Joachim Gauck: Ein Präsident im Spannungsfeld von Verantwortung und Versöhnung

Fünf Jahre lang prägte Joachim Gauck das Amt des deutschen Bundespräsidenten und sah sich dabei oft im Zentrum leidenschaftlicher Debatten. Seine Präsidentschaft, die er im Juni 2016 nach nur einer Amtszeit beendete, war geprägt von dem Bestreben, Deutschland zu einer „erwachsenen Nation“ zu formen, die Verantwortung in der Welt übernimmt und gleichzeitig interne Gräben überwindet.

Ein „Lehrjahr in Demut“ und die Suche nach der Rolle Der Anfang von Gaucks Amtszeit im Schloss Bellevue war für den ehemaligen protestantischen Pfarrer alles andere als leicht. Er beschrieb seine erste Zeit als ein „Lehrjahr in Demut“, in dem er lernen musste, seine Rolle als Bundespräsident zu finden, ohne in Konkurrenz zu anderen Verfassungsorganen wie Parlament und Regierung zu treten. Mit der Zeit sei er jedoch im Amt angekommen, und das Amt sei zu ihm gekommen, was ihm ein wohleres Gefühl gab.

Verantwortung in der Welt: Zwischen Militäreinsätzen und Diplomatie Ein zentrales Thema seiner Präsidentschaft war die Forderung nach einer größeren Verantwortungsübernahme Deutschlands in der Welt. Bereits 2014 formulierte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Grundsatz, dass Deutschland mehr tun müsse, notfalls auch militärisch. Er betonte, dass es nicht darum gehe, „wieder Schlachtschiffe“ zu haben, sondern als „Ultima Ratio“ mit anderen zusammen und von der UNO mandatiert Menschen zu retten, wie etwa in Ruanda. Dieses „Schuldigwerden durch Zusehen“ sei politisches Versagen und moralische Schuld zugleich. Diese Haltung brachte ihm den Vorwurf ein, ein „Kriegsbefürworter“ zu sein und stieß auf Kritik von links, insbesondere angesichts der deutschen Geschichte und Erfahrungen mit Militäreinsätzen. Dennoch bereitete seine Rede den Boden für die Debatten über Deutschlands Rolle, die mit der Annexion der Krim durch Russland und dem Erstarken des IS im Irak an Bedeutung gewannen.

Ein weiteres wichtiges Anliegen war die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Westens angesichts der Bedrohung durch Russland, ein Thema, das ihn durch seine gesamte Amtszeit begleitete. Bei einer seiner letzten Reisen besuchte er das Multinationale Korps in Stettin, eine Führungsstelle für die verstärkte NATO-Präsenz in Osteuropa, um die Botschaft der gemeinsamen Verteidigung gegen Wladimir Putin zu unterstreichen.

Versöhnung und Anerkennung der Schuld Joachim Gauck spielte eine entscheidende Rolle bei der Aufarbeitung schwieriger Kapitel der deutschen Vergangenheit. Er war der erste Bundespräsident, der Oradour-sur-Glane in Frankreich besuchte, den Schauplatz eines deutschen Kriegsverbrechens, bei dem 1944 die Waffen-SS hunderte Frauen und Kinder ermordete. Sein Treffen mit einem Überlebenden, Robert Ebrard, und seine Dankbarkeit für den „Willen zur Versöhnung“ im Namen aller Deutschen waren eine bewegende Geste.

Ein prägender Moment war auch sein Eintreten in der Debatte um den Völkermord an den Armeniern. Während die Regierung zögerte, das Massaker als Völkermord zu bezeichnen, positionierte sich Gauck vor einer Bundestagsdebatte in einem Gottesdienst im Berliner Dom klar. Er sprach vom „Schicksal der Armenier“ als „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde“. Diese klare Haltung beeinflusste die Tagespolitik, da die Regierungsfraktionen und der Bundestagspräsident diese Passage daraufhin in ihren Antrag übernahmen, um eine Blamage abzuwenden und sich auf das Staatsoberhaupt berufen zu können.

Migration, Integration und das „neue deutsche Wir“ Im Inland musste Gauck, der aus Mecklenburg und der ehemaligen DDR stammt, sich an die Vielfalt einer Metropole und die Komplexität der Integrationsdebatte gewöhnen. Anfänglich zögerte er, den berühmten Satz seines Vorgängers Christian Wulff „Der Islam gehört zu Deutschland“ zu unterschreiben, und formulierte stattdessen, dass die Muslime zu Deutschland gehörten. Er gab zu, dass er sich an diese Erkenntnis gewöhnen und lernen musste. Später sprach er auf einer Einbürgerungsfeier ganz bewusst vom „neuen deutschen Wir“ und betonte, dass er persönlich diesen Lernprozess als Bereicherung erlebt habe.

