte.

Admiral Theodor Hoffmann, seit Anfang November 1989 Verteidigungsminister, wurde zu einer der prägenden Figuren dieser Übergangsphase. Seine Auftritte vor Presse und Volkskammer glichen – zumindest in Ansätzen – einem Bruch mit bisherigen Gepflogenheiten. Statt abgeschirmter Militärpolitik sprach Hoffmann von „Rechenschaftspflicht“, von einer „Armee des ganzen Volkes“ und von der Notwendigkeit eines neuen Demokratieverständnisses innerhalb der Streitkräfte. Dass ein Verteidigungsminister öffentlich über Zivildienst, Transparenz und die Entflechtung von Partei und Armee sprach, war für die DDR bis dahin nahezu undenkbar.

Die Reformüberlegungen, die im Dezember 1989 vorgestellt werden sollten, zielten auf eine grundlegende Neuausrichtung. Sie reichten von der Einführung parlamentarischer Kontrolle bis hin zu neuen Mitspracherechten für Soldaten. Auch die Öffnung hin zu einem alternativen Wehrdienst war ein Zeichen der Zeit – ein Versuch, die Armee nicht nur formell, sondern auch im Selbstverständnis an die gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.

Doch die Reformpolitiker liefen gegen die Uhr. Der politische Wandel beschleunigte sich rasanter, als die NVA ihre neuen Strukturen entwickeln konnte. Während auf Kommandeurskonferenzen über Grundsatzfragen beraten wurde, veränderte sich die politische Landschaft nahezu täglich. Mit den ersten freien Wahlen im März 1990 verschob sich der Fokus endgültig: Nun ging es nicht mehr um eine reformierte NVA im Rahmen einer erneuerten DDR, sondern zunehmend um die Frage, welche Rolle diese Armee im Prozess der deutschen Einheit überhaupt noch spielen konnte.

Gleichzeitig blieb das Bündnissystem des Warschauer Paktes in Bewegung. Auch andere osteuropäische Staaten suchten nach neuen sicherheitspolitischen Leitlinien. Die DDR befand sich damit in einem doppelten Umbruch: innenpolitisch im Aufbruch zur Demokratie, außenpolitisch in einem bröckelnden militärischen Koordinatensystem. Die Reform überforderte nicht nur die Strukturen, sondern auch die Zeit.

Dennoch markiert diese kurze Periode von wenigen Monaten einen bemerkenswerten Einschnitt in der Militärgeschichte der DDR. Zum ersten Mal wurde öffentlich über Auftrag, Rolle und Legitimation der Streitkräfte diskutiert. Bürger konnten Fragen stellen, Soldaten sich äußern, Parlamentarier Kontrolle übernehmen. Der in Strausberg eingerichtete „Konsultationspunkt Militärreform“ zeigte symbolisch, dass sich eine vormals hermetisch abgeschlossene Institution zumindest ansatzweise öffnete.

Die Reformbemühungen blieben fragmentarisch und wurden vom Gang der Geschichte überholt. Doch sie dokumentieren eindrucksvoll die kurze Phase, in der die NVA versuchte, ihren Platz in einem Staat zu finden, der sich fast täglich neu erfand. Es war der letzte Versuch, aus einer Parteiarmee eine Armee eines demokratischen Gemeinwesens zu formen – bevor der Prozess der deutschen Einheit eine gänzlich andere Entwicklung einleitete.