Vom Politbüro zum Kohl-Team: Die zwei Welten der Krenz-Söhne

Was passiert, wenn der eigene Vater ein ganzes Land regiert – und dieses Land plötzlich verschwindet? Diese Frage wurde für die Söhne von Egon Krenz, dem letzten Staats- und Parteichef der DDR, zur schlagartigen Realität. Torsten und Carsten Krenz wuchsen privilegiert im Schatten der Macht auf, doch nach dem Fall der Berliner Mauer wurde ihr Leben auf den Kopf gestellt. Der Name, der ihnen einst Türen öffnete, wurde über Nacht zur Last. Gezwungen, sich in einem neuen, vereinten Deutschland zurechtzufinden, schlugen die Brüder völlig unerwartete Wege ein. Dieser Artikel enthüllt die überraschendsten Fakten über ihr Leben nach dem Ende der DDR.

Vom Bonzenkind zum Wahlkämpfer für Helmut Kohl
Der jüngere Sohn, Carsten Krenz, schlug nach dem Mauerfall eine erstaunliche Karriere ein. Während die Welt, in der er aufgewachsen war, zusammenbrach, orientierte er sich zielstrebig neu. Er studierte Jura, um die Regeln des neuen Systems zu lernen, besuchte eine Journalistenschule und schrieb als junger Reporter für westdeutsche Zeitschriften wie das moderne Magazin Tango. Der wohl kontraintuitivste Schritt seiner Laufbahn folgte jedoch im politischen Bereich: Carsten Krenz, der Sohn des letzten kommunistischen Führers der DDR, arbeitete in den 1990er Jahren im Wahlkampfteam von Bundeskanzler Helmut Kohl von der CDU – jenem Kanzler, der die deutsche Einheit vorangetrieben und das System seines Vaters beendet hatte.

Doch seine Neuerfindung war damit nicht abgeschlossen. Sein Weg führte ihn schließlich in die Schweiz, wo er sich in Zürich als erfolgreicher PR-Experte und Manager in der Unternehmenskommunikation etablierte. Diese beeindruckende Laufbahn zeugt von einem bemerkenswerten Pragmatismus und der Fähigkeit, sich in der neuen Realität des vereinten Deutschlands nicht nur anzupassen, sondern sich völlig neu zu erfinden.

Loyal bis zum Schluss: Der SED-Antrag nach dem Mauerfall
Trotz seiner erfolgreichen Integration in das westliche System zeigte Carsten eine unerschütterliche Loyalität zu seinem Vater. Es scheint, als fiele der Apfel nicht ganz weit vom Stamm. Als die DDR Ende 1989 bereits in Auflösung begriffen war, stellte der damals 18-jährige Carsten einen Aufnahmeantrag für die SED. In einer Zeit, in der Tausende die Partei verließen, entschied er sich bewusst dazu, seinem Vater, der an deren Spitze stand, den Rücken zu stärken.

Diese Loyalität setzte sich auch in den 1990er Jahren fort, als sein Vater Egon Krenz wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze vor Gericht stand. Carsten fungierte als juristischer Assistent im Verteidigungsteam und saß während des Prozesses an der Seite seines Vaters. Sein Blick auf die Verurteilung war von einer provokanten juristischen Logik geprägt. Sein gewagtes Argument fasste er sinngemäß so zusammen:
Rechtlich hätte man Egon eher wegen Landesverrat belangen können, schließlich hat er doch selbst die Grenze geöffnet.

Dieses Zitat verdeutlicht die zentrale Komplexität in Carstens Charakter: Er schaffte es, seine familiäre Treue mit den Werkzeugen des neuen Rechtssystems zu verbinden – eine Haltung, die seine unbedingte Solidarität mit dem Vater unterstreicht, während er gleichzeitig die Spielregeln der neuen Welt meisterhaft beherrschte.

Die Flucht in die Normalität: Ein Leben im Hintergrund
Der ältere Bruder, Torsten Krenz, wählte einen Weg, der im bewussten Gegensatz zu Carstens öffentlichem Leben stand. Anstatt die Öffentlichkeit zu suchen, schlug Torsten einen radikal anderen Weg ein: den in die Anonymität. Er mied das Rampenlicht konsequent. Entscheidend war dabei seine Haltung zum väterlichen Erbe: Weder distanzierte er sich öffentlich vom Vater, noch verteidigte er ihn lautstark in den Medien. Er wählte den Weg der stillen Neutralität.

Er schlug eine Laufbahn in der freien Wirtschaft ein und fand eine Anstellung in der Industrie, vermutlich im technischen Bereich. Entscheidend für ihn war, sich durch eigene Leistung zu beweisen und nicht vom Namen Krenz zu profitieren oder darunter zu leiden. Er gründete eine Familie, heiratete eine Lehrerin und bekam Kinder und später Enkelkinder. Auf diese Weise gab er seinem Vater, dem ehemaligen „Landesvater“ der DDR, die Möglichkeit, die Rolle eines echten Groß- und Urgroßvaters auszufüllen. Torstens Weg repräsentiert eine andere Form der Auseinandersetzung mit einem schwierigen Erbe: nicht durch Konfrontation oder öffentliche Anpassung, sondern durch das stille und beharrliche Schaffen einer neuen, rein privaten Identität.

Vom Kalten Krieg im Klassenzimmer zur Versöhnung
Eine bemerkenswerte Episode aus Carstens Jugend zeigt seinen Weg von der Verteidigung des Systems zur späteren Versöhnung. 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, kam es an seiner Oberschule zu einer Protestaktion. Mitschüler, darunter Philip Lengsfeld, kritisierten das DDR-Regime und wurden daraufhin von der Schule verwiesen. Für den jugendlichen Carsten war dies ein direkter Angriff auf die Welt seiner Familie. Später wurde sogar gemunkelt, Carsten selbst habe die Protestgruppe an höhere Stellen gemeldet – ein Vorwurf, den er bis heute entschieden zurückweist.

Dieser schwere Verdacht verleiht dem, was viele Jahre später geschah, noch mehr Gewicht. 2013 trafen sich Carsten Krenz und Philip Lengsfeld als erwachsene Männer zu einem Gespräch. Die Begegnung verlief versöhnlich und zeigte, wie weit Carsten gekommen war. Aus dem Teenager, der die Proteste als Angriff empfand, war ein offener, dialogbereiter Mann geworden, der in der Lage war, über den Schatten seiner eigenen, belasteten Vergangenheit zu springen. Dieses Treffen wurde zu einem eindrücklichen Symbol für persönliche Reifung und die Möglichkeit der Aussöhnung über die tiefen Gräben der deutschen Geschichte hinweg.

Der lange Schatten der Geschichte
Die Lebenswege der Krenz-Brüder könnten kaum unterschiedlicher sein. Während Carsten die Chancen der neuen Welt ergriff, sich öffentlich engagierte – sowohl für den Architekten der Einheit als auch für den gestürzten Vater – und dabei eine bemerkenswerte Loyalität bewahrte, fand Torsten seinen Frieden durch den vollständigen Rückzug ins Private. Ihre Geschichten zeigen eindrücklich die zwei divergenten Pfade, die man einschlagen kann, wenn die Fundamente der eigenen Herkunft zerbrechen. Es bleibt die nachdenkliche Frage: Welche Wahl trifft man, wenn die Welt der Eltern aufhört zu existieren und man gezwungen ist, die eigene Identität in den Trümmern der Geschichte neu zu definieren?