In der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 zeigte Gauck eine nuancierte Position. Während er die freiwilligen Helfer lobte, die ein „helles Deutschland“ repräsentierten, benannte er auch die Probleme, den Notstand und die Überforderung der Behörden. Er machte deutlich, dass „unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich“. Diese Äußerung wurde in der Öffentlichkeit oft als Gegenposition zur optimistischen Aussage der Kanzlerin „Wir schaffen das“ interpretiert.

Gaucks Äußerungen führten zu Kritik, insbesondere aus dem Kreis der Pegida-Demonstranten, die ihn als „abgehobenen Mann der Elite“ und „Landesspalter“ empfanden. Er wiederum sah in dieser „Unzufriedenheit“ im Osten eine Gruppe der Bevölkerung, die die Möglichkeiten der offenen Gesellschaft „oftmals nicht kennt“ und nach der Wende nicht vollständig in der Demokratie angekommen sei. Er forderte die Bürger auf, sich einzumischen und zur Wahl zu gehen, auch wenn die „Nächstenliebe Grenzen“ habe.

Trost und deutliche Worte gegenüber Autokraten Gauck zeigte sich auch als Seelsorger, etwa nach dem Germanwings-Flugzeugabsturz in den französischen Alpen, bei dem viele Menschen ums Leben kamen. Er brach seine Südamerika-Reise ab, fand tröstende Worte für die Hinterbliebenen und nahm an einem Gedenkgottesdienst teil, wo er das Schluchzen der Trauernden hörte und mit ihnen trauerte. Seine Fähigkeit, „im Mittel dieser ganzen großen Aufgaben […] den einzelnen Menschen zu sehen und zu spüren, wie es ihm geht,“ wurde von Mitarbeitern besonders hervorgehoben.

Ebenso wichtig war sein Engagement für Freiheit und Menschenrechte. Bei einem Besuch in der Türkei 2014, einem Land, in dem die Freiheit zunehmend eingeschränkt wurde, lobte Gauck zwar Fortschritte, aber sparte nicht mit ungewohnt deutlicher Kritik am Führungsstil von Präsident Erdogan. Er sprach von „Enttäuschung“, „Verbitterung“ und „Empörung“ über einen Führungsstil, der als „Gefährdung der Demokratie“ erscheine. Erdogan warf ihm daraufhin Einmischung in innere Angelegenheiten vor. Gauck sah es als seine Pflicht, sich mit der Wirklichkeit und den Konflikten auseinanderzusetzen und die Stimmen der Unterdrückten zu vertreten. Später unterstützte er den ins Exil geflohenen türkischen Chefredakteur Can Dündar, der wegen kritischer Recherchen von Erdogan persönlich angezeigt worden war, mit einer Einladung ins Schloss Bellevue.

Daniela Schadt: Eine First Lady als wichtige Stütze An Gaucks Seite stand seine Lebensgefährtin Daniela Schadt, die als ehemalige leitende Redakteurin selbst eine politische Person war. Sie wurde zu einer aktiven und engagierten First Lady, die das Amt nicht nur protokollarisch ausfüllte. Während Gauck politische Termine wahrnahm, widmete sie sich in ihrem „Sonderprogramm“ sozialen Projekten, wie dem Besuch eines Kinderheims oder eines Hilfsprojekts für misshandelte Frauen in Indien. Ihr Engagement trug dazu bei, wichtige Anlaufstationen für unbegleitete Kinder in Indien zu erhalten. Gauck selbst bezeichnete sie als seine „wichtigste Beraterin“ und eine „starke Stütze“.

Abschied und Ungewisse Zukunft Im Juni 2016 gab Joachim Gauck bekannt, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten. Er begründete dies mit seinem Alter und der Erkenntnis, dass das Amt „wahnsinnig viel Energie“ erfordere. Er betonte, dass eine zweite Amtszeit in der deutschen Geschichte eher die Ausnahme gewesen sei. Später räumte er jedoch ein, dass er sich in einer Phase „innerer Unruhe“ im Land möglicherweise doch zu einer zweiten Amtszeit hätte bewegen lassen, um die Fragen „Wer sind wir, wer sind wir in Europa, wo gehen wir hin?“ zu begleiten. Dennoch blieb er bei seiner Entscheidung, das Amt in diesem Alter nicht fortzuführen.

Was er nach seiner Präsidentschaft tun werde, wusste er kurz vor seinem Abschied noch nicht genau, freute sich aber auf eine Phase der Erholung, in der er nicht „aufpassen muss, ob ich ein falsches Wort sage, falsch gucke“. Bei einem Besuch in der Berliner Bahnhofsmission, wo er Obdachlose traf, versprach er, als Pensionär ehrenamtlich an der Geschirrspülmaschine zu helfen – eine Geste, die seine bürgernahe Art auch am Ende seiner Amtszeit unterstrich.